Ein Skandal um Nazivergleiche?
I. Worum geht es?
„Atticus. Ein Verein für alle Menschen in und um Dresden“ (siehe http://atticus-dresden.de/) hat gestern eine Pressemitteilung zu meiner – im wöchentlichen Wechsel mit Michael Bittner geschriebenen – Kolumne in der „Sächsischen Zeitung“ vom 16. September veröffentlicht. In ihr werden zwei der schlimmsten Vergehen kritisiert, derer man sich in Deutschlands öffentlichen Diskussionen schuldig machen kann. Sie finden sich gleich in der Überschrift der Pressemitteilung:
„Nationalsozialismus-Vergleich und Goebbels-Zitat von Prof. Patzelt“
(erreichbar u.a. unter https://www.facebook.com/atticusdresden/photos/a.1134079956665142.1073741828.1102810633125408/1227743873965416/?type=3&hc_ref=PAGES_TIMELINE).
Das klingt interessant und lohnt genaueres Hinsehen. Der Vorspruch der Pressemitteilung lautet denn auch spannungsschaffend so:
„Die Äußerungen von Prof. Dr. Werner J. Patzelt von der TU Dresden missfallen uns schon lange. Dieses Mal wurde aus unserer Sicht eine rote Linie überschritten. Unsere Meldung an die Presse findet ihr unten stehend. Wir bedanken uns bei Prof. Dr. Karl-Siegbert Rehberg und Prof. Dr. Hajo Funke für die Unterstützung und Zitate.“
Das klingt nicht nur interessant, sondern sogar nach einem Skandal – und macht erst recht neugierig. Solche Neugier dürfte sich vielleicht auch auf jenen Text erstrecken, der in der Pressemitteilung kritisiert wird. Also wird es mir die „Sächsische Zeitung“ nicht verübeln, wenn ich – aus diesem konkret gegebenen Anlass – ausnahmsweise von unserer Vereinbarung abgehe, meine Texte erst zwei Wochen nach Erscheinen über eigene Medien zu verbreiten.
II. Was ist der Sachverhalt?
Titel und Vortext meiner letzten Kolumne – wie immer nicht von mir, sondern vom zuständigen Redakteur der Sächsischen Zeitung stammend – lauten so:
„Unglaube ist nicht gleich Defätismus. Oder schwingt schon die Nazikeule, wer unbedingtes Vertrauenwollen ablehnt?“
Über den Kontext dieser Kolumne lohnt zu wissen, dass Michael Bittner und ich oft wechselseitig – und gerne streitig – auf unsere jeweils in der Vorwoche erschienenen Kolumnen eingehen. Ich hatte vor zwei Wochen über die Grenzen von Politik geschrieben und darauf hingewiesen, dass diese Grenzen auch nicht dadurch sonderlich ausgedehnt würden, dass man etwa an einen Endsieg glaubt oder es mit einem Mantra wie „Yo, wir schaffen das!“ versucht. Darauf hatte Michael Bittner gemeint, ich – der ich sonst jedes Schwingen der „Nazikeule“ ablehnte – wäre in der Sommerhitze doch dieser Versuchung erlegen und hätte die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin mit Hitlers Angriffskrieg, ja vielleicht sogar beide Politiker „gleichgesetzt“.
Das wäre nun allerdings wirklich eine Mischung aus Dummheit und Bösartigkeit. Zu keinem von beidem neigend, thematisierte ich also genau das ausdrücklich, was mir von Michael Bittner missverstanden zu sein erschien, und zwar so:
„Starke Wahrnehmungsmuster scheint bei Michael Bittner der irreführende Historikersatz erzeugt zu haben, dass Männer Geschichte machen – oder, im heutigen Deutschland, eben Frauen. Doch es hängt die Gestaltungsmacht politischer Anführer davon ab, ob andere deren Politik mittragen. Es braucht einfach verlässliche Unterstützer oder Mitmacher; und es kommt darauf an, was diese erhoffen oder ertragen wollen, auch wie lange oder wie bedingungslos. Davon handelte das Ende meiner letzten Kolumne: vom Gefolgschaft stiftenden „Yo, wir schaffen das!“.
Fällt wohl nur mir auf, wie ähnlich jenes Vertrauenwollen, mit dem viele Deutsche in Weltkriegszeiten (1914ff, 1939ff) zu ihren Chefpolitikern aufblickten, zu jenem Vertrauenwollen ist, auf das die jetzige Chefpolitikerin in Eurokrisen- und Migrationszeiten zählen darf, oder wenigstens lange zählen durfte? Nicht an die gute eigene Sache zu glauben, galt auch ehedem als Verrat; und solchen Unglauben gar zu bekunden, wurde bestraft als Defätismus – bis hin zur Ausgrenzung aus dem Kreis der Vernünftigen oder Anständigen. Erkennt da niemand kulturelle Kontinuität?
Gewiss war kein abscheulicher Krieg, sondern eine an menschlicher Schönheit schwer zu übertreffende Willkommenskultur, in was vor einem Jahr so viele hineingingen „wie in einen Gottesdienst“ (so einst Joseph Goebbels). Wahrlich religiöse Züge hatte es, wie da in Geflüchteten nichts als die leidende Kreatur erkannt wurde. Glaubensbrünstig klang der Ruf, kein Mensch sei illegal, und also auch kein Rechtsstatus. Und mit Glaubenseifer wurden willkommenskulturelle Ketzer ausfindig gemacht, beurteilt, von zivilreligiös Korrekten exkommuniziert.
Ist Gläubigkeit wohl immer nazistisch, weil auch die Nazis sie ausbeuteten? Schwingt schon die Nazikeule, wer unbedingtes Vertrauenwollen, nur weil einst im Nazigewand aufgetreten, in anderer Kostümierung ebenso erkennt und ablehnt? Ist es falsch, auf hier geborgene Gefahren aufmerksam zu machen, damit gutwillige Folgsamkeit nicht einmal mehr enttäuscht wird? Und was führt zum Denkfehler, aus einem Vergleich von Bevölkerungsstimmungen zu unterschiedlichen Zeiten eine Gleichsetzung jener Politiken und politischen Anführer zu machen, denen die verglichenen Gefühle jeweils zupass kamen? Klare Antworten hülfen weiter!“
Und obwohl gewiss ein jeder selbst auf Antworten zu diesen vier klaren Fragen kommen sollte, seien wegen der von Atticus e.V. angestoßenen Folgediskussion nun meine eigenen Antworten auf diese Fragen vorgestellt – und gewiss mit einiger Neugier darauf, welche Antworten mein Kolumnenpartner am kommenden Freitag (hoffentlich) geben wird:
- Natürlich ist Gläubigkeit und Vertrauenwollen nicht immer nazistisch, ja hat als menschliche Haltung auch nicht mehr mit den Nazis zu tun, als dass ebenfalls diese eine solche Haltung auszunutzen verstanden.
- Die Nazikeule schwingt durchaus nicht, wer darauf aufmerksam macht, dass manches, was die Nazis aus ihren – eindeutig schlechten – Gründen taten, auch von anderen aus anderen – und womöglich sogar guten – Gründen getan wurde. Etwa ist nicht jeder Angriffskrieg nazistisch, obwohl die Nazis zweifellos einen Angriffskrieg geführt haben. Und selbstverständlich relativiert es nicht den Angriffskrieg der Nazis, dass auch andere politische Gruppierungen Angriffskriege geführt haben.
- Es ist nie falsch, auf Gefahren aufmerksam zu machen; und es ist besser, sich hinsichtlich von Gefahren lieber ein paar Mal zu oft als auch nur ein einziges Mal zu wenig zu täuschen.
- Zum Denkfehler, ein Vergleich von ähnlichen Bevölkerungsstimmungen zu verschiedenen Zeiten laufe hinaus auf die Gleichsetzung jener Politiken oder Politiker, die von ähnlichen Bevölkerungsstimmungen profitierten, führt nichts logisch Korrektes. In manchen Fällen aber führt zu solchen Denkfehlern eine gewisse Flüchtigkeit des Lesens oder Begreifens, mitunter auch das Herantragen von nicht weiter überprüften Deutungsschablonen; ab und zu wohl der Wunsch, billig zu punkten. Was bei Michael Bittner der Fall war, oder ob ich ihn vielleicht ohnehin missverstanden habe, wird er selber zu sagen wissen.
III. Die Kritik von Atticus e.V.
Das alles vorausgeschickt, lässt sich mit dem real Vorgefallenen nun sehr einfach die Pressemitteilung von Atticus e.V. vergleichen. Ich füge dem nachstehenden Text von Atticus e.V. lediglich in eckigen Klammern einige Ziffern ein, die jene Passage markieren, mit denen ich mich anschließend präzis auseinandersetzen werde. Hier also der Text von Atticus e.V.:
In der vergangenen Freitagsausgabe (16.09.) der Sächsischen Zeitung stellte Herr Prof. Dr. Patzelt von der TU Dresden in der Kolumne „Besorgte Bürger“ bedenkliche Vergleiche der Weltkriegsjahre ab 1914 und 1939 und unserer heutigen Zeit an [1]. Damals wie heute würden Andersdenkende ausgegrenzt [2]. Darin sieht Herr Patzelt eine Parallele zwischen den Gegnern des Nationalsozialismus und den heutigen Rechtspopulisten und betont im Umgang mit beiden gar eine Art „kulturelle Kontinuität“ [3].
„Das ist grober Unfug und eines Professors für Politikwissenschaft nicht würdig [4]. Diejenigen, die sich gegen das Hitler-Regime gestellt haben wurden brutal ermordet. Dagegen ist die Meinungsfreiheit heute ein verfassungsmäßiges Grundrecht, das durch heutige Asylkritiker bis hin zu Rechtspopulisten auch gern in Anspruch genommen wird“ [5], so Eric Hattke, Vorsitzender des Vereins Atticus.
Dazu sagt der ebenfalls an der TU lehrende Soziologieprofessor Dr. Karl-Siegbert Rehberg, den Atticus e.V. um eine Stellungnahme bat: „Herr Patzelt betont stets, dass er keine Gleichsetzung von Hitlerregime und etwa Pegida formulieren würde. Gewiss nicht. Aber die polemische Verzerrungsabsicht ist überdeutlich. Um schiefe Vergleiche scheint der vergleichende Politikwissenschaftler nicht verlegen zu sein.“ [6; siehe auch unten]
Besonders fragwürdig ist Patzelts Einschätzung der Unterstützung Geflüchteter. Mit abschätzigem Blick würdigt er solches Engagement als „glaubensbrünstigen“ Eifer herab [7]. Besonders hilfreich erscheint ihm hier die Verwendung eines Zitats von Joseph Goebbels, das Herr Patzelt folgendermaßen einordnet:
„Gewiss war kein abscheulicher Krieg, sondern eine an menschlicher Schönheit schwer zu übertreffende Willkommenskultur, in was vor einem Jahr so viele hineingingen „wie in einen Gottesdienst“ (so einst Joseph Goebbels).“
Dieses maßlose, diffamierende und verantwortungslose Zitat [9] stammt, wie Prof. Patzelt wissen wird, aus einer Rede, die Goebbels im März 1945 vor Wehrmachtssoldaten in Görlitz gehalten hat, Zitat:
„Jene Divisionen, die jetzt schon zu kleinen Offensiven angetreten sind und in den nächsten Wochen und Monaten zu Großoffensiven antreten werden, werden in diesen Kampf hineingehen wie in einen Gottesdienst. Und wenn sie ihre Gewehre schultern und ihre Panzerfahrzeuge besteigen, dann haben sie nur ihre erschlagenen Kinder und geschändeten Frauen vor Augen, und ein Schrei der Rache wird aus ihren Kehlen emporsteigen, vor dem der Feind erblassen wird.“
Die Mitglieder von Atticus e.V. empfinden die Verwendung eines solchen Zitates aus der Endphase des 2. Weltkrieges unwissenschaftlich [10], unseriös und vor allem zutiefst beschämend [11] – für Herrn Patzelt, aber vor allem für die Professur, die er innehat, und deren Universität.
Der Historiker und Rechtsextremismusforscher Prof. Dr. Hajo Funke aus Berlin merkt dazu an: „Das ist die Sprache eines ethnozentrisch verrohten, demagogischen Gemüts. Er denunziert die Geflüchteten und die zu Hunderttausenden gegenwärtig Helfenden, der größten zivilgesellschaftlichen Initiative in der Geschichte Deutschlands.“ [6; siehe auch oben]
Atticus e.V. geht es nicht um Denkverbote oder die Einschränkung der Meinungsfreiheit [12.] Besonders aufgrund der aktuellen Entwicklung in Sachsen (z.B. Claußnitz, Heidenau, Bautzen) ist jedoch eine sachliche und würdige Auseinandersetzung mit dem Thema dringender denn je, auch im Rahmen einer polemischen Kolumne. Einem Professor einer großen Universität würde dies besser zu Gesicht stehen, als der fortschreitenden Polarisierung auch noch Vorschub zu leisten [13].
Einem öffentlichen Diskurs wird, wenn dies Prof. Patzelt wünscht, Atticus e.V. selbstverständlich nicht aus dem Weg gehen [14].
IV. Was halte ich von dieser Kritik?
Hier sind nun meine Kommentare zu den – mit nachgestellten Ziffern in eckigen Klammern markierten – Aussagen jener Pressemitteilung:
[1] Das, was ich vergleiche, sind Stimmungslagen unter vielen Deutschen 1914ff, 1939ff und angesichts der Flüchtlingspolitik 2015f. Ich glaube, dass die durch deren Vergleich zu gewinnenden Einsichten bedenkenswert sind. Ich läse außerdem gerne, was konkret dazu von anderen – und nicht nur von mir – bedacht wurde. Einfach aber eine Sache „bedenklich“ zu nennen und – so „gerechtfertigt“ – konkretes Bedenken zu unterlassen, halte ich schlicht für intellektuelle Arbeitsverweigerung.
Aus gegebenem Anlass sei noch angefügt, dass „Vergleichen“ und „Gleichsetzen“ zwei ganz verschiedene Dinge sind. Durch Vergleichen stellt man fest, ob – und worin sowie warum – zwei oder mehr Sachverhalte ähnlich oder verschieden sind, ja im Ausnahmefall vielleicht sogar einmal so ähnlich, dass sie den Tatbestand der Gleichheit erfüllen und somit, empirisch begründet, „gleichgesetzt“ werden können. Doch solange man im Deutschen – wie weitestgehend üblich – das Wort „vergleichbar“ als gleichbedeutend mit „ähnlich“ verwendet, wird man auf klares Denken hinsichtlich der intellektuellen Operationen beim Vergleichen nicht zählen dürfen.
[2] Das ist auf der Faktenebene zweifellos so. Natürlich aber gehen die Formen der Ausgrenzung unterschiedlich weit, wie gerade der Vergleich zeigt. 1939ff musste man um sein Leben fürchten, wenn man ausgegrenzt wurde, 1914ff und 2015f aber nur um Ruf und Sozialkontakte. Das Nazi-Regime war nun einmal ein verbrecherisches, was für das Kaiserreich nicht gilt – und für die Bundesrepublik Deutschland schon gleich gar nicht.
[3] Das, was ich an den drei verglichenen Stimmungslagen für ähnlich halte und worin mir eine klärungswürdige kulturelle Kontinuität zu bestehen scheint, ist das Vertrauenwollen, mit dem zu Chefpolitikern aufgeblickt wird, und – als dessen Kehrseite – die emotionsstarke Ausgrenzung derer, die solches Vertrauenwollen nicht teilen. Und das ist ebenfalls das Glaubenwollen – nämlich an die Richtigkeit der Politik der Chefpolitiker. Ich verstehe schon, warum so mancher über diese Beobachtung nicht nachdenken mag. Das macht es aber nicht verkehrt und schon gar nicht verwerflich, dass andere – so wie ich – über diese Beobachtung nachdenken wollen. Wer aber jene Beobachtung selbst schon für falsch hält, der möge doch Gründe für die Behauptung vorbringen, es habe 1914ff, 1939ff und 2015f keinerlei wechselseitige Ähnlichkeit im Vertrauenwollen gegenüber der politischen Führung und im Glaubenwollen gegeben, deren Politik sei richtig. Und sehr wohl sage ich auch, dass es in allen diesen Fällen Ausgrenzung von Andersdenkenden gegeben hat.
Ich behaupte also Ähnlichkeiten beim Vertrauenwollen und beim Glaubenwollen. Nirgendwo aber behaupte ich eine Ähnlichkeit beim Grad oder bei der Inhumanität der Ausgrenzung. Es gibt auch keine einzige Textstelle in der ganzen Kolumne dahingehend, heute erlebten Auszugrenzende oder Ausgegrenzte dasselbe wie während der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft. Das ist nämlich eindeutig nicht der Fall – und war, wegen der Trivialität einer solchen Beobachtung, auch gar nicht mein Thema. Also wird auch nirgendwo gesagt, in ähnlicher oder gar gleicher Behandlung von Gegnern bestünde eine kulturelle Kontinuität zwischen dem Kampf der Nazis gegen Rechtschaffene und dem heutigen Kampf gegen Rechtspopulisten. Genau eine solche Behauptung aber insinuiert die Pressemitteilung von Atticus e.V., und zwar ohne jeden Anhaltspunkt im Text sowie ohne jeglichen plausiblen Grund. Da wollte man doch gerne etwas über die Motive solcher intellektueller Unredlichkeit erfahren …
[4] Ich sehe nicht, was an meiner zur Debatte gestellten Beobachtung „grober Unfug“ oder „eines Professors der Politikwissenschaft“ unwürdig wäre. Grober Unfug ist allein die – in den Punkten [2] und [3] von mir kommentierte – Wahrnehmung und Ausdeutung meiner Position, die ihrerseits eines ernstzunehmenden Diskurspartners unwürdig ist.
[5] Genauso ist es, genauso vertrete ich es überall und jederzeit; und genau deshalb ist – neben anderen Gründen – unsere politische Ordnung auch eine gute. Sie verteidige ich seit Jahrzehnten als Hochschullehrer immer und überall. Was mag wohl in einem Kopf vorgehen, aus dem gegenteilige Insinuationen quellen?
[6] Sehr hoffe ich, dass die Kollegen Rehberg und Funke – die mich beide ja persönlich kennen – meine Kolumne gerade nicht gelesen hatten, bevor sie (in diesem Fall auf der Grundlage ihnen womöglich unzureichend kontextualisiert mitgeteilter Zitate) zu ihren Aussagen kamen. Andernfalls könnte ich nämlich nicht erkennen, dass sie den Weg von einem Nachvollziehen meines Textes bis hin zu ihren Vorwürfen intellektuell redlich gegangen wären.
Vom Kollegen Rehberg interessierte mich zu erfahren, welcher meiner tatsächlich durchgeführten Vergleiche denn „schief“ gewesen wäre. Oder meinte er – mir bloß unterstellte – Gleichsetzungen? Die sind nämlich allesamt schief, stammen aber nicht von mir. Und vom Kollegen Funke erführe ich gern, woran er denn halbwegs verlässlich erkennt, ausgerechnet mein „Gemüt“ wäre „ethnozentrisch verroht“ und „demagogisch“. Oder wären derlei Aussagen nun ihrerseits von den Verfassern der Pressemitteilung aus dem Zusammenhang gerissen?
Falls ich von den beiden Kollegen – denen ich diese Replik ausdrücklich zur Kenntnis geben werde – nichts Näheres erfahre, muss ich wohl annehmen, sie hätten ihre Aussagen „einfach so gemacht“, weshalb sie die Folgen auch nicht interessierten, oder sie vermöchten die Logik des Wegs von meiner Kolumne zur ihren Bewertungen nicht nachzuzeichnen. Beides ließe sie in meiner Achtung sinken. Geben sie aber präzise Gründe an, werde ich mich mit diesen sorgfältig – und öffentlich nachvollziehbar – auseinandersetzen; und vielleicht steht am Ende eines solchen Diskurses dann eine Klärung, die auch für andere hilfreich sein kann.
[7] Diese Aussage ist grober Unfug. Erstens handle ich an der Stelle, auf die hier Bezug genommen wird, gar nicht vom Engagement derer, die sich für Geflüchtete einsetzten. Ohnehin lobe (!) ich dieses Engagement im Satz unmittelbar zuvor (!) als „an menschlicher Schönheit schwer zu übertreffende Willkommenskultur“. Als „abschätzig“ wird man eine solche Aussage nicht mit guten Gründen einstufen können.
Zweitens spreche ich ausdrücklich von der (zivil-) religiösen Dimension dieses Engagements sowie von deren Ausdruck nicht nur (a) im quasi-gottesdienstlichen Verhalten redlich praktizierter Willkommenskultur, sondern auch (b) in der vor allem aufs Gute fixierten Wahrnehmung und Darstellung der Geflüchteten sowie (c) im eifernden Umgang mit – aus diskutablen oder aus verwerflichen Gründen – Andersdenkenden. Im Grunde haben die Verfasser der Pressemitteilung schlicht nicht verstanden, worum es in diesem Zusammenhang geht: nämlich um die religiöse Tiefenschicht des Willens, politischen Führern zu vertrauen und an die Richtigkeit von deren Politik zu glauben. Genau das wird auch in der beleidigt-trotzigen Wahrnehmung und Bewertung des Goebbels-Zitats sichtbar, die sich anschließt.
[8] Die Rede vom „Krieg als Gottesdienst“ hat Goebbels wohl mehrfach verwendet. In einem Tondokument, das ich im Gedächtnis habe, bringt sie fratzenartig den ganzen, von keinerlei Vernunft gehaltenen Glaubenskern des Nationalsozialismus zum Erklingen. Viktor Klemperer hat ihn in seinen Betrachtungen zur Nazi-Sprache scharfsichtig an den Worten „Fanatismus“ und „fanatisch“ als Lieblingsbeschreibungen der Nazis für ihre innere Haltung untersucht. „Fanatisch“ kommt nämlich vom lateinischen Wort „Fanum“, das den Bezirk – und die Präsenz – des Heiligen meint, also des keinesfalls in Frage zu Stellenden.
Als politische Religion, die – nicht nur! – der Nationalsozialismus war, spielte diese üble Ideologie (und doch eben nicht nur diese) gekonnt auf jenem Glaubenwollen und Vertrauenwollen, das viele Menschen – und natürlich auch außerhalb der Politik – so gerne hegen. Solches Glauben- und Vertrauenwollen liegt ja auch allem guten Miteinander unverzichtbar zugrunde und ist für gesellschaftlichen Zusammenhalt ganz unverzichtbar. Es kann allerdings missbraucht oder für ein Unternehmen à fonds perdu verbraucht werden.
Missbrauch lag bei den Nazis vor, die auch in ganz verbrecherisches Handeln hineingingen „wie in einen Gottesdienst“. Verbraucht wurde solches Glauben- und Vertrauenwollen 1914ff, als man zunächst mit bekränzten Zügen an die Front fuhr – und dann auf den flandrischen Schlachtfeldern oder vor Verdun so manchen Glauben zusammenbrechen fühlte. Und meine Sorge ist, dass der flüchtlingspolitische Glaube ans „Wir schaffen das“ in den kommenden Jahren an die Grenzen des politisch tatsächlich Machbaren gerät und ähnlich schmerzende Verwundungen zurücklässt wie die – freilich ganz anders dimensionierten und motivierten – Überbeanspruchungen des Glauben- und Vertrauenwollens 1914ff und 1939ff.
Nirgendwo findet sich in meiner Kolumne auch nur die leiseste Andeutung, der gutwillige Einsatz für Geflüchtete wäre dasselbe wie eine militärische Rache an denen, die sich – mit oder ohne Kriegsverbrechen – doch nur gegen den deutschen Angriff und die ihn begleitenden Verbrechen wehrten. Ganz im Gegenteil wird klar gesagt, dass das eine ein – von den Nazis herbeigeführter – „abscheulicher Krieg“ war, das andere aber eine „an menschlicher Schönheit schwer zu übertreffende Willkommenskultur“. Was mag nur im Inneren von Köpfen vorgehen, die eine so klare Aussage nicht zur Kenntnis nehmen, die auch die so eindeutig benannte politisch-religiöse Dimension des Behandelten nicht erkennen – und sich, statt zu begreifen, was wirklich dasteht, mit selbst hinzukonstruierten Empörungsmotiven rhetorisch anfeuern?
[9] Genau das meine ich mit „sich rhetorisch anfeuern“. Denn maßlos, den selbst angegriffenen Gegner diffamierend und völlig verantwortungslos ist die – von Atticus e.V. dankenswerterweise in einer prägnanten Passage ausführlich zitierte – Aussage von Goebbels, nicht aber meine Analyse dessen, was Goebbels in seiner blasphemischen Formel da verdichtete! Mich aber beunruhigt jedes von kritischer Vernunft ungezügelte Sich-Ergeben ins politische Glauben- und Vertrauenwollen so sehr, dass ich meine Warnung vor einer solchen Haltung absichtlich mit dem Ausrufezeichen eben dieses Zitats versah. Tatsächlich sollten wir auch hier aus der Geschichte lernen – und eben in kein politisches Vorhaben je wieder hineingehen „wie in einen Gottesdienst“ (oder, für religiös weniger Musikalische: „mit allen Anzeichen para- und quasireligiösen Verhaltens“).
[10] Ich verstehe, dass Mitglieder von Atticus e.V., und wohl auch noch andere mehr, diese Aussage nicht ausstehen können. Vielleicht trifft sie bei ihnen einen wunden Punkt. Doch Kriterium für Wissenschaftlichkeit ist nun einmal nicht, ob Geschriebenes gefällt – sondern allein, ob die vorgebrachten Aussagen empirisch und logisch korrekt sind. Diesbezüglich enthält die Pressemitteilung von Atticus e.V. aber keine substantiellen Einwände.
Außerdem meine ich, dass Wissenschaft sich zu bestehenden Einstellungen und Verhältnissen in der Regel nicht affirmativ einlassen soll, sondern kritisch – sie also nicht zu umschmeicheln, sondern zu hinterfragen hat. Dass kritische Wissenschaftler gerade deshalb „unseriös“ nennt, wem sie unbequem sind, kenne ich aus meiner Studentenzeit noch recht gut. Ich denke aber nicht daran, nun ausgerechnet in Zeiten längst errungener Unabhängigkeit meine stets kritische Grundhaltung aufzugeben – und finde es für lustig, dass heutzutage vor allem Linke so gerne so affirmativ sind. Doch es macht nun einmal einen Unterschied, ob man die intellektuelle Hegemonie erst erringen oder bereits wieder verteidigen muss. Das Sein bestimmt eben doch das Bewusstsein …
[11] Für beschämend halte ich nicht die Wucht des Goebbels-Zitats, sondern das Niveau, auf dem hier eine Auseinandersetzung gesucht wird.
[12] Da ist gut, und hier stehen wir auf derselben Seite!
[13] Wer auf meinem Blog wjpatzelt.de auch nur ein wenig blättert und herumliest, wird viele Beiträge dazu finden, auf welche Weise sich „der fortschreitenden Polarisierung“ unserer Gesellschaft Einhalt gebieten lässt. Mindestens zwei meiner SZ-Kolumnen waren ebenfalls schon diesem Thema gewidmet; und vieles mehr lässt sich meinem Schriftenverzeichnis entnehmen. Falls die Mitglieder von Atticus e.V. auf diesem Feld in den Disziplinen fachwissenschaftlicher Auseinandersetzung und politischer Publizistik mehr als ich geleistet haben sollten, sollten sie die Erträge ihrer Arbeiten vorweisen, es aber nicht bei einem wohlfeilen Ermahnungssatz an einen gänzlich falschen Adressaten belassen. Und auf anderen Feldern als denen der Wissenschaft und der politischen Publizistik trete ich ohnehin mit niemandem in Konkurrenz.
[14] Gut so! Ich selbst gehe öffentlichen Diskursen grundsätzlich nie aus dem Weg und habe mit dieser ausführlichen Antwort nun auch in dieser Sache den ersten Schritt zu einer vertiefenden Debatte getan. Also warte ich auf eine Antwort, zu der ich mich dann gerne wieder eingehend äußern werde. Schauen wir also, wie weit – im Unterschied zu manch anderen Aktionen wie Flugblättern, Stellungnahmen von studentischen Gremien oder Pressemitteilungen von Angehörigen des Wissenschaftlichen Mittelbaus – diesmal die argumentative Kraft reichen wird.
V. Und dann noch …
Das alles ausgeführt habend, seien dem „Vorspruch“ der Pressemitteilung noch zwei Bemerkungen angefügt. Erstens sehe ich keine „rote Linie“, die ich überschritten hätte. Eine solche wird im Text von Atticus e.V. auch gar nicht beschrieben, sondern bloß insinuiert. Insinuationen aber kann man glauben oder nicht; doch für eine Auseinandersetzung bräuchte es schon auch überprüfbare Argumente. Und zweitens ist es sicher so, dass Atticus e.V. (und / oder dessen Vor- und Parallelvereinen) meine Äußerungen missfallen. Ich sage nämlich weder das, was deren Mitglieder oder Anhänger gerne hören, noch bleibe ich stumm und lasse die Dinge so laufen, wie sie eben laufen. Vielmehr sage und schreibe ich, was ich eben für richtig halte – und lasse mich auf diese Weise gerne auf mir nötig erscheinende inhaltliche Auseinandersetzungen ein.
So etwas kann man dann wohl eine „bunte Diskurslandschaft“ nennen. Und wer für ein „Buntes Deutschland“ ist, wird doch nicht bloß einfarbige Diskurse haben wollen. Oder doch? Oder nur in jenem Farbsegment, das einem selbst gefällt? – Schauen wir einfach, wie es weitergeht!
Bildquelle: http://thefederalist.com/2015/07/14/of-course-atticus-finch-was-a-racist-and-thats-okay/