Wie mit Russland umgehen?
Heftige Kritik hat Sachsens Ministerpräsident auf sich gezogen mit seinem Verlangen, die gegen Russland wegen der Annexion der Krim und der Expansion in die Ost-Ukraine verhängten Sanktionen auslaufen zu lassen. Lob erhielt Michael Kretschmer vor allem von Linkspartei und AfD, was nur sehr oberflächliche Betrachter politischer Kräfte wundern kann. Schon bei den Dresdner PEGIDA-Demonstranten war nämlich klar erkennbar, dass „Rechtssein“ und „linke Positionen“ vielfach – und gerade auch bei der „Russophilie“ – zusammenhingen (siehe Werner J. Patzelt / Joachim Klose: PEGIDA. Warnsignale aus Dresden, Dresden 2016, S. 226-235); und bei der AfD, sozusagen „PEGIDA als Partei“, verhält sich das nicht anders.
Abseits aller Parteipolitik scheint mir im Übrigen genau Folgendes der Fall zu sein:
- Wirtschaftssanktionen werden – nicht erst seit Napoleons „Kontinentalsperre“ gegen England – verwendet, um einem außenpolitischen Gegner zuzusetzen, gegen den man militärisch vorgehen nicht will oder nicht kann. Nicht anders verhält es sich im Fall von Krim und Ostukraine: Russland verletzte Völkerrecht – doch kein Staat wollte als jene „internationale Polizei“ auftreten, die den aktuellen Regelverletzer bestraft und künftige Regelverletzer abschreckt. Also hofft man auf die Wirkung von Wirtschaftssanktionen. Doch nicht einmal Napoleon zwang damit England nieder.
- Durchaus können Wirtschaftssanktionen Widerstand brechen – doch aller Erfahrung nur den Widerstand eines klar Unterlegenen. Auf diese Weise presste neulich der US-Präsident seinem Nachbarland Mexiko schärferes Vorgehen gegen Migranten ab. Gegen Gleichstarke führen Wirtschaftssanktionen in einen Handels- und Wirtschaftskrieg, wie wir ihn derzeit zwischen den USA und China aufziehen sehen. Doch gegen Staaten, die zum Einsatz starker, durchsetzungsfähiger Militärkräfte bereit sind, bewirken Wirtschaftssanktionen bestenfalls eine Verstetigung des Konflikts, den man durch Wirtschaftssanktionen für sich selbst zu entscheiden hofft.
- Russland ist nachweislich zum Einsatz starker, durchsetzungsfähiger Militärkräfte bereit. Dagegen aber wappnet man sich am besten mit glaubwürdigen Gegendrohungen. Genau deshalb wünschten sich Polen und die baltischen Staaten – wie einst Westdeutschland an der Grenze zum Warschauer Pakt – die gemischte Präsenz verbündeter Truppen; und eben in Erfüllung dieses Wunsches unterhält auch Deutschland dort Truppenteile, die schlimmstenfalls die Bundeswehr in Kampfhandlungen mit russischen Truppen verwickeln könnten. Tatsächlich vollzieht sich im Baltikum derzeit klassische Abschreckungspolitik. Sie verfährt nach dem jahrzehntelang in Europa friedenssichernden Wahlspruch der NATO: „Si vis pacem, para bellum“, zu Deutsch: „Wenn du Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor“.
- An der früheren sowie an der derzeitigen russisch-ukrainischen Grenze ist die NATO durchaus nicht zu Drohungen mit militärischer (Gegen-) Gewalt bereit. Eben deshalb hat sie Russlands Expansion dort nur das Russland gewiss nicht bezwingende Mittel von Wirtschaftssanktionen entgegenzusetzen. Das führt zu einem höchst unplausiblen außenpolitischen Verhalten: Mittel, die wirken könnten, will man nicht einsetzen; die Mittel, welche man einsetzen will, wirken nicht; und statt sich aus dieser unplausiblen Verhaltensweise zu befreien, setzt man derlei Verhalten fort – meist obendrein mit der in Deutschland inzwischen zum Dogma gewordenen Denkfigur, dergleichen wäre „alternativlos“.
- Mit vernünftigen Gründen lässt sich nicht bestreiten, dass Russland mit seiner Krim- und Ukrainepolitik das Völkerrecht gebrochen hat. Doch ebenso wenig lässt sich mit vernünftigen Gründen bestreiten, dass Russland eine militärische Großmacht ist, gegen die einen Krieg zu wagen millionenfach mehr Schaden als Nutzen stiftet. Entweder muss man also dafür sorgen, dass Russland – wie gegenüber Polen und im Baltikum – selbst im Fall eigenen Expansionswillens das Kriegsrisiko zu groß wäre, als dass Russland um der (Rück-) Gewinnung von Staatsgebiet willen das Völkerrecht brechen würde. Oder man muss, was aus guten Gründen immer schon schwerfiel, eben hinnehmen, dass militärische Großmächte in einer anderen macht- und geopolitischen Liga spielen als militärische Kleinstaaten – und wären sie auch Wirtschaftsriesen wie Deutschland oder gar die EU. Es lässt sich nämlich Wirtschaftsmacht dann nicht mehr in Militärmacht umrechnen, sobald es auf die nachhaltige Fähigkeit zur Führung eines Krieges ankommt. Eine solche Fähigkeit aber haben Europas NATO-Staaten nicht mehr, und sie werden sie wohl auch nie wieder erlangen – was man als „strukturelle Nicht-Angriffsfähigkeit“ durchaus für gut, da friedenssichernd, finden kann.
- Den Versuch, russisches außenpolitisches Verhalten durch Wirtschaftssanktionen zu beeinflussen, muss man also mit dem Denkwerkzeug großmachtpolitischer Analyse einschätzen. Dann aber zeigt sich rasch: Geopolitische Konzepte wie „Einflusssphären“ und „Pufferstaaten“ haben aus der Warte von Großmächten ihre handlungsleitende Rolle keineswegs eingebüßt. Vielmehr handelt Russland weiterhin entlang von ihnen. Aus russischer Warte war bereits der Beitritt früherer Warschauer-Pakt-Staaten (und gar erst: sowjetischer Republiken wie der heutigen baltischen Staaten) eine vom Westen ermunterte Übergriffigkeit in die eigene geopolitische Einflusssphäre; und das Maß des russischerseits Hinnehmbaren war voll mit den Versuchen, zunächst Georgien und dann die Ukraine vom Status von „Pufferstaaten“ in die Rolle von NATO-Verbündeten oder von mit der EU assoziierten Staaten zu erheben. Es brauchte nicht viel Scharfsinn für den Schluss, dass Russland bei erster sich bietender Gelegenheit dieser „westlichen Expansion“ einen Riegel vorschieben würde – und sei es um den Preis einer Spaltung der Ukraine.
- Dieses Großmachtkalkül vor Augen, lässt sich leicht erkennen, wie völlig vergeblich der Versuch ist, ein solches Kalkül durch Wirtschaftssanktionen um seine Rationalitätsgrundlagen zu bringen. Gewiss kann man Wirtschaftssanktionen, sofern sie einem selbst nicht schaden, aufrechterhalten zum Zweck „symbolischer Politik“ und eigener Gewissensberuhigung („Irgendetwas müssen wir doch tun!“). Deshalb tun sich global die USA und innerdeutsch viele Politiker in Westdeutschland sehr leicht mit der Forderung, die Wirtschaftssanktionen gegen Russland müssten „um jeden Preis“ aufrechterhalten werden. Wer freilich diesen Preis selbst bezahlen muss, wie etwa Sachsens Wirtschaft, hält eine Politik für wenig sinnvoll, die nur schmerzt, aber nichts nutzen wird.
- Natürlich schmerzt es ebenso, wenn das Völkerrecht gebrochen oder ein Staatsvolk fremdbestimmt wird. Beides verhält sich durchaus so im Fall von Krim und Ukraine. Doch es schmerzte auch viele im Kalten Krieg die Unterdrückung ost-, mittelost- und südosteuropäischer Völker durch den Sowjetkommunismus. Die westlichen Staaten nahmen das alles nicht nur hin, sondern versuchten sich sogar in Entspannungspolitik. Das war auch gut so, denn im Grunde führte genau dieser „sanfte Weg“ des schrittweisen Wegfalls von Außenstabilisierung zum Zerfall des Sowjetreichs und seiner Parteidiktaturen. Eben dieser Politikansatz dürfte auch gegenüber dem sich aus seiner postsowjetischen Demütigung erhebenden Russland ratsam sein. So wie 1975 die Schlussakte von Helsinki, Höhepunkt der damaligen Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, nur auf dem Papier die sowjetischen Eroberungen nach dem Zweiten Weltkrieg „festschrieb“, in Wirklichkeit aber – dank der Inhalte des damals so genannten „Korbs 3“ – die kulturellen und gesellschaftlichen Widerstandskräfte innerhalb der sowjetischen Diktaturen stärkte, dürfte eine Anerkennung der russischen Eroberungen auf der Krim und in der Ostukraine nicht das Ende, sondern der Anfang einer binnen weniger Jahrzehnte durchaus fruchtbaren Entwicklung im EU/Russland-Verhältnis sein.
- Großmachtpolitik hinzunehmen, heißt aber keineswegs, sie gutzuheißen. Schon gar nicht meint ein Plädoyer für das Ende unwirksamer, selbstschädigender Wirtschaftssanktionen eine Aufgabe eigener Interessen. Nur muss man ihnen auf die richtige Weise nachgehen. Wirtschaftsinteressen verfolgt man am besten auf dem Weg der Kooperation. Doch begrenzte Handelskonflikte muss man entlang diesem Weg gewiss immer wieder in Kauf nehmen, ja sogar suchen, falls der Kooperationspartner sich unfair verhält. Der Westen lernt diese Lektion derzeit im Verhältnis zu China. Sicherheitspolitische Interessen hingegen verfolgt man am besten durch den Aufbau und die Bereithaltung einer verlässlichen, durchsetzungsstarken und nachhaltig handlungsfähigen Militärmacht. Diese muss nicht strategisch angriffsfähig sein, sehr wohl aber fähig sein zur Verteidigung und zur Gegenoffensive. Diese Einsicht in die interessen- und friedenssichernde Notwendigkeit einsetzbarer Militärmacht scheint derzeit allerdings in keinem Land weniger verbreitet zu sein als in Deutschland. Man kann die Gründe dafür – zwei verlorene Weltkriege, davon der zweite zweifellos ein verbrecherischer Angriffskrieg des Deutschen Reiches – gut nachvollziehen. Nur hat sich die Logik von Machtpolitik durch die in Katastrophen führende außen- und sicherheitspolitische Unfähigkeit von Spitzenpolitikern des Deutschen Reiches ja nicht verändert. Zwar versuchen gerade Deutsche heute gutwillig, eine bessere Außenpolitik durch den Einsatz von Wirtschaftsmacht anstelle von Militärmacht zu gestalten. Das aber schützt weder vor der Einfahrt in eine Sackgasse (wie gegenüber Russland) noch jene, die von einer Fortsetzung ergebnisloser Politik abraten, vor heftiger Kritik Andersdenkender (wie sie gerade dem sächsischen Ministerpräsidenten widerfuhr).
- Sehr wohl ist es richtig, dass Russland einen Teil Europas darstellt. Das gilt natürlich nicht nur „bis zum Ural“, weil Russland – als fortbestehende Kolonialmacht ohne „überseeische“ Gebiete – mit seiner Kultur doch ganz offensichtlich über Nowosibirsk bis nach Wladiwostok reicht, ja auch im „europäischen“ Teil eine Stadt wie Archangelsk einschließt, wo es sich dort sehr anders lebt als in Málaga. Doch es wäre naiv, bei aller gemeinsamer Familienähnlichkeit die unterschiedlichen, bis heute folgenreichen (hier aber nicht näher abzuhandelnden) Prägungen von Russland und jener Teile Europas zu übersehen, die etwa zur EU gehören. Vor allem spielt Russland in einer anderen machtstrategischen und geopolitischen Liga als der Rest Europas. Also gilt es, auf persönlicher Ebene freundschaftliche Beziehungen zu unterhalten; auf wirtschaftlicher Ebene Kooperation zum wechselseitigen Nutzen zu pflegen; sicherheitspolitisch – anders als es der Ukraine möglich ist – uns unerpressbar zu machen; und ansonsten politische Interessengegensätze mit Russland teils auszuhalten, teils über „Pufferstaaten“ auszubalancieren. Dass man nach einer politischen Zusammenarbeit dort strebt, wo es gemeinsame Interessen gibt, versteht sich von selbst.
Man erkennt: Sachsens Ministerpräsident hat in ein Wespennest geopolitischer Überlegungen gestochen. So zu tun, als gäbe es dieses Wespennest nicht, hilft freilich auch nicht viel – und nutzt schon gar nicht Sachsens Wirtschaft, für welche der hiesige Ministerpräsident viel mehr als jeder westdeutsche Landespolitiker zuständig ist.