Betrachtungen zu einem Hochrisikoexperiment
Im November 2015, auf dem Höhepunkt des Zuwanderungsgeschehens nach Deutschland, bat mich eine norddeutsche Zeitung um eine Einschätzung der Lage (abgedruckt als „Guter Wille reicht nicht. Die Träumereien der Politik untergraben das Vertrauen in den Staat“, in: Böhme-Zeitung. Soltauer Nachrichten – Niedersächsisches Tageblatt, Nr. 272 v. 21. 11. 2015, S. 8). Gut zweieinhalb Jahre später bat die gleiche Zeitung mich um eine Bilanz des inzwischen Geschehenen (abgedruckt als „Das bringt Gift in unsere multikulturelle Gesellschaft“, in: Böhme-Zeitung, 153. Jg., Nr 60 v. 11. März 2017, S. 9). Es mag aufschlussreich sein, beide Texte miteinander sowie mit jenem Wandel zu vergleichen, den Deutschlands öffentliche Meinung – nicht aber ich – zwischen den beiden Artikeln vollzogen hat.
I. Meine Lagebeurteilung im November 2015
Es ist gut, dass unser Land weltoffen sein will, Schutzsuchende aufnimmt und vielen das Angebot macht, Teil unserer Gesellschaft zu werden. Das kann auch uns selbst nutzen: Bürgersinn wächst in praktizierter Willkommenskultur; Einwanderer schließen Lücken in den Reihen von Auszubildenden, Facharbeitern, Ingenieuren, Pflegern und Ärzte, die wir durch allzu häufigen Verzicht auf Kinder entstehen ließen; neue Mitbürger brechen verkrustete Strukturen auf und öffnen neue Entwicklungspfade. Doch es reicht nicht, sich Chancen nur auszumalen. Man muss sie auch praktisch entstehen lassen und dann nutzen. Beides stellt vor Herausforderungen, die sich mit gutem Willen allein nicht bestehen lassen.
Erstens dürfen wir den Fortbestand unserer Willkommenskultur nicht gefährden. Doch dazu wird es kommen, wenn sich die Zahl der aufzunehmenden und zu beherbergenden Schutzsuchenden nicht verringert, aller gute Willen also absehbar nicht ausreicht, unseren eigenen Maßstäben beim Umgang mit Geflüchteten gerecht zu werden. Dazu wird es auch kommen, wenn Lasten und Nutzen der Zuwanderung sich unfair verteilen. Solche Ungerechtigkeit aber entsteht, wenn private Sicherheitsunternehmen, Caterer, Bauunternehmer, Vermieter und auf Flüchtlingsrecht spezialisierte Anwälte schöne Profite machen, Steuermehreinnahmen aber – vielleicht mehr noch als den Geflüchteten – vor allem ihnen zugutekommen und außerdem in absehbarer Zeit die Steuern und Sozialabgaben erhöht werden müssen, um die Folgekosten für in unseren Arbeitsmarkt nicht integrierbare Flüchtlinge zu tragen.
Zweitens dürfen wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land nicht gefährden. Dazu aber wird es kommen, wenn zu viele Einwanderer in zu kurzer Zeit in Gegenden gebracht werden, wo es an für menschenwürdig erachteten Wohnungen, an Arbeitsplätzen und Leuten fehlt, die beim Sichbeheimaten helfen. Dazu wird es auch kommen, wenn Zuwanderer anfangen, gegen ihre ganz unerwartet schlechten Lebensumstände in Deutschland zu protestieren, und wenn sie – wie durchaus zu erwarten ist – damit beginnen, aus den Herkunftsländern mitgebrachte Konflikte hier auszutragen. Und dazu wird es kommen, wenn sich die deutsche Gesellschaft über den Schwierigkeiten ihres Wandels in zu einem Einwanderungsland zutiefst zwischen „Guten“ und „Bösen“, zwischen „Anständigen“ und „Rassisten“ zerstreitet – statt einen wechselseitig respektvollen, ergebnisoffenen und pragmatisch gesinnten Diskurs zu führen.
Drittens dürfen wir den Glauben an die Wirksamkeit unserer Demokratie ebenso wenig gefährden wie deren Stabilität. Dazu aber wird es kommen, wenn die politisch-mediale Klasse weiterhin solche Bürger wie üble Charaktere oder Dummköpfe behandelt, die sich ob eines ungedrosselten Einwanderungsgeschehens Sorgen machen und darüber empören, dass ausgerechnet unser auf sein Verwaltenkönnen so stolzer Staat sich jetzt nicht mehr in der Lage sieht, die Anzahl, Aufenthaltsorte und beruflichen Qualifikationen der seit dem letzten Herbst so unglaublich vielen Zugewanderten ausfindig zu machen. Erst recht untergräbt das Vertrauen in unseren Staat und fördert das Aufkommen wenig staatstragender Parteien, wenn dessen Politiker dennoch nicht müde werden zu behaupten, Gefahren für die innere Sicherheit gingen ausgerechnet von jener Einwanderung nach Deutschland nicht aus, die zu drosseln sie sich gleichzeitig für außer Stand erklären.
Stellen wir uns diesen Herausforderungen – auch wenn sie uns aus manchen Träumen wecken!
II. Meine Lagebeurteilung im März 2017
Wer nicht hören will, wird fühlen. Diese Erfahrung machen wir nun bei der Migrationspolitik.
Deutschland zeigt, wie’s geht – jedenfalls bei der moralisch gebotenen, deshalb bedingungslosen Aufnahme von Migranten; also werden sich andere Länder unserem Beispiel anschließen müssen! In Wirklichkeit haben sich die nordischen Staaten abgeschottet; erklärt sich Frankreich wegen schon gescheiterter Integration für aufnahmeunfähig; verlässt das Vereinigte Königreich auch wegen der Migrationspolitik die EU; denkt man in Mittelosteuropa durchaus nicht daran, uns zu folgen. Insgesamt hat Deutschland, selbstgerecht als moralische Großmacht aufgetreten, seinen Kredit als vernünftiges Führungsland der EU verspielt.
Nur die Schwächsten der Schwachen flüchten; also sind Migranten allesamt willkommen! Doch es sind vor allem junge Männer, die wir auf den Schlauchbooten sehen. Sie müssen vorab Tausende Euro bezahlen, damit Schleuser sie nach Europa bringen. Geht es da vor allem um politische Verfolgung – oder eher um selbstermächtigte Einwanderung? Und gibt es nicht gute Gründe dafür, dass wir inzwischen unsere Sicherheitsbehörden bedrängen, unter jüngst oder lange schon Zugewanderten „Gefährder“ zu erkennen, zu überwachen, abzuschieben? War da kein Lehrgeld zu bezahlen?
Die Einwanderung macht unser Land reicher! In Wirklichkeit kamen wenige Ärzte und Ingenieure, doch viele Analphabeten oder Leute mit wenig Schulbildung. Von diesen besucht ein großer Teil die ihnen gebotenen Deutschkurse nicht so regelmäßig, dass bald ein für unseren Arbeitsmarkt passabler Ausbildungsstand erreicht wäre. Die meiste Einwanderung, samt Familiennachzug, geht in die Sozialsysteme. Wie lange werden Solidaritätsappelle da noch fruchten, also vom massenhaften Wählen rechtspopulistischer Parteien abhalten?
Die Zuwanderer lösen ein Wirtschaftswunder aus! Zwar wurde viel Geld in den Wirtschaftskreislauf gepumpt – für Bauunternehmen, Sicherheitsdienste, Catering, Sozialarbeiter, Rechtsanwälte. Das waren meist konsumtive Ausgaben, keine rentablen Investitionen. Zwar taten jene gut 20 Milliarden Euro nicht fühlbar weh, die im letzten Haushaltsjahr für die Migrationspolitik ausgegeben wurden. Doch der Motor unserer jetzt gut laufenden Wirtschaft sind Güterexporte, nicht die Ausgaben für Migranten. Bei der nächsten Wirtschaftskrise wird es deshalb zu sozialen Verteilungskonflikten kommen, wohl auch zu deren Verbindung mit soziokulturellen Konflikten. Das aber bringt Gift in unsere multikulturelle Gesellschaft.
Wir wachsen aber doch zu einer postnationalen Bevölkerung zusammen! Dass gerade Zuwanderer die Kosten für Hartz IV oder die Rentenansprüche der bald überalterten (bio-) deutschen Bevölkerung bezahlen wollen, setzt durchaus voraus, dass sie zum Teil einer gerne zusammenhaltenden Gesellschaft dieses Landes geworden sind. Wird das aber so kommen, wenn weniger das Zusammengehören unseres Staatsvolks betont wird – und viel mehr der Wert kultureller Differenz?
Ein Hochrisikoexperiment geht also weiter.
PS: Ziemlich genau zwischen beiden Zeitungsartikeln gab ich zum gleichen Thema u.a. das hier verlinkte, ausführliche Interview mit einem kleinen sächsischen Fernsehsender: https://www.youtube.com/watch?v=AZhFwL0qwZA
Bildquelle: https://www.google.de/search?q=einwanderungspolitik&rlz=1C1NIKB_deDE570DE570&source=lnms&tbm=isch&sa=X&ved=0ahUKEwj6tLzdisfUAhXELVAKHX_xBz4Q_AUIDCgD&biw=1536&bih=760#q=einwanderungspolitik&tbm=isch&tbs=isz:l&imgrc=7ypYb8Zfxfq14M: