Was ist los mit Sachsen?
usprünglich erschienen in: Rheinische Post, 5. März 2016, S. A2
Einst war Sachsen das „rote Königreich“ in Deutschland, Herzland der SPD, wohlhabendste Region des Reichs. Dann wurde schon im März 1933 der große Dirigent Fritz Busch von den Nazis aus Dresden vertrieben, fand im September 1933 zu Dresden die erste Ausstellung über „Entartete Kunst“ statt, hatte Sachsen einen der hetzerischsten NS-Gauleiter. Später wurde das Sächsische dank des Leipziger SED-Führers Ulbricht zu einer Art Signaldialekt der kommunistischen DDR. Das wirkt im deutschlandweit beliebten Verächtlichmachen des Sächsischen nach und verstärkte dessen Ansehensverlust, der mit dem realen Machtabstieg Sachsens seit dem späten 18. Jh. einherging.
Damals begannen die sächsischen Revolten. Wer sich – wie lange auch die Altbayern – seiner Sprache wegen als Dummkopf hingestellt erlebt, der pflegt zu reagieren. Im schlechten Fall tut er das mit bockiger Verschließung, im besten Fall mit unersättlichem Leistungswillen, der die anderen hinter sich lässt. Preußens Gloria setzte man jedenfalls Sachsens Glanz, politischer Macht jene Mischung aus Findigkeit und Rührigkeit entgegen, die auf sächsisch „Fichilanz“ heißt (hochdeutsch: „Vigilanz“). Solches Verhalten klingt zwar harmlos, wirkt aber subversiv.
Jedenfalls begann das Ende der DDR in den sächsischen Städten Plauen, Dresden und Leipzig. Anschließend waren die früheren sozialdemokratischen Milieus verschwunden. Dafür wurde der sächsische Landesverband der PDS zeitweise zur reformwilligsten Gliederung der alten Staatspartei. Die CDU als neue Staatspartei wählten die Sachsen ununterbrochen mit absoluten oder starken relativen Mehrheiten in den Landtag. Der republikanische Monarch erklärte alsbald „seine Sachsen“ für gegen jegliche Form von Rechtsextremismus „immun“. Wenig später zog die NPD in den Landtag ein. Dann entstand in Sachsens Hauptstadt PEGIDA und wurde der weiß-grüne Freistaat zum Spitzenreiter bei Übergriffen auf Geflüchtete und deren Unterkünfte.
Was ist da los? Offenbar können viele Sachsen „links“ und „rechts“ ähnlich gut. Sie wechseln rasch die Seiten, wenn es sein muss, soll oder kann. Nicht weit ins Innere lassen sie sich von dem bewegen, was man äußerlich von ihnen will. Man macht mit, bis der innere Kompass anzeigt: „Jetzt is‘ aber gut!“. Denn so gutmütig Sachsen sein können, so wenig ist auf handsames Verhalten dann Verlass, wenn sie sich in ausweglose Lagen gebracht fühlen.
Erklärungen sächsischer Eigentümlichkeiten ohne solche historische Tiefenschicht, auch bar des Gespürs für soziokulturelle Zusammenhänge, sind stets unzureichend – wie die folgenden. Zweifellos hat die sächsische CDU jene rechtsradikalen Netzwerke unterschätzt, die seit Beginn der 1990er Jahre erkennbar waren. Doch warum hat sich rechtspopulistisches Empfinden ausgerechnet in jenem Sachsen so verbreitet, das man 1990 als neues sozialdemokratisches Musterland erwartete? Gewiss verfestigte sich im seit damals von der CDU regierten Sachsen eine rechte Grundstimmung, die den „Kampf gegen rechts“ nicht zum Herzensanliegen der Regierung werden ließ. Doch eine rechte Grundstimmung gibt es auch im seit 1954 von der CSU regierten Bayern, wo – obwohl 2015 von der Zuwanderung am meisten betroffen – sich gerade keine Fremdenfeindlichkeit zeigt, sondern bewundernswerte Willkommenskultur. Und sicher sind die Sachsen besonders stolz auf ihr Land. Aber das sind die Badener und Württemberger auch. Dort aber regieren die konservativsten aller Grünen und ist von Rechtsradikalismus oder Fremdenfeindlichkeit wenig zu bemerken. Man wird also tiefer graben müssen. Dann findet man:
Gerade in Einwanderungsfragen hat Sachsen viel mehr mit Polen, Tschechien und Ungarn gemein als mit den Hansestädten oder dem Rheinland. Was aus westeuropäische Warte als fragwürdig-rechtspopulistisch anmutet, wirkt in Ostmitteleuropa politisch ganz normal – und in Sachsen eben auch. Dort hat man außerdem nicht die Demütigungen durch „landfremde Vögte“ vergessen, als welche viele der seit 1990 ins Land strömenden West-Eliten wirkten. Und heute stört man sich sehr an jenen Denk-, Sprech- und Verhaltensgeboten, die – auf ihre politische Korrektheit so stolze – Wessis gerade in Einwanderungsfragen über „Dunkeldeutschland“ verhängen.
Man freute sich über das Ende der schweren Umbruchjahre seit 1990. Also empfand man es als Zumutung, im „gerade wieder schön gewordenen Sachsen“ jetzt den Ausländeranteil „auf westdeutsches Niveau“ bringen sollen, also aufs Maß aller Dinge. Weil viele Sachsen – gut gebildet in einem Hochschulland, auch nicht ohne Erfolg mit ihren Handwerksbetrieben und mittelständischen Unternehmen – nun einmal kein gutes Ende der seit 2015 betriebenen Einwanderungspolitik erwarten und außerdem empfinden, ihre Kritik werde „arrogant abgebügelt“, empören sie sich. Sie tun das umso mehr, als sie nie gefragt wurden, ob sie eine solche Veränderung ihrer Kultur und Heimat wirklich wollten. Solche „Politik von oben herab“ fühlt sich dann an „wie zu DDR-Zeiten“.
Obendrein fehlen – von perfekt integrierten Vietnamesen abgesehen – jene positiven Erfahrungen mit einer Einwanderungsgesellschaft, die man in weiten Teilen Westdeutschlands machen konnte. Also schrecken unschöne Bilder, etwa aus Duisburg-Marxloh. So etwas wäre „nicht mehr ihr Land“, empfinden viele. Einige von ihnen machen sich dann ans Abschreckungswerk durch Unwillkommenskultur und Brandanschläge. Weil außerdem die meisten Sachsen zwar derlei Verbrechen ablehnen, doch die so bekämpfte Flüchtlingspolitik auch selbst als falsch erachten, entsteht vielerorts ein Einvernehmenszusammenhang folgender Art: „Das geht zwar zu weit; doch im Grunde …“. Und weil völlig klar zu sein scheint, dass nur Rechtsextremisten und Rassisten so denken, wird allzu oft in Mithaftung genommen, wer derlei gar nicht ist. Alsbald führt sich aufbauender Trotz zur stillschweigenden Solidarisierung – und fängt ein undifferenzierter „Kampf gegen rechts“ an, die Rechten weiter zu stärken. Und Deutschland findet dann in Sachsen seinen Sündenbock …
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