PEGIDA von innen
Auf einer langen Bahnfahrt nach und von Fulda hatte ich gestern Gelegenheit, folgendes Buch zu lesen:
Sebastian Hennig: PEGIDA. Spaziergänge über den Horizont. Eine Chronik. Neustadt an der Orla (Arnshaugk Verlag) 2015
Der Verfasser nahm ab Dezember 2014 an fast allen PEGIDA-Demonstrationen in Dresden teil, außerdem an einigen ihrer Seitenstücke in Leipzig und anderswo. Sein Anliegen ist es, PEGIDA von innen heraus zu schildern, im Grunde aus seiner ganz persönlichen Perspektive. Hennig behauptet auch gar nicht, wie aus der Warte eines allwissenden Romanerzählers „das Ganze“ von PEGIDA zu vor Augen zu führen. Sehr wohl aber beansprucht er, vom Typischen oder Üblichen dessen zu handeln, wie PEGIDA-Teilnehmer sind und agieren. Was er zeigt, führt er in einer nicht nur gut lesbaren, sondern auch immer wieder ins Literarische reichenden Sprache vor. Die tritt ihrerseits nicht an die Stelle von Beobachtungen und Gedanken, sondern verleiht diesen nur feinsinnigen Ausdruck.
Meinerseits fand ich in diesem Buch vieles von innen her verständlich gemacht, was ich bei meinen eigenen Beobachtungen der PEGIDA-Demonstrationen zwischen dem 8. Dezember 2014 und dem 25. Januar 2015 sowie bei der Analyse der Befragungsdaten aus meinen PEGIDA-Studien vom 25. Januar und vom 25. April bzw. 4. Mai 2015 von außen her zu begreifen versuchte. Keine meiner damaligen und seitherigen Feststellungen meine ich nach Lektüre dieses Buches revidieren zu müssen. Doch gar nicht Weniges sehe ich nun klarer – ja fange an, einiges mir bislang Unklare überhaupt erst zu verstehen. Dazu gehört vor allem jene Langmut, mit der PEGIDA-Gänger auch ganz furchtbare Reden über sich ergehen lassen, und obendrein jene Mischung aus entladungsbereitem Zorn und nicht nur (!) hämischer Heiterkeit, die mich bei PEGIDA im letzten Winter überraschte, deren innere Ordnung sich mir aber nicht erschloss.
Doch um meine Einsichten aus diesem Buch soll es hier gar nicht gehen. Derlei möge jeder ganz für sich gewinnen. Zu empfehlen ist dieses Buch vor allem jenen, die sich nicht erklären können, warum – „angeblich“ – ganz normale Leute „jemandem wie Bachmann hinterherlaufen können“.
Nicht zu empfehlen ist die Lektüre des Buches aber allen, die sich ihr Feindbild von Pegidianern als allesamt Rassisten und Nazis, Ratten und Mischpoke, sich immer weiter radikalisierendem Abschaum mit Kälte und Hass im Herzen aufrechterhalten wollen – sei es aus mangelnder Neugier, sei es wegen unzulänglichen Informationszugangs, sei es als unversiegbare Quelle von Abwehrmotivation.
Solche aber scheinen jenem Philosophen und jenem Mathematiker zu gleichen, die Bertolt Brecht im 4. Bild seines „Leben des Galilei“ auftreten lässt (in der Suhrkamp-Ausgabe: v.a. S. 45-49). Galilei bittet sie, doch einfach durch das vor ihnen aufgebaute Fernrohr zu blicken, um sich von der Existenz jener Jupitermonde zu überzeugen, angesichts welcher sich das hergebrachte Ptolemäische Weltbild nicht mehr aufrechterhalten lässt. Die beiden – und andere beigezogene Autoritäten auch – weigern sich aber, das im Wortsinn Offensichtliche zur Kenntnis zu nehmen, indem sie Argumente wie die folgenden vorbringen:
Der Mathematiker: „Es ist Ihnen [= Galilei] natürlich bekannt, dass nach Ansicht [von] … [folgende Sachverhalte, nämlich Sterne mit Bahn um einen anderen Himmelskörper als die Erde] nicht möglich sind […]?
Der Philosoph: „Und, ganz absehend von der Möglichkeit solcher Sterne, die der Mathematiker … zu bezweifeln scheint, möchte ich in aller Bescheidenheit … die Frage aufwerfen: sind solche Sterne nötig?“
Drauf Galilei:; „Wie, wenn … [Sie] die sowohl unmöglichen als auch unnötigen Sterne nun durch dieses Fernrohr wahrnehmen würden?“
Nun wiederum der Mathematiker: „Man könnte versucht sein zu antworten, dass Ihr Rohr, etwas zeigend, was nicht sein kann, ein nicht sehr verlässliches Rohr sein müsste, nicht? … Es wäre doch viel förderlicher, Herr Galilei, wenn Sie uns die Gründe nennten, die Sie zu der Annahme bewegen, dass … [es solche Sterne geben könnte]. … [Und sehr wohl] könnte man sagen, dass, was in Ihrem Rohr ist und was am Himmel ist, zweierlei sein kann“.
Man ersetze einfach „Rohr“ durch „Buch“, die „Sterne“ durch „nicht-rassistische, nicht-faschistische, nicht-rechtsradikale Pegidianer“. Dann könnte es möglich sein, dass der eine oder andere durchaus erkennt, was Brecht in dieser Szene über vorgefasste Meinungen und machtgestützte Sichtweisen in zweifellos kritischer Absicht ausdrücken will – und was selbst dann gültig bleibt, wenn der umstrittene Gegenstand nicht die Existenz von Jupitermonden (und somit: das Ptolemäische Weltbild) ist, sondern die Eigentümlichkeit des PEGIDA-Phänomens (und somit: ein sachangemessener Verständnis- und Erklärungsrahmen).
Wäre die westliche intellektuelle und politische Welt in der Engstirnigkeit von Galileis Kritikern befangen geblieben, hätten wir niemals Raumsonden auf dem Jupiter oder auf dem Kometen Tschuri landen können. Und bleibt die heutige intellektuelle und politische Welt in Bezug auf das PEGIDA-Phänomen in der Engstirnigkeit der im letzten Herbst rasch zusammengebauten und seither liebgewonnenen Deutungsmuster befangen, so wird jenes politisch-kulturelle Magma, das zuerst in Dresden seinen – wider mein Erwarten eben doch nicht erloschenen – Vulkanschlot gefunden hat, auch aus anderen Teilen unseres Landes phlegräische Felder machen. Das aber sollten wir nicht wollen.
Und wer meiner Lesart des Buches von Sebastian Hennig – warum auch immer – nicht trauen will, der lese einfach dessen Besprechung durch Michael Bittner auf dessen Blog: http://michaelbittner.info/2015/10/28/pegida-von-innen-die-chronik-spaziergaenge-ueber-den-horizont-von-sebastian-hennig/. Dort liest man, unter anderem, ein- und ausleitend das Folgende:
„Und die Lektüre lohnte sich. Sebastian Hennig ist ein kluger und gebildeter Mann, der einen gepflegten Stil nicht ohne Witz schreibt. Das Buch schildert chronologisch nahezu alle PEGIDA-Aktionen des vergangenen Jahres. Vor allem aber bietet der Band einen bemerkenswert ungeschönten Einblick in die Gedankenwelt eines intellektuellen PEGIDA-Anhängers, wie er so bislang wohl noch nirgends zu finden war. … Sebastian Hennig hofft, mit seinem Buch die PEGIDA-Bewegung verständlicher zu machen und gleichzeitig zu stärken. Das Erste ist ihm gewiss gelungen. Populärer machen wird er PEGIDA hingegen gerade deswegen nicht. Denn in seiner mutigen Ehrlichkeit eröffnet er einen Blick auf die Schwäche und den Wahn, die dieser ganzen Bewegung eigen sind.“
Bildquelle: http://www.arnshaugk.de/index.php?v=0&korb=&autor=Hennig,%20Sebastian