Kurt Biedenkopf (1930-2021). Ein Nachruf
Der folgende Text entstand schon vor eineinhalb Wochen auf Bitten von ZeitOnline,
wurde dann aber dort doch nicht gebraucht.
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Kurt Biedenkopf war zweifellos der bedeutendste Politiker Sachsens nach der Wiedervereinigung. Er wurde zum Motor und Gesicht des sächsischen Wiederaufstiegs, zur parteiübergreifenden Identifikationsfigur der Sächsinnen und Sachsen, zur Ikone des neu aufblühenden sächsischen Stolzes. Nach einer langen politischen Laufbahn, die einst im Schatten Helmut Kohls ins Stocken geriet, konnte er in Sachsen zu „König Kurt“ werden. Dort nämlich wurde er getragen von tüchtigen Leuten, die er um sich zu sammeln verstand, und die ihn mehr als nur achteten, sondern vielfach aufrichtig bewunderten. Rasch wurde er zum Landesvater mit Können und Glanz, hochgeschätzt bis weit über sein Amtsende hinaus.
Bemessen am ethischen Gehalt und an der Bestandskraft seines Werks, war er sogar Sachsens bedeutendster Politiker der Nachkriegszeit. In beidem unterschied er sich nämlich von einem noch viel wirkungsmächtigeren Leipziger, der es einst zum Staatsratsvorsitzenden der DDR brachte. Doch mit der DDR hatte Biedenkopf nichts zu tun – und mit Sachsen und Sachsen-Anhalt zunächst nur, dass sein Vater aus Chemnitz stammte, 1938 technischer Direktor der Buna-Werke wurde und mit seiner Familie dann nach Merseburg zog. Dort ging dessen 1930 in Ludwigshafen geborener Sohn Kurt dann bis zur 1945 erfolgten Evakuierung der Familie nach dem Westen aufs Gymnasium. Ab 1949 studierte er Politikwissenschaft am Davidson College in den USA, Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre in Frankfurt. Als Jurist promoviert und mit beiden juristischen Staatsexamina versehen, ging er zu weiteren Studien- und Forschungsaufenthalten an US-amerikanische Universitäten, war Hochschulassistent, habilitierte sich 1963 und wurde 1964 Professor an der Ruhr-Universität Bochum. Deren Rektor war er dann von 1967 bis 1969. Mit dieser glänzenden Laufbahn machte er das persönlich Beste aus der Zeit des bundesdeutschen Aufbruchs von jenen materiellen und seelischen Ruinen, welche die nationalsozialistische Diktatur verursacht und hinterlassen hatte.
Es hielt Biedenkopf aber nicht in der – in mancher Hinsicht eben doch beschränkten – Welt der Universität. Was ihn umtrieb, war die Gestaltung der Praxis auf der Grundlage wissenschaftlichen Könnens. Schon während seiner Rektorzeit war er Vorsitzender eines Sachverständigengremiums, das die Möglichkeiten einer betrieblichen Mitbestimmung der Arbeitnehmerschaft erkunden sollte. Bezeichnenderweise wurde es als die „Biedenkopf-Kommission“ bekannt. Diese trug wirklich Wesentliches zum Betriebsverfassungsgesetz von 1972 und zum Mitbestimmungsgesetz von 1976 bei. Auch aufgrund dieser Tätigkeit öffnete sich Biedenkopf der Weg in die Wirtschaft, wo er 1971 bis 1973 in der Geschäftsführung des Henkel-Konzerns tätig war. Dem schlossen sich von 1973 bis 1977 Jahre als CDU-Generalsekretär an. In deren Lauf vertrocknete in vielschichtigen Wechselwirkungen das Vertrauen Biedenkopfs in die Führungsqualitäten seines bisherigen Förderers Helmut Kohl, und ebenso das Vertrauen Kohls in die Loyalität seines Generalsekretärs. Wo – sozusagen – der eine einen tüchtigen Sekretär wollte, wünschte sich der andere die Rolle des Generals. Das ging nicht gut und führte zu lebenslangen Verstimmungen zwischen beiden.
Biedenkopf wollte nun auch politisch auf eigener, nicht bloß verliehener Machtgrundlage handeln. Er wurde 1977 Vorsitzender des CDU-Bezirksverbands Westfalen-Lippe, 1987 CDU-Landesvorsitzender in Nordrhein-Westfalen. Zuvor war er 1980 als Spitzenkandidat gegen den SPD-Ministerpräsidenten Johannes Rau unterlegen. 1984 wurde er dann – wohl nicht ohne Zutun Helmut Kohls – eben doch nicht Präsident der Europäischen Kommission. 1987 gab er, da ohne Fortüne, den Landesvorsitz an Norbert Blüm ab, legte 1988 auch noch sein Landtagsmandat nieder und zog sich – gewiss in der Fremdwahrnehmung, vielleicht auch im Selbstbild – als trotz allen Könnens eben doch „politisch Unvollendeter“ aus der Tagespolitik zurück.
Dass da aber – aufgrund der Zeitumstände und einer ungünstigen persönlichen Konstellation – wirklich großes politisches Kapital brachlag, zeigte sich gleich nach der Friedlichen Revolution. Biedenkopf erkannte sowohl die Aufgaben, die sich nun stellten, als auch seine persönliche Chance, am erforderlichen Neuaufbau mitzuwirken. Noch vor der Wiedervereinigung übernahm er eine Professur für Volkswirtschaftslehre an der Universität Leipzig und war auf diese Weise in Sachsen präsent. Alsbald setzte der Reformflügel der sächsischen CDU seine Hoffnungen genau auf Kurt Biedenkopf. Vor allem der – vom Neuen Forum zur CDU gelangte – Arnold Vaatz sorgte dafür, dass nicht der CDU-Blockpolitiker Klaus Reichenbach, sondern der beschlagene Westpolitiker Biedenkopf als CDU-Spitzenkandidat für die weichenstellende Landtagswahl von 1991 aufgestellt wurde. Damit begann die zweite, die wirklich glanzvolle politische Laufbahn Kurt Biedenkopfs.
Die sächsische CDU errang 1990 die absolute Mehrheit der Stimmen und baute diese Mehrheit unter Biedenkopfs Führung bei den Landtagswahlen von 1994 und 1999 sogar weiter aus. Das ging Hand in Hand mit dem erfolgreichen Neuaufbau Sachsens. In den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisenjahren nach der Wiedervereinigung war es in Sachsen vor allem Kurt Biedenkopf, der mitsamt seinen tüchtigen Finanz-, Wirtschafts- und Wissenschaftsministern Zuversicht schuf und durch nachweislich erfolgreiche Politik solche Zuversicht auch rechtfertigte.
Unter derlei Glücksumständen wird es allerdings zur Zusatzaufgabe eines politischen Führers, weiterhin Kritiker um sich zu dulden und sie als Frühwarnsystem zu nutzen. Das liegt freilich nicht jedem, und so war auch mit Kurt Biedenkopf. Was auch immer sein ganz persönlicher Anteil daran war: Kritik an seinem Führungsstil und an seinem persönlichen Umfeld mehrte sich, und schrittweise entglitt ihm die einst ganz unbestrittene Führerschaft in der Sachsenunion. Biedenkopf hatte seine Partei – anders als der diesbezüglich besonders erfolgreiche Helmut Kohl – ohnehin nie als eine Art Familie empfunden. Für ihn war sie nur eine – hoffentlich weiterhin siegreiche – Truppe, die ihn als Feldherrn geholt hatte. Dieser Truppe hatte er zwar von 1991 bis 1995 – mangels einer integrationsfähigen Alternative – auch als Parteivorsitzender gedient. Doch er war froh, als er sie einem getreuen Gefolgsmann als gleichsam Generalstabschef übergeben konnte, der sich aller Detailarbeit in Partei und Fraktion annahm.
Das ging auch wirklich gut bis zum Abend der Landtagswahl von 1999. Sie brachte erneut ein triumphales CDU-Ergebnis, das klar Kurt Biedenkopf zuzuschreiben war. Anscheinend vom Augenblick überwältigt, sagte Biedenkopf damals in viele auf ihn gerichtete Fernsehkameras, nun beginne seine letzte Amtszeit. Damit war – aus Fahrlässigkeit – die Nachfolgefrage gestellt. Auf sie wollte der Ministerpräsident aber noch keine Antwort geben. Als „natürlicher“ Nachfolger galt vielen der erfolgreiche Finanzminister Georg Milbradt. Den hielt Biedenkopf allerdings auf Distanz. Über der Frage, ob – im inzwischen aufgekommenen Machtkampf – ein Unterstützer Milbradts oder ein Parteigänger Biedenkopfs CDU-Fraktionsvorsitzender werden solle, kam es dann zum Showdown: Biedenkopf entließ Milbradt als Minister; der machte sich – gegen Biedenkopfs Widerstand – daran, zum Landesvorsitzenden gewählt zu werden; und als es so gekommen war, erklärte Biedenkopf seinen Rücktritt als Ministerpräsident – beerbt von Georg Milbradt.
Das war ein unschönes Ende einer glanzvollen Regierungszeit. Dieses Ende spaltete auch die sächsische CDU und öffnete, wie im Rückblick klar zu sehen ist, den Weg zu ihrem schrittweisen, bis heute anhaltenden Machtverfall. Ohnehin kam keiner von Biedenkopfs Nachfolgern dem ersten Ministerpräsidenten zu bundesdeutschen Zeiten gleich an sich nicht in Einzelheiten verlierender Tatkraft, an rhetorischem Glanz und an einer Überzeugungskraft, die sich nicht der Ausstrahlung des Amtes, sondern solcher intellektueller Brillanz verdankte, die mit Charme verbunden ist. Freilich konnte Biedenkopf auch öffentlich vernehmbar kritisieren und damit das jeweils ebenfalls unschöne politische Ende aller seiner Nachfolger besiegeln. An seiner Popularität beim Sachsenvolk änderte das aber nichts.
Zu den nachwirkenden Fehlern von Biedenkopfs sächsischer Regierungszeit gehört, dass er Helmut Kohls Erfolgsgeheimnis nicht wahrhaben wollte und deshalb als Parteiführer seinen Nachfolgern kein gutes Vorbild abgab. Die Macht eines deutschen Regierungschefs kommt nämlich aus seiner Partei und aus dem Anteil der Wählerschaft, den diese Partei an sich zu binden vermag. Es reicht auf Dauer nicht, wenn die Bevölkerung nur dem von der Partei getragenen Regierungschef vertraut. Der ist nämlich irgendwann nicht mehr da, während die Partei sich weiterhin Wahlen stellen muss – und dabei, womöglich gar als personenbezogener Wahlverein inhaltlich entkernt, an Zuspruch verlieren mag, Konkurrenz erhält und sich in Koalitionen getrieben findet, die der Partei abträglich sind. Und zu Biedenkopfs nachwirkenden Fehlern gehört auch, dass er meinte, „seine Sachsen“ wären gegen rechtsradikale Ideen immun. Das führte zum Unterschätzen jenes rechten Systemprotests, der sich zuerst in den Wahlerfolgen der NPD und später im Aufstieg der AfD zur schärfsten Rivalin der CDU äußerte.
Beides verdunkelt Biedenkopfs bleibende Leistung: den Wiederaufbau eines selbstbewussten und stolzen sächsischen Freistaats. Es muss Biedenkopf geschmerzt haben, als Sachsen vor einigen Jahren in einflussreichen Medien voller Häme als „gescheiterter“ Staat dargestellt und „Sachsen-bashing“ zum Freizeitsport jener wurde, die moralisch und intellektuell besonders gut von sich selber denken. Biedenkopfs Werk wird aber nicht nur die selbstgemachten Fehler überdauern, sondern auch seine mutwillige Verunstaltung durch solchen Verbalvandalismus. Gewiss hat Biedenkopf auf seine Lebensleistung zufrieden zurückgeblickt. Doch auch jeder redliche politische Beobachter und so mancher einstige Gegner wird sich dem Urteil anschließen können: Kurt Biedenkopf hat sich um Sachsen verdient gemacht.