Die Krisen von 2015 und 2020: ein Vergleich

Die Krisen von 2015 und 2020: ein Vergleich

2015 und 2020 wird man wohl erinnern als jene Jahre, in denen Deutschland die größten innenpolitischen Krisen nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte. Die Auslöser dieser Krisen waren nicht eingebildet, sondern ganz real: 2015 Migrationsdruck, dem nichts entgegengesetzt wurde, und 2020 die Ausbreitung eines Virus, gegen die entschlossen angegangen wurde. Und weil das Handeln der Regierung sehr verschieden war, fielen auch die innenpolitischen Folgen ganz unterschiedlich aus: 2015 spaltete die Bevölkerung, 2020 einte sie. Um das alles zu verstehen, lohnt ein näherer Blick.

Im Nachhinein scheint in Politik und Medien sich eine Art Reue ob des eigenen Verhaltens vor fünf Jahren eingestellt zu haben. Jedenfalls hörte man aus diesen Kreisen seit etlichen Monaten: „2015 darf sich nicht wiederholen!“ Dabei hatten Bundesregierung, Medien und Zivilgesellschaft im Herbst 2015 wochenlang den Eindruck verbreitet, Deutschland erlebe gerade seine größte und schönste Stunde. Tatsächlich praktizierte man allenthalben im Land der einstige Richter und Henker eine bedingungslose Willkommenskultur. Getrübt wurde sie, so ein weit verbreiteter Konsens, nur von allzu vielen Rassisten, die meist im „dunkeldeutschen“ Landesteil hetzten und attackierten. Und doch widersprach kaum jemand dem Gebot, ein weiteres „2015“ nie mehr zuzulassen. Anscheinend erwies sich doch nicht alles aus jenen Monaten als gut, in denen Deutschland um fast jeden Preis ein freundliches Gesicht zeigen wollte.

Jetzt, im März 2020, hat sich „2015“ durchaus nicht wiederholt. Einerseits waren die allermeisten Leute im Land, wenn vielleicht auch schlechten Gewissens, darüber ziemlich froh, dass Griechenland wirkungsvoll seine Grenzen gegen jene Flüchtende sicherte, welche die Türkei so gern auf EU-Territorium gelangen lassen wollte. Das unterschied sich doch sehr von 2015, als Ungarns Aufbau eines Grenzzauns hin zu Kroatien wie ein verwerflicher Ausdruck von Menschenfeindlichkeit hingestellt wurde. Andererseits gibt es keinerlei Protest dagegen, dass – ebenso wie viele andere Staaten – auch Deutschlands Regierung nun genau das tut, was sie 2015 unter breiter medialer und zivilgesellschaftlicher Zustimmung für sowohl rechtlich als auch sachlich ganz unmöglich erklärt hatte: nämlich Einreiseverbote verhängen, Grenzen kontrollieren, sogar die humanitäre Flüchtlingsaufnahme aussetzen.

In jeder Hinsicht geschieht also das Gegenteil von damals. Und anders als 2015 gibt es heute weder sonderliche Kritik am aktuellen Regierungshandeln noch eine durch es bewirkte Polarisierung in unserer Gesellschaft. Den führenden Politikern kommt jedenfalls kaum jemand mit Protest und Verachtung, sondern fast jeder mit Disziplin und Respekt – und das, obwohl Politikerentscheidungen derzeit unser Alltagsleben viel mehr verändern, als dies damals die täglich Tausende von Migranten bewirkten. Warum ist das so?

Erstens leuchtet die heutige Politik, anders als die damalige, so gut wie allen ein. Es ist ganz offensichtlich vernünftig, sich gegen politische Erpressungsversuche durch Aufbau von Migrantendruck an der EU-Außengrenze dadurch zu wehren, dass man Grenzüberschreitungen unmöglich oder wertlos macht. Ebenso ist es höchst vernünftig, die Ausbreitung eines Virus – bis hin zur Überforderung unseres Gesundheitssystems – auch mit sehr einschneidenden Maßnahmen zu verlangsamen. 2015 aber leuchtete es sehr vielen überhaupt nicht ein, Europas Grenzen für schlechterdings unschützbar zu erklären und jedem, so er nur wollte, ein in der Praxis schwer wieder zu nehmendes Aufenthaltsrecht im deutschen Sozialstaat einzuräumen. Auch würde es 2020 niemandem einleuchten, dem neuen Corona-Virus in der Haltung jenes Gleichmuts zu begegnen, den wir angesichts der jährlichen Grippewellen mit ihren stets vielen Toten an den Tag legen. Sowohl in den Augen eines Großteils der Bevölkerung als auch hinsichtlich von realen Auswirkungen ist die Politik von 2020 wirklich sehr viel plausibler, als es die von 2015 war. Allenfalls mag man monieren, dass manche Maßnahmen zu spät kamen, halbherzig ausfielen oder – wie das Abbremsen öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens – nicht nachhaltig sein können. Doch das ist, anders als 2015, Kritik am Detail, nicht an der Grundrichtung derzeit erforderlicher politischer Maßnahmen.

Zweitens überlastete sich 2015 vor aller Augen unser Verwaltungsstaat. Letztlich delegierte die Regierung an die – dann vorbildlich hilfsbereite – Zivilgesellschaft, was sie selbst leichtfertig an staatlich nicht zu bewältigenden Herausforderungen verursacht hatte. Das empfanden nicht nur viele als unfair, sondern solches Regierungshandeln untergrub bei nicht minder vielen auch noch das Vertrauen in unseren Staat und die ihn leitenden Parteien. Als Folge kam es zum Aufstieg der AfD, gerade in den neuen und ohnehin systemkritischeren Bundesländern, sowie zum Erstarken von grundsätzlichem Anti-System-Protest quer übers ganze Land. 2020 hingegen handelten Regierung und nachgeordnete Behörden ziemlich zeitnah, durchaus drastisch und klar durchsetzungswillig. Der Staat stellte sich also der von ihm zu tragenden Verantwortung. Er tat dies außerdem ohne Panikmache oder Beimengung von hohlem Pathos. Das alles stärkte das Vertrauen in unseren Staat und das Regierungshandeln. Also ist die Bürgerschaft nun auch recht klaglos bereit, das Ihre zur Stabilisierung und Bewältigung der Lage beizutragen, nämlich durch vielerlei Verzicht und durch Selbstdisziplin. Also ist es auch kein Wunder, dass – anders als 2015 – die traditionell Exekutivmacht ausübenden Parteien sich nun im demoskopischen Aufwind befinden, nicht aber im Ansehensverfall zugunsten ihrer populistischen Konkurrenz.

Drittens unterblieb 2020 jeder Versuch, das politisch Gewollte oder zumindest Hinzunehmende ethisch so aufzuladen, dass Kritik oder gar Widerstreben als schlechterdings unmoralisch erscheinen konnten. Bei den Debatten um die Anti-Corona-Politik geht es tatsächlich nicht um „gut“ gegen „schlecht“, sondern um „wirksam“ gegen „vergeblich“. Das war 2015 sehr anders. Gerade das Unplausible an der damaligen Migrationspolitik wurde nämlich als ethisch zwingend geboten hingestellt. Umgekehrt wurden allein schon Zweifel an der Plausibilität oder Durchhaltbarkeit des Regierungshandelns als Ausdruck einer menschenfeindlichen Grundhaltung denunziert – mit der Folge, dass nicht die Zweifel erörtert, sondern die Zweifler ausgegrenzt wurden. Heute hingegen kann man sachlich über die Tauglichkeit oder Angemessenheit ergriffener Maßnahmen streiten und führen Einwände durchaus nicht zum Ausschluss dessen, der sie erhebt, aus den Reihen der „Anständigen“. Eine sachlich plausible Politik trifft nun einmal auf viel weniger Kritik als eine sachlich unplausible Politik, und deshalb muss dem Wunsch, solche Politik zu führen oder gar zu verschärfen, auch nicht mit Moral- und Verleumdungskeulen der Weg freigeprügelt werden.

„2015“ hat sich also wirklich nicht wiederholt, und das ist gut so. Vielleicht haben viele Verantwortliche in Politik, Medien und Zivilgesellschaft aus den Fehlern von damals gelernt. Vielleicht lassen sich im Alltag unsichtbare Viren schlicht einfacher wie gefährliche Eindringlinge abwehren als Mitmenschen unseresgleichen, die nur nicht das – unsererseits ganz unverdiente Glück – haben, in Beinahe-Paradiesen wie den gut funktionierenden Teilen Deutschlands zu leben. Und vielleicht war es auch bloß so, dass die Konjunkturen massenmedialer Meinungsbilder 2020 unsere Regierung in eine vernünftige Richtung wiesen, 2015 aber leider auf Abwege trieben.

Die Corona-Krise wird hoffentlich in einigen Wochen oder in wenigen Monaten soweit überwunden sein, dass der gewohnte Alltag wieder einkehrt. Vielleicht haben wir dann gemerkt, dass mancherlei Verzicht auch einen Mehrwert an Lebensqualität bescheren kann. Der Migrationsdruck auf die See- und Landgrenzen der EU wird hingegen nicht abnehmen. Auch werden die Folgen bisheriger Masseneinwanderung, welcher nicht nur in Deutschland oft keine gelingende gesellschaftliche Integration folgt, immer wieder in erschreckenden Alltagserlebnissen vor Augen geraten. Unser politisch-kulturelles Klima wird vergiftet bleiben durch die Folgen jener innenpolitischen Polarisierung, die unsere Gesellschaft zwar nicht erst, doch vor allem seit 2015 kennzeichnet. Und gewiss wird in Alltagsgesprächen und mediale Talkrunden vermehrt die Frage gestellt werden, warum 2020 möglich war, was fünf Jahre zuvor von Politikern, Medien und Zivilgesellschaft für ganz unmöglich erklärt wurde, nämlich Grenzschutz und Migrationskontrolle. Das wird rasch zu auch emotionalen Debatten darüber führen, mit wie viel Fahrlässigkeit, Leichtfertigkeit und fallweiser Verblendung wir in den Reihen von Deutschlands politischen, medialen und zivilgesellschaftlichen Funktionseliten wohl grundsätzlich rechnen müssen. Denn es war wirklich erschreckend, wie sehr sich im Jahr 2015 – ganz anders als 2020 – unser öffentliches Leben rein gesinnungsethisch vom Prinzip Hoffnung leiten ließ, das Einfordern von Verantwortungsethik aber als bloßer Ausdruck von Xenophobie und Rassismus ins Abseits gedrängt wurde.

Hoffentlich debattieren Politiker, Medien und Zivilgesellschaft noch im Lauf dieses Jahres über redliche Antworten auf solche Fragen. Und hoffentlich ziehen wir alle, sobald die Corona-Krise überwunden ist, auch plausible und durchhaltbare Konsequenzen für den Umgang mit der jetzt nur überblendeten, allenfalls aufgeschobenen Migrations- und Integrationskrise. Hoffen wir deshalb auf jene Lernfähigkeit unserer Politikerschaft, die das große Versprechen pluralistischen Demokratie ist, und tragen wir selbst zu solcher Lernfähigkeit durch eigenes bürgerschaftliches Engagement bei.

Diese Website nutzt Cookies. Bei Weiternutzung dieser Seite, erklärenden Sie sich mit der Nutzung von Cookies einverstanden.