Mittelstandspolitik und ihr praktischer Stellenwert

Mittelstandspolitik und ihr praktischer Stellenwert

Am 2. November 2016 hielt ich beim Wirtschaftsrat der CDU, Sachsen, einen Vortrag mit dem Thema „Was ist los in Deutschland? Warum findet Wirtschaftspolitik für den Mittelstand nicht mehr statt?“ Weil mir Interesse an diesem Text signalisiert wurde, dokumentiere ich ihn nachstehend:

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Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Ich weiß zwar viel darüber zu sagen, was in Deutschland los ist – doch eben nur auf meinen wissenschaftlichen Arbeitsgebieten: Parlamente, Regierungen, Parteien, Verbände, politische Kultur.

Die Mittelstandspolitik aber gehört nicht zu meinen Spezialgebieten. Also muss ich um Nachsicht bitten, falls ich nun langweilen oder Erwartungen enttäuschen sollte. Doch ich werde mir Mühe gehen, in einer weitgespannten Skizze zu beschreiben, „was in Deutschland los ist“ – und weshalb der Mittelstand nicht so im Zentrum politischer Aufmerksamkeit steht, wie das wohl wünschenswert wäre.

 

I. Mittelstand – vernachlässigt, da im Einzelnen nicht systemrelevant

Vermutlich liegt eine zutreffende Erklärung für eine gewisse politische Vernachlässigung des Mittelstands durch die Politik bereits in der folgenden, höchst praktischen Definition eines mittelständischen Unternehmens. Ein mittelständisches Unternehmen ist nämlich eines, das Konkurs machen kann – also nicht zwingend gerettet werden muss.

Das besagt nichts anderes, als dass ein mittelständisches Unternehmen schlicht zu klein ist, um systemrelevant zu sein. Genau deshalb aber bietet es auch keinen Anreiz für Politik und Politiker, sich bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten als Retter in Szene zu setzen – als Retter der Arbeitnehmer, ja als Retter überhaupt der Bürgerschaft vor den Risiken und Nebenwirkungen des Kapitalismus.

Mittelständische Unternehmen jedenfalls blühen eher still und sterben eher unbemerkt. Und wenn das eine oder andere vor sich hinkümmert, ja zugrunde geht, wird das einfach als Normalfall marktwirtschaftlichen Firmenlebens angesehen. Joseph Schumpeter nannte derlei eine „kreative Zerstörung“ – und hatte gar nicht unrecht damit.

Obwohl an der eben umrissenen Sichtweise vieles Richtige ist, legt sie dennoch einen Fehlschluss nahe. Nämlich den, dass mittelständische Unternehmen nicht so wichtig wären, als dass sich die Politik wirklich um sie kümmern müsste.

 

II. Mittelstand – insgesamt systemrelevant!

Vielmehr ist das Gegenteil der Fall. In Deutschland gehören die allermeisten Unternehmen zum Mittelstand, einschließlich von kleinen Familienunternehmen. Mittelständische Unternehmen stellen weit über die Hälfte aller Arbeitsplätze zur Verfügung und erwirtschaften knapp 40 Prozent des Gesamtumsatzes am deutschen Markt.

Noch wichtiger ist der Mittelstand in einem neuen Bundesland wie Sachsen, wo ja – aus Gründen der neueren Zeitgeschichte – Sitze von Großunternehmen fehlen, Wirtschaftspolitik also ganz wesentlich Mittelstandspolitik sein muss. In Sachsen können etwa nicht weniger 99 Prozent aller Unternehmen dem Mittelstand zugerechnet werden, sind knapp drei Viertel sowohl der Arbeitnehmer als auch der Auszubildenden in mittelständischen Unternehmen beschäftigt – und werden von diesen gut zwei Drittel des Umsatzes in unserem Bundesland erwirtschaftet.

Im Übrigen sollte man über Wirtschaftspolitik nachzudenken wie über das Aufstellen einer richtigen „Sieblinie“ für die Produktion von Sänden. Sand erhält nämlich nur dann die für den jeweiligen Verwendungszweck richtige Zusammensetzung seiner Körnung, wenn bei der Herstellung mehrere Siebe in wohlüberlegter Reihenfolge hintereinander gestellt werden. Im Bereich der Wirtschaft heißt das: Der Staat sollte Rahmenbedingen dafür schaffen, dass sich in einem Land das richtige Mischungsverhältnis unterschiedlicher Unternehmensgrößen einstellt. Gelingt dass, so wirken Großunternehmen wohlgeordnet mit unterschiedlich großen mittelständischen Unternehmen bis hin zum kleinen Familienbetrieb zusammen. Dabei sind gerade die mittelständischen Unternehmen wichtig als Scharnier und Schnittstelle zwischen Groß- und Kleinunternehmen. Einesteils sind sie nämlich noch flexibel genug auf ihrem Spezialisierungsgebiet, also nachhaltig leistungsfähig dank unternehmerischer Beweglichkeit; und andernteils sind sie groß genug für weiterbringende Investitionen und für das Überwinden von Durststrecken.

Nachhaltig stabile Mischungsverhältnisse von Unternehmensgrößen aber entstehen nicht mittels staatlicher Planung, sondern allein durch eine stetige Entwicklung im Zeitverlauf. Die aber muss durch geeignete Rahmenbedingungen erst einmal ermöglicht werden – und solche zu schaffen, ist die unverzichtbare Aufgabe von Politik. Wenn die aber gerade als Wirtschaftspolitik für den Mittelstand so wichtig ist: Warum kommt dem Mittelstand dann in der Politik nicht ebenso viel Aufmerksamkeit zu wie jahrelang dem Bau einer Dresdner Elbbrücke, oder wie seit zwei Jahren den wöchentlichen Veranstaltungen Dresdner Demonstranten?

 

III. Zehn Ursachen für die Vernachlässigung von Mittelstandspolitik

Im Folgenden sollen zehn Ursachen für die Vernachlässigung einer systematischen Mittelstandspolitik umrissen werden. Sie markieren ihrerseits Aufgabenfelder für eine aktivere Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit mittelständischer Verbände.

Erstens ist da die scheinbare Selbstverständlichkeit der Leistungen mittelständischer Unternehmen. Deren Funktionieren wird allzu oft wie eine Naturgegebenheit behandelt, immer wieder und ganz verlässlich erbracht aus der am Eigennutz orientierten Motivation mittelständischer Unternehmer. Im Grunde wird mit mittelständischen Unternehmen also umgegangen wie bis in die 1970er Jahre hinein mit der Umwelt: Es gibt sie einfach – und besondere Fürsorge oder absichernde Politik braucht es gar nicht.

Zweitens wurde in den neuen Bundesländern – und zumal in Sachsen – nach der Wiedervereinigung großes Vertrauen in eine Art „Leuchtturmstrategie“ gesetzt. Innovative, kapital- und investitionskräftige Großunternehmen sollten als Ecksteine einer blühenden Wirtschaft neu angesiedelt werden, damit um sie herum mittelständische Unternehmen als Partner sowie als Zulieferer oder Dienstleister florieren könnten. Auf diese Weise entstünden Spillover-Effekte wie von selbst, wenn man nur die – letztlich knappen – staatlichen Fördergelder auf die zu schaffenden Leuchttürme bündele. Im Übrigen hat so eine „Leuchtturmstrategie“ für Politiker den Vorteil, dass sie sich mit Großprojekten profilieren können – und nicht hinabsteigen müssen in die Tiefebene der vielen schwer handhabbaren Nöte ganz konkreter praktischer Problemlagen von überaus unterschiedlichen mittelständischen Unternehmen.

Denn – drittens – steckt bei Mittelstandspolitik der Teufel schon sehr im Detail, und zwar gleich in sehr vielen und höchst verschiedenen Details. Das wird recht klar, wenn man eine typische Aufzählung der Aufgabenfelder von Mittelstandspolitik durchgeht, wie sie etwa die Bundeszentrale für politische Bildung in einer ihrer Schriften bringt:

  • Abbau von Bürokratie, z.B. durch Beseitigung von besonders Kleinbetriebe belastenden Berichts- und Statistikpflichten.
  • Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für kleinere und mittlere Unternehmen, etwa durch verbesserte steuerliche Absetzbarkeit von handwerklichen und haushaltsnahen Dienstleistungen oder durch eine Reform der Erbschaftsteuer für einen leichteren Betriebsübergang.
  • Verbesserung der Hilfen für Existenzgründer, z.B. durch Beschleunigung der Eintragungen in das Handelsregister oder durch die Reform des GmbH-Gesetzes zur leichteren Gründung einer GmbH.
  • Verbesserung der Innovationsfähigkeit mittelständischer Betriebe, z.B. durch mehr finanzielle Mittel für mittelstandsorientierte Technologieförderung.
  • Modernisierung der beruflichen Bildung und Sicherung des Nachwuchses an Fachkräften, etwa durch Modernisierung und Anpassung von Ausbildungsordnungen sowie durch eine verbesserte Verzahnung von Aus- und Weiterbildung.
  • Verbesserung der Finanzierungssituation des Mittelstands, z.B. aus ERP-Mitteln oder aus Mitteln der KfW Bankengruppe.
  • Bereitstellung von Wagniskapital für Innovationen, etwa mittels Entwicklung eines Netzwerks für Eigenkapitalinvestitionen in junge Technologieunternehmen.
  • Bessere Unterstützung der mittelständischen Wirtschaft auf Auslandsmärkten, z.B. durch Übernahme von Exportkreditgarantien und Investitionsgarantien.

Zweifellos ist das alles wichtig. Doch keine dieser Maßnahme bringt allein schon den Mittelstand voran. Vielmehr muss immer wieder aufs Neue an sehr vielen unterschiedlichen Stellschrauben gedreht werden. Die Betätigung von keiner einzigen Stellschraube ist aber an sich schon spektakulär. Wer immer aus der Politik die eine oder andere Maßnahme voranbringt, erzielt also keine unmittelbare mediale Rendite – und hat von solchen Anstrengungen nichts für sein persönliches politisches Vorankommen. Eine gesamtstaatliche und darin auch handfest politische Rendite entsteht nämlich nur mittelfristig – und womöglich erst dann, wenn die frühere Opposition regiert und fortan selbst den Profit einer ehedem guten Mittelstandspolitik einstreicht. Solche Zusammenhänge aber wirken nicht gerade als unwiderstehlicher Anreiz energischen Politikerengagements auf dem Feld der Mittelstandspolitik.

Viertens haben mittelständische Unternehmen, anders als bekannte Großunternehmen, für die Medien nur selten Berichtswert. Sie erhalten deshalb kaum einmal über bloße Medienpräsenz einen Hebel zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung sowie jener Politik in einer Demokratie, die nun einmal auf Verankerung in der öffentlichen Meinung angewiesen ist. Solcher Berichtswert wächst mittelständischen Unternehmen im Guten allenfalls bei Betriebseröffnungen oder der Inbetriebnahme von Neubauten zu – und im Schlechten bei wirtschaftliche Schwierigkeiten, beim Verlust von Arbeitsplätzen oder im Fall eines Konkurses. Selbst dann aber erreichen solche Themen meist nur die regionale Öffentlichkeit, aus welcher nun freilich nicht viel politischer Handlungsdruck auf die Landes- oder gar Bundesebene erwachsen kann. Und obwohl man um alle diese Themen herum im Prinzip systematisch Wichtiges über die guten Folgen gelingender Mittelstandspolitik und die unguten Folgen fehlerhafter Mittelstandspolitik vermitteln könnte, ist die Nutzung solcher Möglichkeiten dann eher unwahrscheinlich, wenn die berichtenden Journalisten keine sonderlichen wirtschaftswissenschaftlichen Kenntnisse haben. Gerade so aber verhält es sich aufgrund der typischen Rekrutierungswege in den Journalismus hinein – und vor allem auch wegen der mangelnden Spezialisierungsmöglichkeiten zumal der Journalisten von regionalen Medien.

Fünftens wird eine Medienberichterstattung, welche Mittelstandsprobleme eingängig kommunizierte, dadurch erschwert, dass es der Mittelstandspolitik an einer „großen Erzählung“ fehlt, um die herum sich Interesse am Thema und Mobilisierung politischer Aktivität erzeugen ließe. Bei der Flüchtlingspolitik – beispielsweise – gibt es sehr wohl eine solche packende und mobilisierende „große Erzählung“. Sie handelt vom Leid, das die Geflüchteten aus ihren Ländern treibt, von den moralischen Pflichten der bessergestellten Länder sowie vom menschlich beeindruckenden Vorbild derer, die Willkommenskultur praktizieren. Doch um die so wichtigen Einzelaufgaben von Mittelstandspolitik herum lässt sich schwerlich das zusammenhaltende Band einer ähnlich beeindruckenden „großen Erzählung“ legen. Wie sollte das auch gelingen, wenn es um sperrige und nicht innerlich verbundene Themen wie Arbeitsschutz und EU-Dokumentationspflichten, Steuerrecht oder EU-Fördermaßnahmen geht. Für das alles interessiert sich ein breiteres Publikum deshalb auch gar nicht.

Wo aber in Wirtschaftsfragen gleichwohl eine „große Erzählung“ möglich wird, dort handelt sie üblicherweise vom Reichwerden der Unternehmer dadurch, dass sie andere für sich arbeiten lassen und mit allen möglichen Kunstgriffen ausnutzen. Eine solche „große Erzählung“ hat aber keinerlei positiven Mobilisierungseffekt, sondern rät eher dazu, überhaupt – und als Politiker erst recht – zu solchen Leuten auf Abstand zu gehen.

Wenig hilft es dann, dass auch Unternehmer eine Minderheit im Lande sind. Zwar ist es ein lobenswerter Reflex deutscher Journalisten, auf legitime Interessen von Minderheiten aufmerksam zu machen. Doch Unternehmer scheinen das nicht nötig zu haben: Sie wirken nicht wie eine schwache Minderheit – und schon gar nicht wie eine, deren Interessen auch noch durch Politik gesichert werden müssten. Das unterscheidet sie von Minderheiten im Bereich sexueller, kultureller oder ethnischer Vielfalt.

Sechstens wird die mediale Hintanstellung von Themen mit Bedeutung für mittelständische Unternehmen auch nicht dadurch konterkariert, dass besonders viele Angehörige der politischen Klasse – also derer, die hauptberuflich von der Politik leben – von sich aus für Wirtschafts- und Mittelstandspolitik Sensibilität oder Interesse hätten. Tatsächlich sind Deutschlands Politiker großenteils nicht sonderlich wirtschaftsnah. Zu ihren Bildungshintergründen gehören oft die Rechtswissenschaft, die Gesellschaftswissenschaften ohne Wirtschaftswissenschaft, oder jene Fächer, die man für den Lehrerberuf studiert. Also muss man sich nicht wundern, wenn Deutschlands Parteipolitiker und Parlamentarier kein intuitives Grundverständnis für Wirtschaftsthemen haben, und Mittelstandspolitik allenfalls als Pflicht, kaum einmal als professionelle Kür betreiben.

Siebtens haben Mittelstand und mittelstandsfreundliche Wirtschaftspolitik auch in den Parteien keine von deren programmatischen Selbstverständlichkeiten abgesicherte Heimat mehr. Das gilt insbesondere seit dem Absinken der FDP aufs politische Existenzminimum und darunter. Die war nämliche jahrzehntelang die klassische Mittelstandspartei, geprägt vom gesellschaftlichen Leitbild des Liberalismus, und überzeugte Vertreterin eines positiven Unternehmerbildes. Jetzt aber, nach ihrem Verschwinden aus dem Bundestag, merkt man an allen Ecken und Enden ihr Fehlen.

Die Union hatte zwar neben ihren – vom „hohen C“ motivierten Herz-Jesu-Sozialisten – auch immer einen zeitweise sogar recht einflussreichen Wirtschaftsflügel. Doch im Zug ihrer „Sozialdemokratisierung“ ist zumal die CDU nicht länger mutig genug, sich auch – freilich nicht ausschließlich – als Pro-Wirtschafts-Partei zu positionieren. Sie scheint eher für alle praktischen Zwecke zu verdrängen, dass jegliche nachhaltige Sozialstaatlichkeit ganz vom Fortbestehen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit abhängt – und hierbei eben gerade von der Leistungskraft mittelständischer Unternehmen. Deutlich merkt man der Union an, dass ihr die FDP als koalierendes Korrektiv abhandengekommen ist.

Der inzwischen für die CDU beim Regieren meist unverzichtbarer sozialdemokratischer Partner hat hingegen seit je ein gebrochenes Verhältnis zu wirtschaftsfreundlicher Politik. Pragmatisch – auch unter dem Einfluss realitätsnaher Gewerkschafter – tut man zwar oft das wirtschaftlich Richtige, doch dann meist mit schlechtem Gewissen. Davon zeugen zumal die Rolle der Agenda 2010 – ihrerseits eine staatspolitische Groß- und Wohltat – im Selbstverständnis der SPD und die Hemmung des derzeitigen SPD-Wirtschaftsministers, in Kabinett und Öffentlichkeit als oberster Sachwalter der deutschen Wirtschaft zu agieren. Die Linke wiederum, ihrerseits noch stark in der Tradition staatswirtschaftlichen Denkens, steht großen wirtschaftsunfreundlichen Teilen der SPD durchaus näher als deren Koalitionswunschpartner, nämlich die Grünen.

Zu deren Feindbild gehören zwar Großunternehmen, vor allem solche der Energiewirtschaft in der grünen Tradition einer Anti-Kernenergie-Partei, solche der Rüstungswirtschaft in der Tradition einer pazifistischen Partei, und solche der chemischen Industrie, da diese oft grünen Umweltvorstellungen nicht entsprechen. Mit mittelständischen Unternehmen können sich die Grünen hingegen durchaus anfreunden, zumal wenn diese auf Ökologie spezialisiert sind – vom ökologischen Landbau bis hin zur ökologischen Energiegewinnung. Nur ist die Bandbreite des deutschen Mittelstands eine viel breitere.

Und am anderen Ende des politischen Spektrums die AfD? Die nennt in ihrem Programm zwar den Mittelstand das „Herz unserer Wirtschaftskraft“ und hat damit völlig recht. Noch aber ist die AfD ganz weit davon entfernt, überhaupt Wirtschaftspolitik machen zu können und zu zeigen, ob sie dieses Politikfeld „wirklich kann“. Vielmehr ist sie einstweilen – und wohl lange noch – mit Fragen ihrer strategischen Ausrichtung sowie mit „loose cannons“ unter ihren Mitgliedern und Mandatsträgern beschäftigt.

Achtens wirkt – und weit über die knapp umrissenen parteipolitischen Positionen hinaus – die neomarxistischen Kulturrevolution von 1968 nach. Jene Generation, die von ihr geprägt wurde, hat erfolgreich den „Gang durch die Institutionen“ vollzogen und ist heute unter Deutschlands gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Eliten tonangebend. Dieser Ton klingt wiederum im Wesentlichen so:

Die Welt der Wirtschaft – des Kapitalismus also – ist grundsätzlich skeptisch zu betrachten. Das gilt für die Unternehmer – die Kapitalisten – erst recht. Das Herz muss schlagen für die Arbeitnehmer, also die Ausgebeuteten. Die Arbeitgeber, wenn es denn weiterhin Kapitalisten geben muss, sind hingegen streng zu kontrollieren, etzwa mittels Berichtspflichten vom Arbeitsschutz bis hin zur Ökobilanz. Gibt sich jemand wirtschaftsnah, dann ist er gewiss unkritisch gegenüber dem Kapitalismus, vermutlich neoliberal, politisch offenbar rechtsstehend. Das alles aber sind politische Sünden, die heute nicht verziehen werden. Und während das Einbringen von Arbeitnehmerinteressen oder von Anliegen des Umweltschutzes in ministerielle und parlamentarische Entscheidungsprozesse als notwendig, ja lobenswert gilt, riecht das Eintreten für Arbeitgeber- und Wirtschaftsinteressen nach versuchter „Umverteilung von unten nach oben“ sowie nach verachtenswertem Lobbyismus, der Geld in illegitimen Einfluss umzusetzen versucht.

Neuntens prägt unsere politischen Diskurse eine sehr weitgehende Verflachung liberalen Denkens. Wenn vom Liberalismus die Rede ist, denken sehr viele durchaus nicht an persönliche Freiheit und an ein Gemeinwohl, das aus dieser erwachsen kann. Sie glauben auch nicht, dass dies wirklich die Zielwerte von Liberalismus wären. Sie denken vielmehr an die Ideologie einer Ellbogengesellschaft, in der die Stärkeren ihre Profitinteressen durchsetzen und die Schwächeren – nachgerade sozialdarwinistisch – unter die Räder kommen. Kaum mehr ist im Blick, wie viel Eigensinn eine Gesellschaft gegenüber rein ideologisch motivierten politischen Gestaltungsversuchen genau dann bewahren kann, wenn sie eine mittelständische Unternehmerschicht – auch mit vielen Beschäftigten mittelständischer Unternehmen – aufweist, die weder von staatlichen Vorgaben abhängen noch von Großunternehmen unter Druck gesetzt werden können, mit denen oft Regierungen sehr eng zusammenwirken. Erst recht ist weitgehend in Vergessenheit geraten, welchen Wert eine um den Mittelstand herum sich reproduzierende, gerade nicht im öffentlichen Dienst befindliche Mittelklasse für eine selbstbewusste und partizipationsbereite Bürgerschaft haben kann – und zwar gerade in der jeweils regionalen Zivilgesellschaft. Leider ist auch überhaupt der Sinn für den Wert all dessen ziemlich geschwunden, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil es gelungen ist, überhaupt die Gesellschaftstheorie des Liberalismus durch Vergiftung mit dem Kampfbegriff des „Neoliberalismus“ in Misskredit zu bringen.

Zehntens aber scheinen auch die Verbände mittelständischer Unternehmen zu wenig Einsatz beim Versuch aufzubringen, in allen diesen Problemzonen Land zu gewinnen. Schließlich muss man in einem freiheitlichen demokratischen Staat wie dem unseren nicht auf die Parteien oder auf die Medien warten, um sich für eigene Interessen einsetzen zu können. Womöglich investieren die Mittelstandsverbände einfach zu wenig in Personal und Strukturen für die klassische Vernetzungs- und Verbandsarbeit. Womöglich entwickeln sie nicht ausreichend jenes personelle und strukturelle Know-how, das es für eine wirkungsvolle Politik- und Medienarbeit nun einmal braucht. Und womöglich beschränkt sich der politische Horizont mittelständischer Unternehmenoft  oft sehr auf jene Region, in der man seinen Betrieb hat oder mit seinen Arbeitsstätten ansässig ist, umfasst aber nicht die Notwendigkeit einer Vernetzung hin zur politischen Landes- und Bundesebene, auf der doch – natürlich mehr und mehr eingebettet in EU-Politik – jene Regeln geschaffen werden, die in der Praxis am wirtschaftlichen Atmen hindern. Hier scheint eine selbstkritische Bestandsaufnahme der eigenen politischen Potentiale und des Umfangs ihrer Nutzung angebracht zu sein. Das gilt umso mehr, als es doch auch gar nicht unternehmertypisch ist, schwierige Handlungsumstände bloß zu beklagen. Vielmehr gehört es sich, auf deren optimale Nutzung auszugehen – wenn sich schon nichts an ihnen verbessern lassen sollte.

 

IV. Aufgaben für Vereinigungen und Verbände des Mittelstandes

Zu diesem Zweck müssen Mittelstandsverbände natürlich einesteils gemäß den Möglichkeiten und Regeln des klassischen gesetzgebungs- und fallbezogenen Lobbyismus agieren. Hier sollte wohl die bisherige Praxis auf den Prüfstand. Andernteils müsste – gerade unter den Umständen stark mediengetriebenen politischen Handelns – die Öffentlichkeitsarbeit intensiviert werden. Worauf aber sollte man dabei strategisch ausgehen?

Erstens muss wirksamer vor Augen geführt werden, was mittelständische Unternehmen sind – nämlich das Rückgrat unserer Wirtschaft sowie der Kern des aktiven Teils unserer Gesellschaft, die zentrale Stätte von bereitwilligem Lernen aus Erfahrung.

Zweitens gilt es, Stolz auf mittelständische Unternehmen zu vermitteln – konkret in der jeweiligen Region, und obendrein ganz allgemein. Manche mittelständischen Unternehmen sind nämlich „stille Weltmarktführer“, sehr viele sind die Angelpunkte regionalen Wirtschaftslebens, und alle sind, über die von ihnen geschaffenen und gesicherten Arbeitsplätze, Ecksteine gesellschaftlichen Zusammenhalts. Das sind keine geringen, sondern höchst lobenswerte und vermittlungswürdige Leistungen.

Drittens gilt es aufzuzeigen, welche Lebenschancen mittelständische Unternehmen bieten. Dazu gehören vor allem jene Chancen, die mit dem Mut zur unternehmerischen Tätigkeit einhergehen. Im Grunde ist doch in unserem Land der Wunsch nach einem Leben als Angestellter mit garantiertem Gehalt und Urlaub zu weit verbreitet, hingegen die Lust auf eigenes Unternehmertum unterentwickelt. Dann freilich fehlt es bald an wirtschaftlicher Dynamik, an neuen Produkten und an Arbeitsplätzen für jene, die sich anstellen lassen wollen.

In diesem Zusammenhang wird auch das Werben um tüchtige Leute für das Antreten der Unternehmensnachfolge zur besonders wichtigen Aufgabe, und zwar gerade unter den Bedingungen des demographischen Wandels. Wenn nämlich kleine und mittelständische Unternehmen ihre Tätigkeit einstellen müssen, weil einfach niemand mehr da ist, der sie übernehmen möchte, verschärft ein solcher Ausfall unternehmerischen Elans alle Probleme noch weiter, die mit der Unterjüngung unserer Gesellschaft sowie der nötigen Integration sehr vieler Geflüchteter ohnehin einhergehen.

Viertens gilt es überhaupt das Leitbild einer liberalen, selbstbewussten Bürgergesellschaft einprägsamer als bislang zu vermitteln. Dabei gilt es zu zeigen, eine wie wichtige und wertvolle Rolle gerade mittelständische Unternehmen in einer solchen Gesellschaft spielen. Das tun sie nicht zuletzt dadurch, dass sie in allen Regionen des Landes die Möglichkeiten eines gerade dort – und also nicht auf große Ortswechsel oder auf Binnenmigration angewiesenen – gelingenden Lebens eröffnen, nämlich durch Ausbildung, nahtlosen Berufseinstieg und sicheren beruflichen Aufstieg vor Ort.

Auf welche Weise und entlang welcher medialer Kanäle man diese alles vermitteln kann, muss man einen Kommunikationsexperten fragen – und nicht einen Politikwissenschaftler. Der hat nämlich das traurige Schicksal, im Grunde stets nur jene allgemeinen Weisheiten vermitteln zu können, um die ohnehin ein jeder weiß, der sich auf einem Sachgebiet praktisch auskennt. Insofern mögen meine Warnungen vor einem allzu langweiligen und darin enttäuschenden Vortrag schon erforderlich gewesen sein. Umso mehr danke ich für die reichlich ausgenutzte Aufmerksamkeit!

 

Bildquelle: http://www.wifu.de/wp-content/uploads/2013/07/Wordl_Mittelstand_1.jpg

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