Religion und die Natur des Menschen

Religion und die Natur des Menschen

Aus Anlass der laufenden Debatten um den Islam und überhaupt die – nützliche oder gefährliche – Rolle von Religion für eine Gesellschaft stelle ich einen meiner bislang unpublizierten Vorträge zur Diskussion, gehalten vor einigen Jahren auf der ersten großen Tagung des (ehemaligen) Dresdner Sonderforschungsbereichs „Transzendenz und Gemeinsinn“:

 

Werner J. Patzelt

Die Fundierung religiöser Transzendenz in der Natur des Menschen

I.

Unser Sonderforschungsbereich setzt „Transzendenz“ durchaus nicht mit „Religion“ gleich, sondern vergleicht die ordnungskonstruktive Rolle religiöser Transzendenz mit der ordnungskonstruktiven Rolle anderer Transzendenzformen. Der gemeinsame Nenner für sie alle besteht darin, Transzendenz in gerade solchen Diskursen und Praktiken am Werk zu sehen, in denen „Unverfügbarkeiten“ konstruiert und anschließend als selbstverständliches Baumaterial sozialer Wirklichkeit und politischer Ordnung verwendet werden.

Tatsächlich gibt es uns Unverfügbares. Worin derlei im Bereich menschlichen Erkennens besteht, hat Kant auf die Rede von den jeder Anschauung vorgängigen Urteilen a priori gebracht. Auch die Grenzen unser Körperlichkeit sind bislang nur in Phantasien überschreitbar – etwa in der dualistischen Trennung zwischen unserem Körper als einer „res extensa“ und unserem Geist als einer von aller Materie ablösbaren „res cogitans“. Und wie steht es mit religiösem Glaubenkönnen oder immerhin Glaubenwollen, wie es vielen politischen Kulturen und politischen Systemen zugrunde liegt – und sei es in der säkularisierten Gestalt von Ideologie und ideologischer Wirklichkeitskonstruktion? Steht dahinter ein uns verfügbares Wollen – oder eher ein uns ganz unverfügbares Gar-nicht-anders-Können?

Mit dieser Frage nach unserem Verhältnis zur religiösen Transzendenz befasst sich üblicherweise die transzendentale Religionsphilosophie. Inzwischen haben aber auch empirisch arbeitende Evolutionsforscher dieses Thema als spannenden Gegenstand entdeckt und fangen an, über ihn Aufschlussreiches zutage zu fördern. Darunter finden sich auch gute Gründe für die Vermutung, dass vielerlei Transzendenzformen ihren Ursprung in unserer natürlichen Veranlagung für gerade religiöse Transzendenzerfahrung finden.

 Zwar ist seit je Evolutionsforschern die Religion und Religiösen die Evolutionsforschung ein Dorn im Auge. Religiöse misstrauen der Evolutionsforschung oft, weil deren Theorien eine vorzügliche Welterklärung ganz ohne Gott liefern. Obendrein geben sich viele Evolutionsforscher nicht nur demonstrativ als Atheisten, sondern bekämpfen Religion nachdrücklich als „Gotteswahn“. Ihr Grund: Sie misstrauen Religiösen, weil diese oft empirisch falsche Theorien trotz besserer Alternativen verträten, junge Menschen in ihren Bannkreis zögen und so den Weg der Aufklärung verstellten.

Seit einiger Zeit ist aber manches in Bewegung. Zumindest christliche Lehrautoritäten – viel weniger aber islamische – akzeptieren nun wenigstens die naturwissenschaftliche Evolutionstheorie als empirisch korrekt. Umgekehrt haben einige Evolutionsforscher angefangen, Religion als naturgeschichtlich auftretendes und somit empirisch zu erklärendes Phänomen ernstzunehmen. Dafür gibt es auch gute Gründe. Weil nämlich keine Gesellschaft ohne religionsähnliche Phänomene auszukommen scheint, hätte die Evolutionstheorie eine große Erklärungslücke, wenn sie ausgerechnet von einer Universalie wie menschlicher Religiosität zu schweigen hätte.

Zentrale evolutionstheoretische Einblicke in die Fundierung religiöser Transzendenz in der Natur des Menschen will ich nun herausstellen.[1] Vorab seien drei Begriffe für die Dauer meines Vortrags vereinbart. „Religiosität“ soll die mentale Fähigkeit meinen, fromm zu sein. „Frömmigkeit“ soll die individuellen Praxen der Kontaktpflege mit dem Göttlichen bezeichnen. Und „Religion“ ist dann die jeweils geschichtlich gewordene und kulturell höchst variantenreiche Form einer symbolischen oder diskursiven Vergegenwärtigung des Göttlichen. Entlang der kulturellen Muster einer Religion kann sich dann individuell die Entwicklung bloßer Religiosität hin zu praktizierter Frömmigkeit vollziehen. Mein Gegenstand sind aber fortan weder historisch kontingente Religionen noch jeweils individuell kontingente Frömmigkeit, sondern ist allein die Religiosität, also die Fähigkeit zur Frömmigkeit. Und interessiert an einer möglichen Fundierung religiöser Transzendenz in der Natur des Menschen, frage ich insbesondere danach, ob Religiosität nicht ihrerseits ein Evolutionsprodukt sein könnte – ganz so wie unsere Fähigkeit, unwillkürlich und doch hochgradig typisiert auf Spinnen oder Schlangen zu reagieren.

 

III.

Entwicklungspsychologische Forschungen haben gezeigt, dass Kinder bis zum etwa fünften Lebensjahr über kognitive Strategien verfügen, die sich hervorragend zur spontanen Erzeugung religiöser Überzeugungen eignen. Kleine Kinder denken nämlich dualistisch, schreiben also auch unbelebten Gegenständen oder Gestorbenen mentale Zustände zu; sie denken finalistisch, verstehen also die Welt als dahingehend zweckvoll eingerichtet, dass alles einer bestimmten Aufgabe diene; und sie haben noch keine „theory of mind“, d.h. keine Vorstellung davon, welche Vielfalt menschlicher Wissensbestände und mentaler Zustände es gibt. Vielmehr meinen sie, dass im Grunde viele alles wissen. „Intuitiven Theismus“ hat man diese Unterstellung der Existenz von Alleswissern, körperlosen Geistern und finaler Planmäßigkeit genannt. In einer solchen Haltung ist ein Kind offen für jedes Glaubenssystem, das hierzu passende kulturelle Muster anbietet. Innerhalb eines frühkindlichen Zeitfensters vollzieht sich dann recht anstrengungslos die Aneignung nahegebrachter Religion. Welche Vorteile aber mag es im Lauf der menschlichen Stammesgeschichte gehabt haben, dass uns unsere Natur offen macht für eine solche „Prägung auf Religion“?

Erstens verbindet sich die Offenheit des intuitiven Theismus für die Lehre, es gäbe göttliche Wesen, mit einer evolutionär höchst vorteilhaften Suchstrategie unseres Verstandes. Sie wird mitunter auf den Begriff des „agency detection device“ gebracht. Es handelt sich dabei um das Bestreben, in unklaren Lagen „Akteure“ zu entdecken, die man dann bekämpfen oder beschwören, ja sich vielleicht zum Bundesgenossen machen kann. Tatsächlich eröffnet es zusätzliche Überlebenschancen, mit der Vermutung durch die Welt zu gehen, in ihr sei wenig durch anonyme Prozesse, sondern das meiste durch das Verhalten von Akteuren verursacht: Diese kann man nämlich zu identifizieren versuchen, worauf hin man sie abwehren oder ins eigene Leben integrieren kann. Eckart Voland, ein führender deutscher Evolutionstheoretiker, formulierte dazu: „Wer reflexartig auf Tier oder Feind schließt, hat im Mittel Vorteile, auch wenn dies mehr als nur gelegentlich zu Fehlurteilen geführt hat. Sich zu irren, ist in dem Fall besser als agnostische Ignoranz“ (S. 168). Ähnlich hat schon Blaise Pascal zur Frage argumentiert, wie man es vernünftigerweise mit der Hypothese einer Existenz Gottes halten solle. Unschwer sind jedenfalls in dieser evolutionär vorteilhaften Such- und Vermutungsstrategie die Anfänge des Animismus zu erkennen, also der gänzlich vortheologischen Lehre, die uns umgebende Welt sei von übernatürlichen Wesen mit eigener Wirkungskraft beseelt.

Verbindet sich die Fähigkeit, allenthalben Akteure zu entdecken, nun aber mit den Folgewirkungen unseres – stammesgeschichtlich wohl viel später entstandenen, da ungleich komplexeren – „intuitiven Theismus“, so ist unserem Gehirn auch bei der Generierung jener Geschichten über nicht nur, aber eben auch göttliche Mächte geholfen, mit denen wir immer wieder Wahrnehmungsunsicherheiten und Erklärungslücken zu beseitigen vermögen. Schon Ludwig Feuerbach wusste auf solche Weise zu erklären, wie Religion und Götter nach unserem Ebenbild in die Welt gekommen sind. Inzwischen verstehen wir aber auch die evolutionären Hintergründe dieser Prozesse und begreifen aus ihnen, dass Religiosität – und viel später dann auch Religion – wohl als Nebenprodukte eines ganz auf irdisches Überleben ausgerichteten und auch bei anderen Primaten verwendeten Suchschemas entstanden sind.

Zweitens zeigen vielerlei Studien, dass Menschen, die ihre Religiosität in Frömmigkeit umsetzen, sich zusätzliche Überlebenschancen, ja oft sogar höhere Fortpflanzungsraten erschließen. Solche Reproduktionsvorteile bewirken dann aber auch eine immer weitere Verbreitung des angeborenen Merkmals der Religiosität. Damit ist freilich noch nichts gesagt über die in einer gegebenen Gesellschaft bestehenden Chancen und Häufigkeiten einer frühkindlichen Prägung auf Religion. Im Durchschnitt gilt aber auch für weitgehend säkularisierte Gesellschaften: Depressionsabwehr und Krankheitsbewältigung gelingen besser bei einer „positiven Sinnzuweisung“ an die kritische Lage; und eben dazu führt sehr oft – auch ganz ohne den Gang zum Psychotherapeuten – in Frömmigkeit umgesetzte Religiosität. Auch gehen im Glauben Gefestigte anscheinend leichter mit lebensweltlicher Kontingenz um. Eines der berühmtesten Kirchenlieder formuliert das so: „Wer nur den lieben Gott lässt walten / und hoffet auf ihn allezeit / den wird er wunderbar erhalten / in aller Not und Traurigkeit, / denn welcher seine Zuversicht / auf Gott setzt, den verlässt er nicht“.

Doch auch ganz ohne Krisenerfahrungen lassen sich durch Meditation, Ekstase oder Trance neurophysiologische Prozesse auslösen, die mit nachweisbaren Vorteilen für Wohlbefinden und Gesundheit einhergehen. Medizinische Therapie und Religion, im Schamanismus ohnehin verbunden, scheinen denn auch in ursprünglicher Ungetrenntheit am Anfang von Medizin- und Religionsgeschichte zu stehen. Zwar verbinden sich mit Frömmigkeit nicht selten auch Neurosen und Depressionen, zumal wenn aus dem „eu angelion“, der Frohbotschaft, eine Drohbotschaft wird. Doch in der Gesamtbilanz und im Durchschnitt scheint Religion Menschen mehr zu nutzen als zu schaden. Also muss es nicht wundern, wenn Religiosität ein Kind der Evolution ist.

Drittens entfalten die mit gemeinsamer Religion oft verbundenen öffentlichen Rituale große gemeinschaftsbildende Kraft. Die dabei verwendeten Symbole tragen vielerlei institutionelle Arrangements einer religionsgeprägten Gesellschaft in emotionale Tiefenschichten ihrer Mitglieder ein und verfestigen so die soziale und politische Ordnung. Verlässlich verfügbar, synchronisieren Rituale – und offensichtlich auch rein zivilreligiöse –die Gefühle ihrer Teilnehmer, ja selbst Zuschauer, und machen dadurch Gemeinsinn für Anschlusspraxen verfügbar: von der Götteranrufung vor der Schlacht bis zum ökumenischen Gottesdienst vor dem CDU-Parteitag. Im Rahmen von Ritualen beglaubigte Mythen und Geltungsgeschichten erlauben obendrein die Abgrenzung von „Wir“ und „die Anderen“. Das bevorteilt beim Ringen um knappe Ressourcen solche Gruppen, die ihren Zusammenhalt nicht fallweise aushandeln müssen, sondern ihn Ritualen mit religiöser Tiefenwirkung verdanken. Stellt eine Religion gar noch das Weiterleben nach dem Tode in Aussicht, dann kann Gemeinsinn leicht bis zum Altruismus, ja bis zum freiwilligen Opfer des eigenen Lebens für die Gemeinschaft reichen. Die Folgen dessen sind in Geschichte und Gegenwart unübersehbar: Sie reichen vom Heldenmut in Revolutionen und Kriegen bis zu Selbstmordattentaten im Dienst einer guten Sache.

Bedenkt man obendrein, dass sich der allergrößte Teil der rund fünf Millionen Jahre währenden Stammesgeschichte der Hominiden vor deren Übergang zur Sesshaftigkeit vollzogen hat, der seinerseits vor keinen 12.000 Jahren zustande kam, und dass unsere Stammesgeschichte aller Wahrscheinlichkeit nach von ständiger Konkurrenz autonomer Subsistenzgruppen um ökologische Lebensvorteile geprägt war, dann müssen zwei weitere Dinge nicht wundern. Erstens sollten sich im Durchschnitt jene Gruppen und Sozietäten durchgesetzt und überdurchschnittlich vermehrt haben, die gerne gemeinsinnstiftende religiöse Rituale pflegten. Tatsächlich finden wir keine frühe Hochkultur ohne eine zentrale Rolle von Religion. Zweitens sollten sich – gerade im Rahmen solcher Sozietäten – jene genetischen Varianten besonders leicht ausgebreitet haben, welche aus dem schon vor den Hominiden zu vermutenden „agency detection device“ jene ganz im Wortsinn natürliche Erwartung entstehen ließen, es gäbe so etwas wie Götter, welche sich dann ihrerseits – über frühkindliche Prägung und anschließende Sozialkontrolle – kulturell so folgenreich machen lässt.

Viertens ist Religion ein vorzügliches Mittel, um das für soziale Kooperation so abträgliche „Schwarzfahrerproblem“ in den Griff zu bekommen. Dieses besteht – auf einer ersten Ebene – darin, dass Menschen dazu neigen, eher ihrem Eigeninteresse als dem Gemeinwohl zu folgen. Auf einer zweiten Ebene besteht das Schwarzfahrerproblem darin, dass man die hieraus entstehende Übernutzung öffentlicher Güter zwar durch Bestrafung der Egoisten unterbinden kann, dass mit dem Bestrafen aber Kosten verbunden sind, die man lieber anderen aufbürdet als selbst trägt. Religion bietet auf beiden Ebenen sehr kostengünstige Problemlösungen, eröffnet dadurch gesellschaftliche Kooperationsvorteile und dürfte sich gerade deshalb – auf der Grundlage bereits genetisch verankerter Religionsfähigkeit – sozialevolutionär so weit verbreitet haben.

Auf der ersten Ebene kann ein verinnerlichtes Wertgefüge das Schwarzfahrerproblem lösen: Gemeinsinniges Verhalten gehört sich einfach. Doch wie kann man wissen, ob der andere solches Verhalten aus Überzeugung an den Tag legt, also Vertrauen verdient, oder Gemeinsinn es nur simuliert, weswegen man besser nicht mit ihm kooperiert? Die Evolutionsbiologie hat zur Klärung einer ähnlichen Thematik den Begriff des „Handicap-Signals“ entwickelt. Gemeint ist Folgendes: Wer im Tierreich demonstrativ Nachteile in Kauf nimmt – wie männliche Pfauen durch ihre prunkenden Federn – und sich das auch andauernd leisten kann, der signalisiert eben durch die Inkaufnahme dieses andauernden Handicaps besondere individuelle Qualität. Nachweislich liegt die Verwendung solcher Handicap-Signale der sexuellen Selektion zugrunde, die eben dadurch eine Vielzahl nicht-adaptiver und abseits sexueller Attraktivität sogar recht dysfunktionaler Merkmale hervorbringt – wie etwa die riesigen Hirschgeweihe.

Mit Frömmigkeit gehen nun aber ebenfalls mancherlei, ein Handicap bewirkende, Nachteile einher. Sie reichen von der Zeit, die man für Gebete und Gottesdienst aufzuwenden hat, über materielle Opfergaben bis hin zu Enthaltsamkeitsgeboten nicht nur beim Essen und Trinken. Wer nun vor aller Augen solche Handicaps auf sich nimmt, der signalisiert in gut nachprüfbarer und darum recht ehrlicher Weise, dass ihm die Werte und Gebote seiner Religion wirklich wichtig sind, so dass man darauf vertrauen kann, er werde sich im sozialregulativen Zuständigkeitsbereich seiner Religion nicht wie ein Schwarzfahrer verhalten. Zieht durch Frömmigkeit signalisierte Verlässlichkeit dann aber auch – wie es zumal in nicht-säkularen Gesellschaften zu erwarten ist – Lebens- und Sexualpartner an, dann ist nichts anderes als eine Verstetigung der genetischen Verankerung der Verhaltensdisposition zur Frömmigkeit zu erwarten.

Und besonders kostengünstig löst Religion das Schwarzfahrerproblem auf der zweiten Ebene, welche freilich schon die der Kultur und nicht mehr jene der Biologie ist. Verfügbar wird diese Problemlösung dann, wenn ein Glaubenskomplex drei Vorstellungen beinhaltet: Es gibt ein Leben nach dem Tode; es gibt mindestens einen Gott, der die Menschen nach dem Tode richtet sowie Übeltätern mit empfindlichen Strafen kommt; und beurteilt wird man danach, wie redlich man sich zu Lebzeiten an Gottes Gebote gehalten hat. Das Wissen um Gottes unabwendbares Gericht verlegt dann das Bestrafen von Regelverletzern ins Vorauswissen jedes religiös ausreichend Unterwiesenen; und deshalb werden auch weniger Fromme eigentlich gern unternommene Regelverletzungen besser unterlassen. Im Grunde muss man dann nur noch stark in solche Institutionen investieren, die einesteils derartige religiöse Überzeugungen vermitteln sowie in Geltung halten, und die andernteils dem möglichst kleinen Rest an nicht bereits religiös Rechtgeleiteten höchst irdische Strafen bescheren.

Das alles vor Augen, erweist sich Religiosität – und dann auch Frömmigkeit und Religion – als ein Phänomen, das recht schlüssig aus der Ko-Evolution der menschlichen Natur und der menschlichen Kultur erklärt werden kann. Allein Religion und Frömmigkeit sind dann gesellschaftlicher oder individueller Verfügbarkeit ausgesetzt; hingegen erweist sich unsere Religiosität als unverfügbar. Allenfalls können wir das Gelegenheitsfenster zur Prägung eines Kindes auf Religion sich ungenutzt schließen lassen.

Des Näheren erkennt man, dass sich Religiosität als Teil – und Religion selbst als Nebenprodukt – der Evolution von Gemeinsinnigkeit entwickelt hat. Eben die Fähigkeit zum Praktizieren von Gemeinsinn, welche durch die Kultivierung von Religion weiter gesteigert wird, machte offenbar manche Hominidengruppen konkurrenzfähiger als auf derlei verzichtende Rivalen – und somit zu unseren Vorfahren. Diese hatten beim Spiel des Zufalls doppelt Glück. Erstens schenkte ihnen eine Reihe genetischer Variationen die Entstehung des „intuitiven Theismus“ ihrer Kinder. Zweitens verstanden sie sich auf die Schaffung von Symbolsystemen und institutionellen Arrangements, welche ihren Nachkommen verlässlich solche kulturellen Muster aufprägten, die besonders engen Zusammenhalt sowie verlässliche Lösungen für das Schwarzfahrerproblem auf zweiter Ebene herbeiführten.

Wem nun plausibel erscheint, was dieser Blick auf die Fundierung religiöser Transzendenz in der Natur des Menschen zutage fördert, der wird drei Anschlussfragen für wichtig halten. Im Bereich meines Teilprojekts – „Transzendenz und Gemeinsinn als Ressourcen politischer Ordnungskonstruktion in Deutschland und Europa“ – stellen wir sie jedenfalls.

Erstens: Welche mittelfristigen und durchschnittlichen Folgen wird es für die Konstituierung und Stabilität sozialer und politischer Ordnungen haben, wenn Kinder gerade nicht auf Religion geprägt werden, wie das in säkularen Gesellschaften vielfach als Errungenschaft gilt? Wie wird es etwa um die Risikotoleranz und alltagspraktische Zuversicht einer Gesellschaft stehen, wenn ein Großteil ihrer Mitglieder keine Daseinsentlastung mehr in praktizierter Frömmigkeit findet? Zweitens: Welche Folgen wird es im heraufziehenden Zeitalter globaler Migrationsprozesse haben, wenn Sozietäten mit durch Religion verstärktem Gemeinsinn auf Gesellschaften treffen, die immer erst aushandeln müssen, ob und wie weit sie bei der Konkurrenz um knappe Ressourcen widerstehen wollen? Und drittens: Wie gut mag es Gesellschaften ohne die Ressource religiöser Transzendenz gelingen, das Schwarzfahrerproblem zweiter Ebene zu lösen, also die verlässliche Bestrafung einer Übernutzung öffentlicher Güter nachhaltig zu organisieren?

Das alles sind Fragen von offenkundig auch aktueller praktischer Bedeutung. Also können wir zuversichtlich sein, mit unserem Sonderforschungsbereich nicht nur an einem intellektuell attraktiven, sondern auch hinsichtlich der erhofften Ergebnisse politisch wichtigen Unternehmen mitzuwirken. Mich freut das, und die Kollegenschaft vielleicht auch.

 

[1] Bezugstext ist im Wesentlichen Eckart Voland, Die Evolution der Religiosität, in: Jochen Oehler, Hrsg., Der Mensch – Evolution, Natur und Kultur. Beiträge zum heutigen Menschenbild, Heidelberg u.a. 2010, S. 165-174. Beim Referieren empirischer Befunde wird ihm mitunter sehr eng gefolgt. Siehe auch ders. / Wulf Schiefenhövel, Hrsg.: The biological evolution of religious mind and behavior, Heidelberg u.a. 2009.

 

Bildquelle: http://www.equalityhumanrights.com/sites/default/files/uploads/Multi%20faith.jpg

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