Masseneinwanderung: Fragen über Fragen
(ursprünglich erschienen in: Junge Freiheit, Nr. 39/15, 18. September 2015, S. 18)
Um den Wandel unseres Landes zu einer Einwanderungsgesellschaft tobt Streit. Wichtiges kann man für solchen Wandel ins Feld führen. Wir brauchen qualifizierte Einwanderer, wenn wir angesichts des Geburtenrückgangs unsere Wirtschaft leistungsfähig, dünnbesiedelte Gebiete bewohnt, das Steueraufkommen am Sprudeln halten wollen. Vielleicht wird unser Land gar bereichert – wie einst, als die Franken nach Sachsen und die Hugenotten nach Preußen kamen. Doch es gibt auch fiese Motive. Mancher wünscht, durch zahlreiche Einwanderung das Deutsche an Deutschland auszudünnen. Oder man will „zurückgebliebene Ossis“ durch Ansiedelung von Migranten zwangsmodernisieren. Oder Nationen und Grenzen ohnehin abschaffen – weil es ja nur Menschen, nicht aber obendrein Gesellschaften mit bewahrenswerter Kultur gäbe.
Heftige Debatten um so großen Wandel sind normal. Sie sind auch wünschenswert, denn sie halten Demokratie lernfähig. Doch wenig hilfreich ist es, wenn sie wie Glaubenskriege geführt werden und die einen nur von schlimmen Folgen hören wollen, die anderen aber nicht wahrhaben mögen, dass auch eine rein humanitär motivierte Einwanderung Tiefgreifendes mit unserem Land geschehen lässt. Derlei aber bedarf der Legitimation durch Kommunikation. Leider beteiligt sich mancher an solchen Diskussionen wie ein Psychotherapeut am Gespräch mit halluzinierenden Patienten: Er erwartet nichts als Wahnvorstellungen in Antwort auf die Frage, welche – angeblich gar großen – Veränderungen wohl auf uns zukämen.
Dabei sind die offensichtlich. Es ist die Einwanderung von Hunderttausenden, die nicht unsere Sprache sprechen, mit Qualifikationen unklarer Passung zu unserem Arbeitsmarkt ausgestattet sind, fühlbare kulturelle Differenzen sowohl untereinander als auch zur aufnehmenden Gesellschaft mitbringen. Gesellschaftlicher Zusammenhalt stellt sich da nicht wie von selbst ein. Und wir wollen diese Leute – anders, als das oft im Nahen Osten geschieht – ja nicht jahrelang in Lagern festhalten und sich selbst überlassen, sondern sie auf Dauer in unserem Land ansiedeln.
Dabei geben wir besser die Hoffnung auf, das Fehlen eines Bleiberechts würde bei den meisten zur Ausreise oder zur Abschiebung führen. Warum auch sollte jemand Deutschland ohne Zwang verlassen, der – mühsam genug – erst einmal hergelangt ist? Warum sollte die tonangebende Öffentlichkeit jetzt plötzlich Rückführungen wider Willen für normal halten – zumal, wenn nach kunstvoll verzögerten Anerkennungsverfahren Einwurzelung vor Ort gelungen ist? Zwischen dem rechtlich Vorgesehenen und dem praktisch Vollzogenen liegt jedenfalls ein weiter, politisch oft nicht gangbarer Weg. Deshalb wird weiterhin meist gelten: Wer kommt, der bleibt. Am Ende macht es wenig aus, ob jemand als Bürgerkriegsflüchtling, Asylbewerber oder jemand kam, der hier einfach ein besseres Leben suchte.
Auf diese Weise kamen 2014 weit über 200.000 Personen, kommen heuer wohl über 800.000, und dürfte das in ähnlichen Dimensionen noch jahrelang weitergehen. Wer will denn wirklich glauben, es schwänden die Ursachen für den Migrationsdruck? Es werden ja die Kriege und Bürgerkriege um Europa herum so schnell nicht aufhören. Es werden auch in Afrika nicht so bald gute, gemeinwohlorientierte Regierungssysteme entstehen. Also werden zahlungskräftige afrikanische Eltern ihren Nachwuchs weiterhin auf die gefährliche Reise nach Europa schicken. Dort winkt ihnen ja besseres Leben samt Familiennachzug solange, wie es um Europa noch gut bestellt ist. Wer mag ihnen solche Wanderungswünsche auch verdenken? Als die Europäer in die Neue Welt aufbrachen, haben sie sich auch nicht den Kopf darüber zerbrochen, was ihre Ankunft aus den eingesessenen Kulturen machen würde!
Und kann sich jemand vorstellen, es ließe sich innenpolitisch eine solche Änderung der Lebensverhältnisse für Immigranten durchsetzen, die jene abschreckte, die nicht pure Gefahr für Leib und Leben zu uns führt? Passte es auch wirklich zu uns, Dauerlager wie im Nahen Osten einzurichten und – wie im Fall der einstigen Flüchtlinge aus Palästina – den Insassen eine Art „generationenübergreifender Zwischenexistenz“ aufzuzwingen? Das wird keiner wollen. Also geht es eben doch um die die Ansiedelung von vielen Hunderttausenden, wenn nicht bald einigen Millionen Einwanderern nach Deutschland, die wir weder gerufen noch ausgewählt haben.
Falls wir dann keine geschlossenen Siedlungsgebiete von Einwandererethnien wollen, was zur Parallelgesellschaftlichkeit samt anschließenden ethnischen Konflikten führen dürfte, stellt uns das vor wahrlich große Integrationsaufgaben. Die Faustregel ist einfach: Wo wenige von vielen zu integrieren wären, etwa 1.000 neue Einwohner in einer Großstadt wie Dresden, dort stehen schwerlich Probleme ins Haus; wo aber viele von vergleichsweise wenigen zu integrieren sind, etwa 10.000 in der dünnbesiedelten Oberlausitz, dort wird es schon schwieriger. „Dezentrale Unterbringung“ klingt deshalb einfacher, als die Herausforderung wirklich ist. Außerdem handelt es sich nicht um derart niedrige Zahlen – und ist solche Einwanderung kein einmaliges Ereignis, sondern dürfte sich Jahr für Jahr wiederholen, solange Europas Umfeld unsicher und die EU-Außengrenze durchlässig ist.
Was wird wohl, wenn die Einwanderer sich längere Zeit schwertun, dort ihren Lebensunterhalt selbst zu erwerben, wo auch ein Großteil der eingesessenen Bevölkerung keine Arbeit findet? Was wird, wenn unsere Gesellschaft zugleich den – an sich lobenswerten – Anspruch erhebt, erwerbslose Einwanderer in unserem sozialstaatlichen Umverteilungssystem nicht schlechter zu stellen als jene, die aus den Reihen langjähriger Mitbürger in die Arbeitslosigkeit und an den unteren Rand unserer Lebensverhältnisse abgestiegen sind? Was wird, wenn jene, die Arbeit haben und nicht durch Kapitalflucht der Besteuerung entgehen können, sich alsbald mit den Einwanderern in einem Verteilungskonflikt sehen, von dem sie nichts als Verluste befürchten?
Mancher meint, oft gar das rein Hoffnungsmäßige dieser Annahme fühlend, nachhaltige Integration wäre dadurch zu erreichen, dass sich eben alle zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennten. Die ist tatsächlich eine wichtige Klammer von uns, die wir auf eigene Art leben und unterschiedlich denken wollen. Ihre Prinzipien könnten auch allen Leuten mit einiger Herzens- und Verstandesbildung einleuchten, denn sie reichen vom Willen, stets die Menschenwürde zu achten, bis zur Bereitschaft, auch politisch ganz anders Denkende zu akzeptieren. Zu den Tatsachen gehört aber, dass die freiheitliche demokratische Grundordnung sehr viele überhaupt nicht kümmert, sondern Ideologie oder Religion ihnen weit wichtigere Orientierungspunkte sind. Die Akzeptanz einer zugleich wertgebundenen und weltanschaulich neutralen, obendrein pluralistischen und demokratischen Ordnung ist nämlich eine höchst seltene Frucht von Kulturen, die mit ihren geschichtlichen Erfahrungen etliches Glück hatten. Sie ist aber nichts, was durch Fordern oder Verordnen wächst.
Außerdem kann Menschen viel mehr verbinden als eine bloß politische Grundüberzeugung. Tatsächlich wünschen sich gar nicht wenige viel mehr an Gemeinsamkeiten als den – oft nur lippenbekenntnishaften – Glauben an freiheitliche Demokratie. Viel wichtiger sind ihnen eine gemeinsame Sprache oder jene geteilten – oder immerhin wechselseitig in Rechnung gestellten – Selbstverständlichkeiten, die man eine „Kultur“ nennt. Das ist im Übrigen der oft verkannte Unterschied zwischen der einstigen Integration von geflüchteten und heimatvertriebenen Deutschen in unser zerstörtes Land und der heutigen Aufnahme von Leuten aus aller Welt, die sich selbst zur Einwanderung ermächtigen. Die ersteren gehörten zu einem sich längst als zusammengehörig empfindenden Volk, beherrschten eine gemeinsame Sprache und teilten oft ähnliche Selbstverständlichkeiten. Selbst da aber brauchte es noch oft genug die eiserne Faust der Militärregierungen, um die Eingesessenen zum Zusammenrücken und Teilen anzuhalten.
Doch in vielen Reden zum Einwanderungsgeschehen fehlt nachgerade dröhnend, wie wir es wohl schaffen könnten, über durchgesetztes Recht und die Nebenwirkungen von Sprachkursen hinaus zu gemeinsamen kulturellen Selbstverständlichkeiten mit den baldigen Neubürgern zu gelangen. Dabei geht es um höchst Konkretes. Soll, wer dauerhaft in unser Land kommt, im Wesentlichen das übernehmen, was – über die freiheitliche demokratische Grundordnung hinaus – bei uns üblich ist, sozusagen von der Mülltrennung bis zur Verantwortung für die Folgen deutscher Staatsverbrechen? Oder soll sich die in Deutschland praktizierte (Leit-) Kultur ihrerseits verändern? Wenn ja: in welchen Bereichen? In welchem Schrittmaß? Und wenn ein Großteil der in Deutschland Lebenden derlei nicht will: Was machen wir dann – gerade, wenn wir die freiheitliche demokratische Grundordnung samt Mehrheitsprinzip und Recht auf Opposition nicht antasten wollen? Sollen die Stimmen von „Dunkeldeutschland“ dann zugunsten derer von „Lichtdeutschland“ lieber gewichtet als gezählt werden?
Wer genauer hinschaut, der erkennt: Das sind wirklich keine geringen Herausforderungen. Sie uns als praktische – und nicht als rein fiktive – Probleme sogar noch selbst aufzuladen, ist durchaus keine Kleinigkeit. Keine der traditionellen Einwanderernationen war denn auch je bereit, eine so große Anzahl von Zuwanderern Jahr für Jahr ohne Einzelfallentscheidungen darüber aufzunehmen, wer von den Einwanderungswilligen mit welchen mitgebrachten Qualifikationen wohl ins Land passte und somit kommen durfte. Wohl deshalb funktionierte dort die Integration von Einwanderern ziemlich gut.
Wir aber wollen das ganz anders halten. Jeder soll uns unterschiedslos willkommen sein. Auf diesen ethisch höchst anspruchsvollen und in der Welt wirklicher Menschen deshalb sehr eigenartigen Ansatz der Einwanderungspolitik sind zumal die gebildeteren und bessergestellten Kreise unseres Landes auch ziemlich stolz. Das wiederum mutet sehr, sehr deutsch an – gerade so, wie es die folgende, in früheren Zeiten oft ironisch zu hörende Redewendung ausdrückt: „Deutsch sein heißt, eine Sache ihrer selbst willen tun!“ Tatsächlich scheinen gar nicht wenige die Einwanderung vor allem um der Einwanderung willen zu schätzen, also der Idee und des schönen Prinzips wegen – und nicht als Mittel zu Zwecken, die sich, wie der Schutz vor politischer Verfolgung oder vor Kriegen, auch anderweitig oder außerhalb Deutschlands erfüllen ließen.
Trefflich findet sich unsere da zum Ausdruck kommende Gesinnung in den Schlusszeilen von Emanuel Geibels Gedicht über „Deutschlands Beruf“ in folgende Worte gefasst: „Und es mag am deutschen Wesen / einmal noch die Welt genesen“. Zeugt unsere Einwanderungspolitik nicht von derlei Übermut? Vom weiterhin bestehenden ethischen Hochmut einer Nation, die sich – und sei es im Reuestolz – seit langem wieder als moralisch besser dünkt denn ihre Nachbarn? Von Arroganz gegenüber jenen, die es mit der Einwanderung anders halten, also – gemessen an deutschen Maßstäben – ganz einfach falsch und inhuman? Ist unsere Einwanderungspolitik womöglich eine Art „idealistischer Jugendstreich“, den sich ein erfahrenes Land besser ersparte?
Über das alles lässt sich trefflich streiten. In naher Zukunft werden wir sehen, wohin das alles führt – und wer mit seinen Einschätzungen eher richtig lag oder sich irrte. So mancher ist ob der realen Folgen unserer mit so viel moralischem Überlegenheitsgefühl betriebenen Einwanderungspolitik zutiefst besorgt. Und wäre überaus glücklich, wenn er sich täuschen würde.
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