Machiavellis „Discorsi“
In der Ausgabe 2/2021 von „Tichys Einblick“ erschien auf S. 74f leicht redigiert ein von mir verfasster Beitrag über die 1531 veröffentlichten „Discorsi“ von Niccolò Machiavelli. Weil mir scheint, dass Machiavellis Gedanken bis heute höchst wertvoll sind, mache ich diesen Text auch hier zugänglich.
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I.
Niccolò Machiavelli (1469-1527) schrieb die „Abhandlungen über die ersten zehn Bücher des Titus Livius“ als seit 1512 gestürzter und verbannter Florentiner Staatssekretär in den Jahren bis 1519. Veröffentlicht wurden sie erst 1531. Kurz die „Discorsi“ genannt, stand dieses Buch stets im Schatten des nur ein Viertel so langem, im gleichen Jahr publizierten „Il Principe“. Machiavelli hatte ihn gleich 1513 als erstes Teilstück seiner Arbeit dem neuen, inoffiziellen Herrscher von Florenz gewidmet. Offensichtlich ging es ihm um Rehabilitation und Protektion durch diesen Potentaten aus der Familie der Medici, wofür er sich als abgeklärter Fachmann des politischen Gewerbes in Szene setzte.
Eigentlich „Über die Fürstentümer“ heißend, geht es in dieser Schrift um das Regieren in neu erworbenen, erst einmal zu stabilisierenden Herrschaften, also um erfolgsorientiertes politisches Handeln in Lagen, wo Recht und Ordnung noch nicht gesichert sind. Deshalb ist viel von jenen – oft brutalen – Grundmethoden des Herrschens die Rede, die selbst dann noch wirksam sind, wenn man sich auf keine sittlichen Sicherungen mehr verlassen kann. Das machte dieses Buch zum Gegenstand von teils analytischem Voyeurismus, teils moralischer Herablassung.
Zwar prägte der „Principe“ Machiavellis Bild, nicht das Gesamtwerk der „Discorsi“. Doch beide entstammen dem gleichen Arbeitszusammenhang. Den beschrieb Machiavelli in einem Brief so: Sich nach seiner politischen Kaltstellung völlig nutzlos fühlend, kleide er sich abends in seine Staatsgewänder, versenke sich die Schriften antiker Autoren, führe deren politische Analysen mit den eigenen Erfahrungen zusammen und bringe die Ergebnisse zu Papier. So entstanden, fand sich das Gesamtwerk in drei ungleich lange „Bücher“ ohne je merkliches Eigenprofil gegliedert. Einen Eindruck vom Inhalt geben Kapitelüberschriften wie „Die Auseinandersetzungen zwischen Volk und Senat der Römer brachten der Republik Freiheit und Macht“ oder „So lobenswert die Gründer eines Freistaats sind, so schimpflich sind die Begründer einer Gewaltherrschaft“. Im „Principe“ findet man hingegen Überschriften wie „Vom Erwerb einer Herrschaft durch Verbrechen“ oder „Ob es besser ist, geliebt oder gefürchtet zu werden“.
Da zeigen sich allerdings nicht zwei „unterschiedliche Gesichter“ Machiavellis. Kenntlich wird vielmehr die bahnbrechende Eigenart seiner Politikanalyse. Die scherte sich nie darum, ob es um Gutes oder Böses ging, sondern wollte einfach ausfindig machen, wie Politik erfolgsorientiert betrieben werden kann. So begründete er die heutige empirische Politikwissenschaft.
II.
Dabei war er weder Wissenschaftler noch Philosoph, sondern ein politischer Praktiker von durchschnittlicher Bildung. Als hoher Beamter verfasste er analytische Gebrauchstexte; später betrieb er die – auch belletristische – Schriftstellerei als ein ernstgemeintes „diletto“. Typisch für seine Denkarbeit ist ein Dreischritt: Auf Fallbeispiele – der römischen Geschichte oder der eigenen Zeit entnommen – folgt eine Verallgemeinerung, und die wird in eine Handlungsmaxime umgesetzt. Doch nirgendwo bemüht sich Machiavelli um eine Systematisierung seiner Begriffe und Aussagen. Deshalb besitzen sie kaum Widerstandskraft gegen willkürgeleitetes Lesen und Missverstehen. Denn zwar sind seine Sätze allesamt klar. Doch er war kein sich präzis ausdrückender Wissenschaftler. Vielmehr ist seine Sprache vor allem klangvoll, anschaulich, geprägt von Lust auf Kontraste. Außerdem ist der Weg von einer gelungenen Formulierung zur den Gedanken überholenden Formel oft nicht weit. Und mitunter sucht Machiavellis Ausdrucksweise nicht nur nach Pointen, sondern dient geradewegs der Provokation. Dann merkt man, dass der Verfasser absichtlich gegen – auch moralische – Erwartungshorizonte anschreibt.
III.
Dabei finden sich grundlegende Annahmen, die immer wieder als tragendes Gerüst von Verallgemeinerungen und Ratschlägen dienen. Das beginnt mit dem Menschenbild. Nur auf den ersten Blick wirkt es einfach: Der Mensch ist schlecht. Begierden und Leidenschaften treiben uns an. Also führt unsere Natur durchaus nicht hin auf ein stabiles, gar gutes Gesellschaftsgefüge. Gleichwohl müssen wir zusammenleben. Wir schaffen das am besten durch Errichtung solcher Ordnungsformen, die ein schrankenloses Ausleben jener Leidenschaften verhindern und alle Möglichkeiten einer solchen Erziehung nutzen, die uns aus freien Stücken auf sozialunverträgliches Handeln verzichten lässt. Gelingt das, so wird unsere „erste Natur“ zu unserer „zweiten Natur“ veredelt. Somit sind wir eher gut oder eher schlecht je nach dem uns prägenden sozialen und politischen Milieu. „Gute Menschen in einer guten politischen Ordnung“: Das ist der anzustrebende Ausnahmefall. „Schlechte Menschen in einer schlechten politischen Ordnung“: Das ist hingegen der – immer wieder zu überwindende – Regelfall. Also darf Politik Gutes nicht einfach voraussetzen, sondern muss es immer erst schaffen. Und deshalb ist es sicherer, eher mit dem Misslingen dieser Leistung zu rechnen – und deshalb mit der Schlechtigkeit von Menschen.
Wichtig ist auch Machiavellis Geschichtsbild. Erstens gilt ihm die belebte wie unbelebte Natur als zu allen Zeiten und Orten gleich. In der Abfolge der Generationen ist jedenfalls nichts grundsätzlich Neues zu erwarten; des Menschen „erste Natur“ ändert sich einfach nicht. Gleiches gilt somit auch für die Möglichkeiten, eine gute Ordnung aufzurichten oder zu erhalten. Also lässt sich aus der Geschichte lernen. Zweitens kommt es immer wieder zu solchen guten Ordnungsformen, in denen Menschen gemäß ihrer „zweiten Natur“ zu leben vermögen. Dies sind die großen Zeiten der Völker. Legen deren politische Führer große Tüchtigkeit an den Tag und haben sie viel Glück, so dauern diese Epochen lange; andernfalls enden sie schnell. Vom Verfall ist jedenfalls auch eine gute politische Ordnung immer bedroht. Eine solche, die – wie Roms Republik – nicht nur gut, sondern auch lange Zeit bestandsfähig war, sollte man sich deshalb zum Vorbild nehmen.
Außerdem stellt Machiavelli mit vier – allerdings nicht systematisch ausgearbeiteten – Begriffen ein sehr erhellendes Diagnoseinstrument bereit. Virtù ist eine Eigenschaft, die Menschen in unterschiedlichem Ausmaß haben können. Sie ist Willensenergie und Tatkraft, Sachverstand und Klugheit, Führungsqualität und Charisma. Vor allem der Unterschied an virtù unterscheidet Menschen. Zwar ist des Menschen Maß an virtù wohl naturgegeben; doch gute Erziehung und das Leben in einer guten politischen Ordnung fördern die virtù.
Necessità meint einesteils Zwangslagen, die Menschen dazu anhalten, über ihre Normalität hinauszuwachsen und ihr Potential an virtù auszuschöpfen. Andernteils meint necessità die Tatsache, dass die Beschaffenheit unserer – auch sozialen – Umwelt nicht nach Lust und Laune zu verändern ist. Vielmehr setzt die uns umgebende Welt jedem menschlichem Einwirken ihre eigene Natur und Funktionslogik entgegen. Nur im Einklang mit der necessità lässt sich deshalb etwas erreichen, denn an ihr zerbricht sogar jede virtù. Eine gute politische Ordnung lässt sich deshalb beschreiben als „necessità ordinata dalle leggi“, als gesetzlich geordnete Funktionslogik.
Occasione ist jene Gelegenheit zum Gestaltungshandeln, die der – entlang der necessità voranschreitende – Gang der Dinge uns immer wieder bietet. Ohne occasione kann sich virtù nicht entfalten; und occasione nicht zu nutzen, ist Zeichen mangelnder virtù. Obendrein ist fortuna jenes Glück, das die occasione mit der virtù zusammenkommen und die eigene Persönlichkeit zur necessità passen lässt. Gemeint ist also jenes an sich unwahrscheinliche, doch mitunter auch erzwingbare Zusammentreffen solcher Umstände, die auf einmal Außergewöhnliches möglich machen und Riskantes gelingen lassen. Ferner gibt es die „qualità dei tempi“: Erfolgreich handelt nur, wer sich den konkreten Umständen der eigenen Zeit anpasst und nicht darauf beharrt, früher oder andernorts erprobte Methoden müssten auch jetzt und hier nützlich sein. Es ist jedenfalls Zeichen von virtù, die „qualità dei tempi“ richtig einzuschätzen.
IV.
Vor allem die Lehre vom klugen politischen Handeln machte Machiavelli berühmt und führte zu heftigen Debatten um seine Gesinnung. Der „Principe“ galt als „mit dem Finger des Teufels geschrieben“, und „Old Nick“ wurde bei Shakespeare zur Bezeichnung des Leibhaftigen. Doch dieselben Ratschläge finden sich auch in Machiavellis anderen Schriften. Um sie im Gesamtzusammenhang von Machiavellis Aussagen zu begreifen, sind drei Gesichtspunkte hilfreich.
Erstens handelt der „Principe“ von Fürstentümern, nicht von Republiken. Die letzteren bevorzugte Machiavelli als der herbeizuführenden „zweiten Natur“ besonders förderlich. Was aber in Diktaturen politisch klug sein kann, muss sich durchaus nicht ebenso in freiheitlichen Republiken auswirken. Zweitens geht es Machiavelli stets um „technisch richtiges“, mit größtmöglicher Wahrscheinlichkeit zum Erfolg führendes Handeln. Seine Handlungsanweisungen sind deshalb „hypothetische Imperative“ und stehen auf derselben Stufe wie jene taktischen Regeln, die einem beim Schach sagen, wie man im Endspiel – je nach der Lage auf dem Brett – ein Matt herbeiführt oder verhindert. Sie sind also ganz unabhängig davon richtig oder falsch, ob man für Schwarz oder Weiß die Daumen drückt. Drittens leugnet Machiavelli den unmoralischen Charakter vieler Ratschläge gar nicht. Er hebt ihn sogar hervor. In der Regel fügt er dann hinzu, dass es beim politischen Handeln nur drei Möglichkeiten gibt. Entweder handelt man technisch richtig, d.h. erfolgsorientiert, und tut das unabhängig von der moralischen Akzeptabilität angewandter Mittel. Oder man benutzt – aus Torheit oder wider besseres Wissen – unzulängliche Methoden und bringt sich so um die Chance, seinen Zielen oder Pflichten gerecht zu werden. Oder man verzichtet eben darauf, überhaupt eine politische Rolle zu spielen, weil man nicht – so eine viel spätere Formulierung – durch Befolgung von Gesinnungsethik verantwortungsethisch schuldig werden will. Bis heute revoltiert gegen diese Politikbetrachtung jedes politische Denken, das sich an den griechischen Gründern der politischen Philosophie oder am Christentum orientiert.
Doch vor allem handelt Machiavelli in den „Discorsi“ sehr viele politikwissenschaftliche Sachgebiete ab. Man findet dort eine Theorie vom Ursprung und Zweck von Staaten, von der Entwicklung politischer Ordnungsformen, von den Bedingungen politischer Stabilität, von den Ursachen einer Revolution. Es gibt eine Theorie politischer Kultur und ihrer Pflege. Entfaltet werden Spezialtheorien republikanischer und monarchischer Regierungspraxis, desgleichen eine Konflikttheorie, eine Entscheidungstheorie und eine Theorie politischer Führung. Wir finden auch Theorien politischer Bildung und politischer Religion. Es gibt dort ebenfalls eine komplexe Theorie der Außenpolitik, die ausführlich die Verbindungen zwischen der inneren und der äußeren Politik erörtert. Und es fehlt auch nicht eine sorgfältige ausgearbeitete Theorie der politischen Funktionen militärischer Macht. Aus jeder vom ihnen können wir heute noch viel lernen. Es ist die große Tragik der Machiavelli-Rezeption, dass die Obsession mit dem „Principe“ samt Unverständnis für Machiavellis empirisch-schachspielerischen Zugriff auf Politik diese großen Leistungen des Florentiners um die ihnen gebührende Aufmerksamkeit gebracht hat.
V.
Machiavellis Methodenlehre ist einfach. Sie besagt: Wer wissen will, wie Politik tatsächlich vonstatten geht, darf nicht auf nur eingebildete Staaten blicken und oder hoffen, tragfähige Einsichten aus selbstgesetzten Prinzipien oder Normen ableiten zu können. Vielmehr muss er auf die Wirklichkeit sehen und diese gerade so zur Kenntnis nehmen, wie sie eben ist. Und wo findet man sie, die „wirkliche Politik“? Als gestürzter Politiker fand er sie zunächst in seinen eigenen Erfahrungen, sodann in der Kunde vom zeitgenössischen Geschehen, schließlich im Schrifttum über vergangene Wirklichkeit, vor allem im Geschichtswerk des Titus Livius. Tatsächlich sei vor allem aus der Geschichte zu lernen, weil doch die Gegenwart immer nur ein kleiner Ausschnitt des grundsätzlich Möglichen wäre. Aufs beste mache also die Geschichte jene politischen Erfahrungen verfügbar, die beim Handeln in der jeweiligen Gegenwart nützlich sein könnten.
Dabei gründete Machiavelli seine Verallgemeinerungen nicht auf – anfangs des 16. Jahrhunderts noch gar nicht verfügbare – statistische Argumente, sondern auf seine forschungsleitende Theorie einer doppelten Konstanz: der menschlichen Natur sowie geschichtlicher Ereignismuster. Dann freilich ließ sich eine Art Experimentallogik anwenden: Eine an einem Fall aus der alten Geschichte gewonnene Einsicht wird an einem Fall aus der Zeitgeschichte repliziert; und dann werde man schon darauf zählen dürfen, dass gleiches Verhalten – ceteris paribus – auch in der Zukunft die gleiche Wirkung erzielen werde.
VII.
So vorgehend, wollte Machiavelli sein wichtigstes Ziel erreichen: Politik für Verständige so zu beschreiben, wie sie tatsächlich vonstatten geht und erfolgreich betrieben werden kann. Diese Ernte seiner Arbeit fahren wir dann ein, wenn wir seine Schriften nicht um seinetwillen lesen, sondern um unseretwillen. Wenn wir also die noch ungeborgenen Schätze seiner politischen Einzeltheorien heben. Wenn wir die von ihm als zielführend erkannten politischen Spielzüge samt den Randbedingungen ihres möglichen Erfolgs sorgfältig herausarbeiten. Wenn wir dies alles anhand des uns jetzt verfügbaren historischen und zeitgenössischen Datenmaterials auf seinen empirischen Wahrheitsgehalt prüfen. Und wenn wir, je nach dem Befund, einzelne Aussagen beibehalten, verändern oder zurückweisen, die anderen aber ausdrücklich in den Fundus unseres politischen Denkens und unserer Regierungskunst aufnehmen. Unsere Politik würde dann weniger ideologisch, unsere Gestaltungsversuche wären erfolgreicher. Und das wirkte zum Besten von uns allen.