Auswege aus der Sackgasse
Werner J. Patzelt
Auswege aus der Sackgasse. Deutschland und seine Einwanderer
Bisweilen gibt es „Entwicklungen in eine Sackgasse“ oder „regulative Katastrophen“. Ersteres meint, dass es zur dauerhaften Übernutzung verfügbarer Ressourcen kommt. Entweder orientiert sich ein auf solche Wege geratenes System dann neu, etwa eine Firma oder ein Staat, oder es kommt zum Systemzusammenbruch. Der korrigiert eine nicht länger aufrechterhaltbare Entwicklung. Es scheint, als werde Deutschlands Einwanderungspolitik, wenn sie übers Hinnehmen und Verwalten nicht bald hinausgeht, in einer solchen Sackgasse enden. Jedenfalls sind wir dabei, die Grenzen der Aufnahmefähigkeit unseres Landes sowie europäischer Solidarität zu testen. Das ist töricht. Doch weil diese Torheit gutem Willen entspringt, ist sie schwer zu überwinden.
Es genügt, das Panorama migrationspolitischer Herausforderungen nur knapp zu umreißen. Die Probleme reichen vom Streit von Geflüchteten untereinander bis zu deren Protest gegen unerwartet schlechte Lebensbedingungen in Deutschland. Hinzu kommen Übergriffe aus der ansässigen Bevölkerung auf Unterkünfte von Migranten. Jetzt schon zeichnen sich Verteilungskonflikte ab zwischen Geflüchteten und unseren Unterschichten, die von den Folgen der Einwanderung hauptsächlich betroffen sind. Gleiches vollzieht sich zwischen lohnsteuerpflichtigen Arbeitnehmern und den unternehmerischen Profiteuren des Migrationsgeschehens, etwa den Vermietern, Caterern, Bauunternehmern, Rechtsanwälten. Allein in diesem Jahr gibt Deutschland für die Unterbringung und Versorgung von Geflüchteten einen zweistelligen Milliardenbetrag aus. In wirtschaftlich guten Zeiten ist er vom Steueraufkommen gedeckt. Doch in schlechteren Zeiten muss derlei Geld durch – eigentlich verbotene – Neuverschuldung oder durch Einsparungen anderswo aufgebracht werden. Das erdet dann ethische Forderungen.
Solche Verteilungskonflikte, gerade wenn unter dem Feldzeichen der Gerechtigkeit geführt, verbinden sich rasch mit ethnischen und kulturellen Konflikten. Reale Streitgegenstände mästen alsbald Rechtsradikalismus und Xenophobie, locken Demagogen und Gewalttäter an. Unterdessen erodieren Hilfsbereitschaft und Willkommenskultur. Absehbar wird mancher Konflikt in Gewalt umschlagen, nicht immer mit der Polizei als Prellbock in der Mitte. Anschließend wird unsere Gesellschaft einen Großteil ihrer Liberalität verloren haben. Auch wird das innenpolitische Klima vergiftet sein vom Streit zwischen denen, die – angeblich oder wirklich – vor alledem gewarnt haben, und jenen, die derlei als dumm oder rassistisch abtaten. Derweil breitet sich Empörung aus über Politiker, die das alles nicht verhindern konnten oder weiterhin verkennen. Das führt erst zu Demonstrationen wütender Bürger, später zum Großwerden von Protestparteien, am Ende zur Instabilität von Regierungen. Irgendwann kommt es zu Zweifeln am Sinn von Demokratie.
Vieles davon widerwillig ahnend, wünschen wir uns ein Versiegen der Quellen jetziger Flüchtlingsströme. Wir träumen davon, andere Staaten würden einen Großteil der Geflüchteten aufnehmen oder sonstwie von uns fernhalten. Wir bilden uns ein, die Asylverfahren könnten in unserem Rechtsmittelstaat rasch zu Ende kommen, und die Abgelehnten würden nach amtlicher Mitteilung wie von selbst das Land verlassen. Wir hoffen, die Bleibenden würden rasch mit uns zusammenwachsen und unsere freiheitliche Kultur mittragen. Wir bauen darauf, dass Einwanderer die durch unsere Kinderarmut gerissenen demographischen Lücken schließen, Qualifikationen für die zu besetzenden Arbeitsplätze mitbringen oder erwerben, Steuern bezahlen, Sozialabgaben leisten, zum selbstverständlichen Teil einer solidarischen Gesellschaft werden. Und wir zählen darauf, einige Milliarden mehr an Hilfsgeldern könnten in Syrien und Afghanistan, in Libyen und im subsaharischen Afrika doch noch jene politische Stabilität und wirtschaftliche Prosperität schaffen, die jahrzehntelange Entwicklungspolitik gerade nicht herbeigeführt hat.
Wie schön wäre das alles! Doch wie realistisch? Und vor allem: Was könnten wir jetzt für eine hoffentlich gute Entwicklung tun? Das ist gar nicht wenig. Das meiste galt vor einem Jahr noch als undenkbar. Manches wird jetzt konkrete Politik. Mehr wird wohl in wenigen Monaten folgen. Und mir scheint, dass wir vor allem über die folgenden Weichenstellungen diskutieren sollten.
Deutschland legt fest, und sei es durch Richterspruch nach einem verfassungsgerichtlichen Verfahren, dass es nicht verpflichtet ist, jeden asylbegehrenden Menschen zur Durchführung einer Prüfung auf Bleiberecht ins Land zu lassen. Auch finden wir rechtskonforme Verwaltungsverfahren, die solche Verringerung der Einwanderung in der Praxis wirksam machen. Zudem geben wir uns ein Einwanderungsgesetz, das für ein Recht auf Einwanderung klare Kriterien definiert, und setzen dieses Gesetz einwanderungskanalisierend um.
Unser Land unterlässt fortan Außenpolitik, die in stabilen Diktaturen zum Systemzusammenbruch oder zu Bürgerkriegen führt und dadurch Flüchtlingsströme auslöst; es wirkt auch auf entsprechendes Verhalten seiner Verbündeten hin. Deutschland arbeitet darauf hin, dass EU und UNO sowie reiche arabische Ölstaaten Sammellager für (Bürger-) Kriegsflüchtlinge so nahe wie möglich an deren Heimatregionen errichten und außerdem so gut finanzieren, dass dort – für die Zeit des Fortbestehens der Fluchtursachen – ein menschenwürdiges Leben möglich wird. Wir setzen Ähnliches auch an den Außengrenzen der EU für Geflüchtete aller Art durch. Zudem stellen wir sicher, dass von dort aus entweder eine Rückführung in die Herkunftsländer oder eine Weiterverteilung in für sie vorgesehene EU-Staaten vollzogen wird.
Außerdem ermutigt und unterstützt Deutschland die Grenzstaaten der EU beim Versuch, ihre Außengrenzen gegen selbstermächtigte Zuwanderung zu schützen. Vor allem verzichten wir auf grundsätzliche Kritik an EU-Staaten, die ihre nationalen Außengrenzen selbständig sichern, solange es keinen verlässlichen Schutz der EU-Außengrenzen gibt. Zudem unterlassen wir Versuche, anderen EU-Staaten unsere eigene Asylpolitik aufzuzwingen – etwa über ein dauerhaftes Quotensystem. Des weiteren setzen wir jene Leistungen für Flüchtlinge und Asylbewerber herab, die ihnen ein anderes Zielland als Deutschland als unzumutbar erscheinen lassen. Das machen wir auch im Ausland bekannt.
Obendrein beschleunigt unser Land künftige wie hängende Asylverfahren und gewährleistet eine rasche sowie vollständige Rückführung jener Geflüchteten, die kein Bleiberecht in Deutschland haben. Auch erkunden wir so verlässlich wie möglich den Ausbildungsstand und Bildungsgrad von ins Land gelangenden Asylbewerbern und Flüchtlingen, um sie – nach Feststellung eines Bleiberechts – zielgerichtet in jenen Regionen Deutschlands anzusiedeln, wo sie Chancen auf Arbeitsplätze haben. Ferner sorgen wir für ein flächendeckendes Angebot von Sprach- und Weiterbildungskursen. Dabei stellen wir sicher, dass es wirkungsvolle Anreize gibt, binnen kurzem ausreichend Deutsch zu lernen sowie sich so zu qualifizieren, dass man in den Arbeitsmarkt oder in unsere ehrenamtlichen Strukturen integriert werden kann – und auch integriert werden will.
Insgesamt machen wir nicht die Aufnahme, sondern die Integration von Geflüchteten zum vorrangigen nationalen Ziel. Dabei behaupten wir nicht einfach, dass wir es mit gutem Willen schon irgendwie erreichten, sondern erörtern präzis, wie wir das in Anbetracht realer Umstände schaffen können. Um das für die erforderlichen Maßnahmen nötige Geld einzunehmen, erhöhen wir die Steuern für Spitzenverdiener sowie die Lebensarbeitszeit. Wir überprüfen zum Zweck von Nachbesserungen, ob – und wo – der Mindestlohn als zu hohe Schwelle für den Eintritt von Migranten in den Arbeitsmarkt wirkt.
Vor allem weichen wir nicht länger Debatten darüber aus, welche kulturellen Veränderungen unseres Landes wirklich mit dem Umbau unserer Bevölkerungsstruktur einhergehen sollen, welche anderen es aber zu unterbinden gilt. Deshalb führen wir eine ernstliche Diskussion darüber, was für kulturelle Selbstverständlichkeiten – über die Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung hinaus – in Deutschland noch in dreißig oder vierzig Jahren gelten sollten. Das schließt eine Debatte darüber ein, wie weit aus einem „deutschen Volk“ eine „Bevölkerung Mitteleuropas auf deutschem Staatsgebiet“ werden soll; welche unserer Nachbarländer uns auf welchem Weg wohl begleiten wollen; und was für Folgerungen aus Antworten auf diese Fragen für die Zukunft der EU zu ziehen sind – gerade von Deutschland als deren einflussreichstem Land. Und auf Klärungen all dessen gründen wir in redlicher Absicht eine möglichst über Jahrzehnte bestandsfähige Willkommens- und Integrationskultur.
Optimistisch ob einer Nutzung jener Chancen, die uns die Einwanderung eben auch bietet, können wir genau dann sein, wenn wir alle diese Maßnahmen bald ergreifen – und sie ab sofort ohne prinzipienreiterische Vorabfestlegungen erörtern. Und am besten lassen wir uns nicht darauf ein, in absehbarer Zeit auf die harte Tour lernen zu müssen, was wir jetzt noch nicht lernen wollen.
Bildquelle: http://i.huffpost.com/gen/2593762/images/o-EINWANDERUNG-facebook.jpg