PEGIDA. Das Buch.
Am 14. Juni fand – mit beträchtlichem medialen Echo – im Feststaal des Dresdner Stadtmuseums die Vorstellung des folgenden Buches statt:
Werner J. Patzelt / Joachim Klose:
PEGIDA. Warnsignale aus Dresden. Dresden: Thelem 2016, 22 €
Nachstehend dokumentiere ich meine kurze Rede zur Vorstellung dieses Buches.
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Zu PEGIDA gibt es – neben einer Unmenge journalistischer und analytisch-essayistischer Literatur und einem Insider-Bericht von SEbastian Hennig („Spaziergänge über den Horizont“ – inzwischen eine Reihe von „Abrechnungen mit PEGIDA“ in kurzer Buchlänge – wie von Philipp Becher et al. („Der Aufstand des Abendlandes“), von Robert Koall („Ein Winter mit PEGIDA“), von Bert Lutzmann („Die besten Argumente für PEGIDA“) oder von Stefan Weiner („Anti-PEGIDA“).
Es gibt außerdem einige Forschungsberichte von empirischen Studien zu PEGIDA, vor allem von Dieter Rucht (Wissenschaftszentrum Berlin), Karl-Heinz Reuband (Universität Düsseldorf) und Florian Finkbeiner et al. (Göttinger Institut für Demokratieforschung), aus denen noch das eine oder andere Buch hervorgehen mag. Von meinem Dresdner Kollegen Rehberg wird obendrein demnächst ein Sammelband mit Beiträgen von unserer Tagung über PEGIDA aus dem letzten November erscheinen.
Und ansonsten gibt es drei Monographien zu PEGIDA:
- von Lars Geiges et al. vom Göttinger Institut für Demokratieforschung über die „schmutzige Seite der Zivilgesellschaft“, mit Daten aus dem Januar 2015, die von den späteren Studien bestätigt wurden;
- von meinem Dresdner Kollegen Hans Vorländer über die „Entwicklung, Zusammensetzung und Deutung einer Empörungsbewegung“, mit seinen Daten aus dem Dezember 2014/Januar 2015, eingebettet in einschlägige bundesweit repräsentative Umfragen;
- sowie von Joachim Klose und mir über „Warnsignale aus Dresden“.
Wofür brauchte es aber dieses dritte, mit 667 Seiten ziemlich dicke Buch über PEGIDA?
Erstens: Dieses Buch beschreibt nicht nur das PEGIDA-Phänomen, sondern macht klar, dass PEGIDA und die AfD einen einzigen „politischen Komplex“ bilden. Also ist PEGIDA nicht vorbei, sondern – bloß unter anderem Namen – erfolgreicher denn je. Wenn also die Auseinandersetzung mit der AfD nicht ebenso wirkungslos bleiben soll wie die Auseinandersetzung mit PEGIDA, ist es ziemlich wichtig, das PEGIDA-Phänomen sowie den PEGIDA/AfD-Komplex endlich ausreichend gut zu begreifen.
Angefügt sei kurz, dass ich mich nun schon monatelang sehr darüber wundere, wenn so mancher sich zwar mit Anspruch auf Durchblick in der Sache zu PEGIDA äußert, zugleich aber erklärt, er sei nachgerade stolz darauf, eben kein PEGIDA-Versteher zu sein. Tatsächlich merkte man so manchem Text über PEGIDA an, dass sein Verfasser wirklich zu wenig von PEGIDA verstand!
Zweitens: Dieses Buch zeigt, dass mit PEGIDA der europäische Rechtspopulismus auch in Deutschland zum nachwirkenden Durchbruch kam, und zwar – aus präzis nachzeichenbaren Gründen – genau in Dresden. Dieser Band zeigt auch, welche falschen Einschätzungen von PEGIDA zu welchen kontraproduktiven Reaktionen auf PEGIDA führten – und ihrerseits alsbald jene Strategie gegenüber der AfD vorzeichneten, die nun ebenfalls wirkungslos zu bleiben scheint. Von daher erklärt sich auch der Untertitel des Buches: Mit PEGIDA gingen von Dresden Warnsignale für ganz Deutschland aus. Doch leider wurden sie fehlgedeutet, missachtet und nicht zum Anlass für rechtzeitige, zielführende politische Reaktionen genommen.
Drittens: Dieses Buch enthält alles das, was man derzeit gesichert über PEGIDA und seine Ursachen wissen kann – und somit über die Ursachen auch der AfD wissen sollte.
Nicht nur enthält es ein 50seitiges Kapitel allein über die Ursachen von PEGIDA sowie des PEGIDA/AfD-Komplexes, sondern auch noch weitere 50 Seiten über die Eigentümlichkeiten jenes sächsisch-dresdnerischen Soziotops, in dem – als PEGIDA – jenes rechtspopulistische Magma, das überall unter Deutschland, ja unter Europa brodelt, ein von vielerlei tektonischen Brüchen durchzogenes Deckgebirge durchbrechen konnte.
Auch enthält das Buch nicht nur die Daten meiner eigenen vier Befragungen von PEGIDA-Demonstranten im Januar 2015, im April und Mai 2015 sowie im Januar 2016, die ihrerseits ein präzises und immer detaillierteres Bild von PEGIDA von der letzten Großdemonstration seiner Anfangsphase bis hin zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Buches zu zeichnen erlauben. Sondern dieses Buch enthält auch die bislang zugänglichen Ergebnisse sämtlicher anderer Demonstrantenbefragungen (d.h. von Rucht, Vorländer, Geiges, Reuband und anderen), desgleichen überhaupt alle greifbaren demoskopischen Befunde, die es erlauben, Dresdner Pegidianer mit bundesweiten AfD-Sympathisanten zu vergleichen – und beide mit dem Rest der deutschen Bevölkerung.
Und im Vergleich dieser Befunde zeigt sich: Die Ergebnisse aller Demonstrantenbefragungen von mir und von anderen passen bei so gut wie allen gleichartigen Sachverhaltskomplexen bestens zusammen! Also gibt es keinerlei vernünftigen Grund, an der Aussagekraft und Verlässlichkeit der Befunde zu zweifeln – selbst wenn Rucht, Geiges und Reuband gar keinen methodisch gesicherten Repräsentativitätsanspruch erheben konnten; wenn Vorländers Studie Repräsentativität eher versprach als verwirklichte; und wenn meine Studien (mit ihren nach Alter und Geschlecht quotierten Stichproben, die außerdem durch „sample points“ auf den Kundgebungsplätzen und in den Demonstrationskolonnen ein Quasi-Zufallsprinzip verwirklichten) der anzustrebenden Repräsentativität zwar weitestgehend nahekamen, sie aber nicht methodisch garantieren konnten.
Das alles heißt insgesamt: In diesem Buch ersieht man – unter Ausschöpfung sämtlicher verfügbarer Befunde aus allen Studien – in großem Detail und jenseits aller vernünftigen Zweifel verlässlich, wer die Pegidianer gemäß ihren soziographischen Merkmalen sind (d.h. nach Geschlecht, Alter, Religion, Beruf, Familienstand, Ausbildung und Einkommen), und welche Einstellungen sie haben: von den parteipolitischen Grundeinstellungen über die Haltung zur Demokratie und das Verhalten im Internet bis hin zu inhaltlichen Positionen, als da sind: Zukunftssorgen, Politikkritik und Verbesserungswünsche; „soziale Gerechtigkeit“ und deren Wahrnehmungszusammenhänge; die Einschätzungen der Globalisierung für Deutschland und die Welt; Russophilie und Antiamerikanismus; Patriotismus; die Haltung zur Religion im allgemeinen und zum Islam bzw. zu Muslimen im besonderen; die Haltungen zu Flüchtlingen sowie Ausländern – und allgemein hinsichtlich des allen Pegidianern zugeschriebenen Rassismus.
Ferner wird im Buch anhand vieler Korrelationsanalysen sowie einer Faktorenanalyse gezeigt, welche Strukturen die Einstellungen von Pegidianer aufweisen, welche Untergruppen von Pegidianern es in welchen Anteilsverhältnissen gibt, und wie sich das alles – Stichwort: „Radikalisierung“ – im Zeitverlauf entwickelt hat.
Und bei alledem wird stets auch noch gezeigt, wie die Besonderheiten von Pegidianern zu den Besonderheiten von AfD-Wählern und obendrein zu den entsprechenden Merkmalen aller Deutscher passen.
Doch das Buch geht weit über eine Präsentation von Befunden zu den PEGIDA-Demonstranten hinaus, die alles Verfügbare zusammenträgt und gemeinsam überschaut. Dieses Buch bringt vielmehr auch gründliche, bislang schlichtweg fehlende Teiluntersuchungen zu folgenden Dimensionen PEGIDAs:
- Da ist PEGIDAs Programmatik und deren Rezeption durch Medien und Eliten – von den „19 Punkten“ über die „6 Punkte“ über die „10 Dresdner Thesen“ und die „Charta für Muslime“ bis hin zur „Prager Erklärung“.
- Das sind PEGIDAs Kundgebungen, deren Analyse auf wochenlangen teilnehmenden Beobachtungen samt Interviews beruht, die insgesamt sieben Studierende aus zwei meiner Seminare zur Fallstudienforschung durchgeführt haben.
- Das sind die bei den PEGIDA-Kundgebungen von deren Anfang an bis Ende Dezember 2015 gehaltenen Reden, und zwar in der erstmals verwirklichten Form einer systematischen Inhaltsanalyse aller Reden. Abgedeckt werden in dieser Analyse die Einschätzung von Deutschlands politischer Situation durch die PEGIDA-Redner, die Themenkomplexe „Einwanderung und Islam“ sowie „PEGIDA und die Medien“, ferner die Sprache und Stilmittel der wichtigsten PEGIDA-Redner, außerdem die vorgebrachten Inhalte der Gastredner – sowie obendrein auch noch die Reaktionen der Demonstranten auf die Reden bzw. die Redner. Für diese Analyse gebührt meinen Master-Studierenden Philipp Currle, Lisa Pflugrath, Sven Segelke und Laura Weißenhorn großes Lob.
- Da ist ferner PEGIDA als Netzphänomen, erfasst durch die – ganz Deutschland räumlich abdeckende – Analyse einesteils von Google-Anfragen nach PEGIDA, sowie der Likes der PEGIDA-Fanseite und obendrein jener Interaktionen, zu denen es auf der PEGIDA-Fanseite kam – und zwar in Gestalt von Kommentaren und beitragsspezifischen Likes oder Shares. Diese Analyse wurde weitergetrieben bis hin zur Analyse der Themen von Hashtags auf der PEGIDA-Fanseite, von Link-Quellen auf dieser Seite, sowie von Interaktionskaskaden zwischen Besuchern der PEGIDA-Fanseite und anderer von diesen häufig besuchter Webseiten. Diese Analyse schließt eine oft angemerkte Forschungslücke zu Facebook-PEGIDA. Sie ist meinen Master-Studenten Clemens Pleul und Stefan Scharf zu verdanken.
- Und da findet sich im Buch auch noch ein mehr als hundert Seiten umfassendes Kapitel, in dem Auseinandersetzungen zwischen Pegidianern und ihren Gegnern im O-Ton nachgezeichnet sowie und hinsichtlich ihrer diskursiven Struktur analysiert werden. Dieses Kapitel ist gerade nicht eine Art „Pornographie besonders schlimmer Stellen“, sondern bezieht sein Datenmaterial aus real abgelaufenen Debatten zwischen Pegidianern und ihren Gegnern, so dass im Detail sichtbar wird, was da alles an Kommunikation misslingt – und warum das so ist.
Gleichwohl erschöpft sich das Buch nicht in Beschreibungen, obwohl es so angelegt ist, dass jeder an PEGIDA bzw. am PEGIDA/AfD-Komplex Interessierte ohne blickverengende Vorab-Thesen genau das an Informationen und Daten finden kann, wonach er – oder sie – für die jeweils eigene, kritische Auseinandersetzung mit PEGIDA sucht. Sondern dieses Buch enthält auch noch zwei ziemlich praktische Kapitel.
- Das eine ist gleich schon das erste Kapitel des ganzen Buchs, nämlich ein Kurzporträt nicht nur PEGIDAs auf gut 30 Seiten, sondern auch ein Durchgang durch die typischen Fehldiagnosen PEGIDAs, denen – allesamt gescheiterte – Therapieversuche auf unzureichender Grundlage folgten. Dieses Kapitel fasst alles zusammen, was die folgenden Kapitel jeweils an Material und aus ihm zu gewinnenden Einsichten bereitlegen. Wer also einfach nur wissen will, was PEGIDA ist bzw. am Umgang mit PEGIDA unzulänglich war, der braucht nur die Seiten 22-53 zu lesen.
- Das zweite ziemlich praktische Kapitel ist das letzte Kapitel auf S. 587-606. Überschrieben mit Lenins berühmter Formel „Was tun?“, enthält es nicht nur eine Antwort auf die Frage, wie man denn „besorgte Bürger“ überhaupt in sinnvoller Weise repräsentieren kann. Sondern es finden sich auch klare Grundsätze für den in Deutschland gewiss noch jahrelang auszufechtenden Streit um die Einwanderungs- und Integrationspolitik, sowie höchst konkrete Ratschläge – und zwar nicht nur für PEGIDA, sondern auch für Politiker und deren zivilgesellschaftlichen Unterstützer, sowie für Journalisten.
Ich bin überzeugt, dass weder das PEGIDA-Phänomen so groß noch der PEGIDA/AfD-Komplex so politisch bedeutsam geworden wäre, hätte man von Anfang an nach jenen Ratschlägen gehandelt, die ich im Übrigen seit Mitte Dezember 2014 mehrfach öffentlich vorgetragen habe. Ob diese Ratschläge – im Buch noch einmal aufs Klarste formuliert – fortan befolgt werden, ist eine ganz offene Frage. Doch ich bin dessen völlig gewiss, dass sich nichts beim Kampf gegen den in Deutschland aufziehenden Rechtspopulismus zum Besseren wenden wird, wenn man diese Ratschläge weiterhin in den Wind schlägt.
[…]
Lassen Sie mich abschließend noch ein persönliches Wort dazu sagen, was mich – neben der selbstverständlichen politikwissenschaftlichen Chronisten- und Analytikerpflicht – jene Energie aufbringen ließ, die das Verfassen des größten Teils dieses Buches und ein sorgfältiges Redigieren sämtlicher anderer Teile dieses Buches nun einmal forderte.
Nicht nur wollte ich meine mehr als eineinhalb Jahre umfassenden PEGIDA-Studien zu einem „in sich runden“ Abschluss bringen. Sondern es haben mich – und das sage ich ganz unumwunden – zumal seit dem Januar 2015 viele höchst ahnungslose Unterstellungen durchaus geärgert, die monatelang (und in manchen Fällen bis heute) darauf hinausliefen, ich verhielte mich zu PEGIDA nicht wie ein Wissenschaftler, sondern wie ein politischer Akteur.
Gewiss ist es so, dass die – oft allzu abstrakt beschriebene – „Rückwirkung des Sozialwissenschaftlers auf seinen Gegenstand“ angesichts meiner im Winter 2014/15 über einige Wochen ziemlich großen Medienpräsenz in Sachen PEGIDA unübersehbar war. Doch allzu viele haben – aus welchen Gründen auch immer – nicht sehen oder sagen oder schreiben wollen, dass alle meine Einschätzungen von PEGIDA und Aussagen über PEGIDA von Anfang an auf konkreter Anschauung des Gegenstandes und auf gemäß allen einschlägigen Methodenregeln erarbeiteten empirischen Befunden fußten, doch zu keiner Zeit auf Wunschvorstellungen oder auf einer Motivation durch Sympathie oder Antipathie. Deshalb war es mir eine tiefe Befriedigung, als ich erkennen und auch zeigen konnte, dass die Zusammenschau aller erreichbaren empirischen Befunde genau das Bild von PEGIDA bestätigt, das ich von Anfang an – wie grobkörnig auch immer – von PEGIDA gezeichnet habe.
Und nun ganz zum Schluss: Es wäre schon gut, wenn künftig – anders als seit dem Aufkommen von PEGIDA – in der Debatte um unerwünschte politische Phänomene nicht der Versuch gemacht würde, die Wahrnehmung und Deutung von Tatsachen an erwünschten Gesamtbildern auszurichten, sondern wenn – ganz umgekehrt – das Zeichnen und Interpretieren von Gesamtbildern an sorgfältig erhobenen und differenziert gedeuteten Tatsachen ausgerichtet würde. Wenn dieses Buch also ein wirksamer Beitrag dazu sein könnte, wenigstens die Debatte um PEGIDA im Einverständnis darüber zu führen, dass Faktenpräsentationen nun einmal mehr wiegen als Überzeugungsbekundungen, dann hätte sich die in diesen Band investierte Zeit auch über die Klärung seines Gegenstandes hinaus gelohnt. Warten wir nun also ab, wie es kommt – und wer welchen Beitrag wozu leistet.
Bildquelle: eigenes Foto