Wie lässt sich Deutschlands Demokratie verbessern?

Wie lässt sich Deutschlands Demokratie verbessern?

Am Samstag, 16. Mai, fand im Dresdner Kongresszentrum ein Kongress der AfD-Fraktion im Sächsischen Landtag über Demokratie und ihre Verbesserungsmöglichkeiten statt. Ich selbst hielt dort ein Referat mit dem Titel „Welche Volksabstimmungen können wir brauchen?“ Den Kern meines dabei vorgetragenen Arguments enthält der nachstehende Text.

Dieser Text stellt er das Thema „Volksabstimmungen“ obendrein in den größeren Zusammenhang überhaupt von Verbesserungsmöglichkeiten unserer Demokratie. Außerdem distanziert er sich von zusätzlichen Vorschlägen, die der Kollege Hans Herbert v. Arnim – einmal mehr – auf derselben Tagung vorgetragen hat: Direktwahl von Ministerpräsidenten, ja des (dann mit größeren Kompetenzen auszustattenden) Bundespräsidenten, sowie Abschaffung der Sperrklauseln bei Parlamentswahlen. Mir geht es nämlich nicht um die Beseitigung unserer bewährten parlamentarischen Regierungssysteme, sondern um deren Verbesserung – nämlich durch eine Einfügung der „richtigen“ plebiszitären Instrumente in das jetzt schon sehr gut ausgestaltete Institutionengefüge unserer Demokratie.

Eine gestraffte Version des nachstehenden Textes ist erschienen als Werner J. Patzelt, Volksabstimmungen. Demokratie konkret gemacht, in: Junge Freiheit Nr. 17/13 v. 19. April 2013, S. 18. Eine viel längere Fassung der in meinem Vortrag dargelegten Argumente findet sich in folgender Publikation: Werner J. Patzelt, Welche plebiszitären Instrumente könnten wir brauchen? Einige systematische Überlegungen, in: Jahrbuch für direkte Demokratie 2010, Baden-Baden 2011, S. 63-106.

Inzwischen ist auch ein Videomittschnitt meines Vortrags verfügbar:

 

 

Werner J. Patzelt

 

Wie lässt sich Deutschlands Demokratie verbessern?

 

I.  Eine stabile Demokratie mit Bau- und Gebrauchsschäden

Deutschlands Demokratie geht es merkwürdig. Einesteils ist sie stabil und lebendig. Ihre Institutionen und ihre Leistungsbilanz gelten international als gelungen, in mancher Hinsicht als vorbildlich. Andernteils nimmt das griesgrämige Grummeln an den Stammtischen der Nation kein Ende. In den 1990er Jahren bekam es den Namen „Politikverdrossenheit“. Ihm gesellten sich später Begriffe wie Politiker- und Parteienverdrossenheit hinzu. Vor Kurzem wurde auch noch die Spezies des „Wutbürgers“ entdeckt, der gewichtige Anlässe sucht und findet, sich über Politiker und unser Staatswesen zu erregen. „Stabile Demokratie – ja; doch nicht ohne Bau- und Gebrauchsschäden“: So lässt sich der Befund zu unserer politischen Ordnung zusammenfassen.

 

II. Eine Kurzdiagnose

Die Ursachen? Da gibt es Enttäuschung vieler Bürger über die merklichen Unterschiede zwischen der – zumal in Wahlkämpfen – in Aussicht gestellten politischen Problemlösungsfähigkeit unserer politischen Klasse und jener sehr begrenzten realen Problemlösungsfähigkeit, die sich nach den Wahlen immer wieder erweist. Im Hintergrund steht, dass auch der deutsche Wohlfahrtsstaat während der „fetten Jahre“ westlicher Demokratien an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gedehnt wurde und immer weniger jene Versprechen halten kann, die man sich von seinen Sachwaltern trotzdem wünscht. Auch wird die Begrenzung nationaler Demokratie im Mehr-Ebenen-Regierungssystem der EU und zumal der Eurozone immer fühlbarer. Gerade die „Eurorettungspolitik“ zeitigte im Volk eine Art Anfangsverdacht, „in Europa“ werde die deutsche Regierung dazu gepresst, politische Geschäfte zum Nachteil wenn schon nicht des Landes, so doch seiner Steuerzahler zu machen. Unübersehbar ist auch die innere Distanz eines Großteils der Bürgerschaft zu unserer politischen Klasse und den Parteien. Hinzu kommt die Auflösung politischer Öffentlichkeit, ihrerseits Grundlage von Demokratie, in sachlich wie sprachlich stark segmentierte Teilöffentlichkeiten samt einer Differenzierung ziemlich aller Formen politischer Beteiligung entlang dem sozialen Schichtungsgefüge. Die Oberschicht nutzt wie eh und je ihre informellen Einflusskanäle hinein in die Politik; im Normalbereich der formellen und – eigentlich – von jedermann nutzbaren politischen Mitwirkungsmöglichkeiten dominiert die Mittelschicht; und viele Angehörige der Unterschicht bleiben in der Rolle eines politischen Mündels anwaltschaftlicher Parteien. Hinzu kommt, durch unterschiedliche „Nachrichtenwerte“ verursacht sowie verstärkt durch schicht- und bildungsspezifisches Informationsverhalten, die Entkoppelung vieler weitverbreiteter Politikbilder von realen politischen Problemlagen. Darauf wiederum reagiert, in einer Art Teufelskreis, die politische Klasse durch bewusste Trennung von Entscheidungs- und Darstellungspolitik.

Es ist Zeichen lebendiger Demokratie, dass angesichts all dessen ausgedehnte Debatten um Reformnotwendigkeiten und Verbesserungsmöglichkeiten unserer Demokratie geführt werden. Manche innerdeutschen Debatten werden zwar längere Zeit fruchtlos bleiben, weil sich ihr Gegenstand nationaler Gestaltung entzieht, etwa die Relativierung innerstaatlicher Demokratie im supranationalen Regierungssystem der EU. Manche andere Debatten aber könnten zu konkreten Verbesserungen unserer Demokratie führen: jene um bessere Ausschöpfung unseres politischen Potentials durch mehr Bürgerbeteiligung an Willensbildungs- und Planungsprozessen, um breitere politische Beteiligung dank sinnvoll wirkender plebiszitärer Instrumente, und jene um Veränderungen in der Zusammensetzung unserer politischen Klasse aufgrund offener Vorwahlen für alle Parlamentsmandate.

 

III. Bessere Ausschöpfung unseres politischen Potentials durch mehr Bürgerbeteiligung

Mehr Bürgerbeteiligung an Willensbildungs- und Planungsprozessen kann zwei Zielen dienen. Erstens lässt sich gesellschaftlich vorhandene Sach- und Politikkompetenz besser nutzen, wenn es niedrigschwellige Möglichkeiten zur punktgenauen Einbeziehung von mehr Bürgern in konkrete Willensbildungs- und Planungsprozesse gibt. Zweitens kann man regionale Konflikte durch rechtzeitigen Interessenausgleich entschärfen – was umso wünschenswerter ist, je mehr sich diese Konflikte, wie beim Streit um den Stuttgarter Bahnhofsumbau, symbolisch aufladen oder zu Grundsatzentscheidungen stilisieren lassen.

Geeignete Mittel wären hinsichtlich des politischen Dauerbetriebs einesteils „Bürgergutachten“, die aus sogenannten „Planungszellen“ (Peter C. Dienel) hervorgehen. Das sind Gruppen von etwa 25 im Zufallsverfahren aus den Einwohnerlisten einer Kommune ausgewählten Personen, die während einer Woche dafür freigestellt werden, in – personell immer wieder wechselnden – Untergruppen sowie unter Zugriff auf fachkompetente Berater Lösungsvorschläge für eine konkrete Planungsaufgabe zu erarbeiten. Andernteils lässt sich regelmäßige Bürgerbeteiligung an der kommunalen Haushaltsaufstellung organisieren. Typische Arbeitsphasen sind Bürgerversammlungen, thematische Foren, Delegiertenversammlungen von kommunalen Interessenorganisationen, Bearbeitung der dabei erzielten Ergebnisse durch die Stadtverwaltung sowie Beschlussfassung im Stadtrat. Das alles braucht gewiss weiteres institutionelles und prozedurales Lernen, nämlich durch Versuche, Irrtümer und die Beibehaltung von Bewährtem.

Ähnlich viel guten Willens und langen Atems bedarf die Entwicklung wirkungsvollerer, auch besser sichtbarer Bürgerbeteiligung anlässlich ausnahmeartiger infrastruktureller Großvorhaben und ihrer Planfeststellungsverfahren. Deren Zeit- und Phasenstrukturen müssten so organisiert werden, dass sich Bürgerbeteiligung um zu entscheidende Kollektivgüterprobleme herum politisieren lässt. Dann nämlich könnte Bürgerbeteiligung nicht mehr auf gekonnt „wegzuerwägende“ Individualinteressen reduziert werden. Das wiederum setzte jene öffentlich beeinflussbaren Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse in Gang, aus denen allein demokratische Legitimität entspringen kann. Um hier weiterzukommen, muss aber die Überzeugung erschüttert werden, beim Planungsrecht handele es sich um eine Außenstehenden ganz unzugängliche Juristenmaterie, auf die sich mehr Bürgerbeteiligung auswirken müsse wie ein Elefant auf einen Porzellanladen.

Im Übrigen setzt man vielerlei Hoffnungen auf das Potential von e-democracy, also auf die Nutzung moderner Informations- und Kommunikationstechnologie für die Demokratie. Deren Einsatzfächer erstreckt sich von erhofft bürgerfreundlichen Transparenz-, Informations- und Interaktionspflichten der Behörden (e-administration) über elektronisch unterstützte Willensbildung in den Parteien ( e-participation, etwa auf Internet-Plattformen für die innerparteiliche Diskussion oder auf Internet-Parteitagen) bis hin zum e-voting auch bei staatlichen Wahlen und Abstimmungen. Am Ende steht das Verlangen nach – nunmehr technisch möglicher – „Verflüssigung“ bisheriger institutioneller Formen, etwa der klaren Rollentrennung zwischen Repräsentanten und Repräsentierten („liquid democracy“). Praxis ist bereits die Einflussnahme auf Willensbildungsprozesse über Blogs, „shitstorms“ und „candystorms“. Viel Gewisses weiß man über die Chancen, Risiken und Nebenwirkungen all dessen noch nicht und muss derlei erst durch Versuch und Irrtum herausfinden. Das war aber nicht anders, als man sich im 19. Jahrhundert daran machte, immer mehr Bürgern das Wahlrecht zu geben – und sich alsbald die heutigen Parteien entwickelten.

Allerdings kontrastiert das so häufig bekundete Verlangen nach „mehr Bürgerbeteiligung“ recht eigenartig zur Tatsache, dass viele schon verfügbaren Möglichkeiten gerade nicht im möglichen, ja wünschenswerten Umfang genutzt werden. Das gilt nicht nur für die so geringe Bereitschaft, sich dauerhaft in politischen Parteien zu engagieren, sondern auch für die so seltene Teilnahme der meisten Bürger an den regelmäßig stattfindenden politischen Veranstaltungen, etwa an Bürgerversammlungen auf kommunaler Ebene. Doch vermutlich passt das Angebot einfach nicht zur Nachfrage. Diese richtet sich inzwischen stark auf eine fallweise, punktuelle und dennoch folgenreiche Beteiligung an Entscheidungen, von denen man fühlt, sie gingen einen persönlich an. Also sollten wir die entsprechende Möglichkeiten schaffen, auch „Feldversuche“ mit neuen oder verbesserten Beteiligungsinstrumenten unternehmen und so Deutschlands Demokratie „von unten her“ her weiterentwickeln.

 

IV. „Direkte Demokratie“, plebiszitäre Verbesserung repräsentativer Demokratie

Das „obere“ Ende von Verbesserungsmöglichkeiten deutscher Demokratie ist Gegenstand der Debatte um mehr „direkte Demokratie“. Diese Debatte leidet sehr daran, dass hier höchst Unterschiedliches verhandelt wird. Auf der einen Seite versteht man unter „mehr direkter Demokratie“ die Einführung von (weiteren) plebiszitären Instrumenten, zumal auf Bundesebene. Dabei unterscheidet man meist nicht zwischen (a) der Volksgesetzgebung (möglich in allen Bundesländern, nicht aber auf Bundesebene); (b) solchen Entscheidungsfragen, die dem Volk von Verfassungsorganen nach politischem Ermessen vorgelegt werden (in vielen deutschen Kommunalverfassungen möglich als „Ratsvorlage“, in etlichen Staaten auch schwächer ausgestaltet als „konsultatives“ Referendum); (c) den obligatorischen Referenden (in wenigen Bundesländern vorgesehen bei Verfassungsänderungen, im Bund bei einer Neugliederung des Bundesgebietes); (d) solchen fakultativen Gesetzesreferenden, die – durch Sammlung einer bestimmten Mindestanzahl von Unterschriften binnen vorgegebener Frist – von einer Referendumsinitiative ausgehen und die Aufhebung eines bereits parlamentarisch beschlossenen Gesetzes zum Ziel haben; und (e) fakultativen Sachreferenden, die von einer Referendumsinitiative – nicht von Inhabern öffentlicher Ämter – herbeigeführt werden. Die letzteren zwei Instrumente gibt es in Deutschland weder auf Bundesebene noch in reiner Form auf Landesebene.

Es wäre aber wichtig, diese fünf Instrumente nicht durcheinanderzubringen. Sie funktionieren nämlich sehr verschieden und haben im politischen Geschehen auch höchst ungleiche Folgen. Zumal ihre Wirkungsrichtung unterscheidet sie. Von einer Referendumsinitiative ausgehende fakultative Gesetzesreferenden, die Volksgesetzgebung, ja sogar obligatorische Referenden wirken – ganz gemäß dem Leitgedanken der Demokratie – „von unten nach oben“, also vom Volk zu seinen Vertretern. Die anderen plebiszitären Instrumente hingegen, zumal die von Staatsorganen nach eigenem Ermessen ansetzbaren Referenden, wirken „von oben nach unter“, nämlich von der politischen Führung hin zum – dabei oft genug manipulierten – Volk. Sie tragen zwar eine demokratische Maske, sind aber typisch für autoritäre oder zumindest bonapartistische Regimes. Das Fehlen dieser Unterscheidung ist der erste Schwachpunkt deutscher Debatten um mehr „direkte Demokratie“.

Auf der anderen Seite versteht man in Deutschland unter „mehr direkter Demokratie“ sehr oft die Direktwahl des – dann auch mit mehr Macht auszustattenden – Bundespräsidenten, ebenfalls der Ministerpräsidenten, mitunter sogar des Bundeskanzlers. Auf diese Weise fordert man als „mehr direkte Demokratie“ nichts Anderes als die Einführung des präsidentiellen Regierungssystems. Dieses besteht zwar – durchaus bewährt und inzwischen fast flächendeckend – auf Deutschlands kommunaler Ebene, nämlich dank der Volkswahl von Bürgermeistern und Landräten. Auf Länder- und Bundesebene haben wir hingegen parlamentarische Regierungssysteme, d.h. solche, bei denen die Bestellung des Regierungschefs Sache des Parlaments, nicht des Volkes ist. Diese parlamentarischen Regierungssysteme haben sich so gut bewährt, dass es keinen Grund gibt, sie durch Volkswahl eines Regierungschefs abzuschaffen. Ebensowenig gibt es einen guten Grund dafür, auf Bundesebene das parlamentarische Regierungssystem durch Einführung eines kraft seiner Volkswahl mitregierenden Staatsoberhaupts zu verkomplizieren. Solche „direktdemokratischen“ Lösungsvorschläge für ein gar nicht existierendes Problem unserer Demokratie sind der zweite Schwachpunkt deutscher Debatten um „direkte Demokratie“. Sie verbinden nämlich – ihrer Konsequenzen meist gar nicht bewusst – die Systemfrage („parlamentarisches vs. präsidentielles Regierungssystem“) mit der Frage nach der Verbesserung repräsentativer Demokratie durch passende plebiszitäre Instrumente.

Doch sinnvollerweise kann es nur um Letzteres gehen. Dabei dienen der Verbesserung unserer Demokratie allein solche Volksabstimmungen, die „von unten nach oben“ wirken. Abzulehnen sind deshalb gerade die in der politischen Diskussion am häufigsten erwähnten Formen von Volksabstimmungen, nämlich jene, die von Inhabern öffentlicher Ämter (Bundespräsident, Regierungschef, Parlamentsmehrheit …) nach Gesichtspunkten politischer Opportunität initiiert werden können. Im noch besten Fall delegiert mit ihnen die politische Klasse die eigentlich selbst zu tragende politische Verantwortung ans Volk. Im schlimmsten Fall manipuliert sie die Stimmbürger durch suggestive oder den Kern der Sache verhüllende Frageformulierungen. Alle hierauf gerichtete Kritik an Volksabstimmungen ist berechtigt.

Doch es gibt ja auch sinnvolle plebiszitäre Instrumente, die wirklich der Verbesserung unserer Demokratie dienen könnten. Einführen sollten wir zumal das fakultative Gesetzesreferendum, vielleicht sogar hinsichtlich von Ratifikationsgesetzen internationaler Verträge. Dieses Instrument passt bestens zur repräsentativen Demokratie: Das erste Wort haben Parlament und Regierung – während das letzte Wort stets beim Volk liegt, deshalb nie überhört werden kann und aus diesem Grund jederzeit Vorauswirkungen zeitigt. Auch ist dieses Instrument überhaupt nicht vom üblichen Einwand gegen Volksabstimmungen betroffen, die Bevölkerung sei mit Aufgaben der Gesetzgebung überfordert: Die mögliche Volksabstimmung bezieht sich stets auf ein vom Parlament bereits beschlossenes Gesetz. Einführen sollten wir eventuell auch das von einer Referendumsinitiative – nie aber „von Staats wegen“ durch Inhaber öffentlicher Ämter – auslösbare fakultative Sachreferendum, über welches das Volk punktuellen Einfluss auch auf nicht in Gesetzesform ergehende Entscheidungen gewönne. Gut für unsere Demokratie wären außerdem wohl obligatorische Referenden über Richtungsentscheidungen, welche die nationale Souveränität oder die Erweiterung der EU betreffen. Wie alle Referenden müssten sie eine Bindewirkung bis in die nächste parlamentarische Wahlperiode haben, damit man eine plebiszitäre Entscheidung, die ein nennenswerter Teil der politischen Klasse oder Bevölkerung zu korrigieren wünscht, auch zum Wahlkampfthema machen kann. Obendrein verspricht auch die auf Bundesebene eröffnete Möglichkeit der Volksgesetzgebung unsere Demokratie zu verbessern. Vielerlei Besorgnisse würden gemindert durch deren Ausgestaltung dahingehend, dass der Bundestag durch Volksabstimmung dazu angehalten werden könnte, binnen vorgegebener Frist ein – anschließend dem fakultativen Gesetzesreferendum unterwerfbares – Gesetz zu beschließen, das zur Behebung eines der Abstimmungsmehrheit auf den Nägeln brennenden Problems geeignet ist. Dieses plebiszitäre Instrument ergänzte im Grunde nur das jetzt schon gegebene Recht des Verfassungsgerichts, noch nicht aber des Volkes, dem Parlament „Gesetzgebungsaufträge“ zu erteilen.

Damit das alles tiefgreifende politische Wirkungen zeitigen kann, sollte das von deutscher Verfassungsdoktrin genährte Verbot fallen, auch Teile der Einnahmen und Ausgaben des Staates einer Volksabstimmung zu unterziehen. Natürlich bedürfen alle einzuführenden plebiszitären Instrumente zweckdienlicher Antrags- und Zustimmungsquoren, obendrein detaillierter Regelungen zur Ausgestaltung und Finanzierung der Abstimmungskampagnen, und ohnehin – zumal bei der Volksgesetzgebung und bei fakultativen Sachreferenden – klarer Bestimmungen zur verfassungsrechtlichen (Vorab-) Kontrolle. Einmal eingeführt, würde jedes dieser Instrumente beträchtliche Vorauswirkungen zeitigen, also den politischen Prozess auch ohne häufige Anwendung nachhaltig verändern. Gerade über solche Vorauswirkungen würden sie dann auch jene unteren Gesellschaftsschichten in den politischen Prozess einbeziehen, die sich punktuell sehr wohl, doch nicht dauerhaft politisch mobilisieren lassen. Und sobald es üblich wäre, dass die Deutschen jährlich mindestens einmal eine folgenreiche Sachentscheidung zu treffen hätten, also nicht nur alle paar Jahre Prokura für das Regierungsgeschäft erteilten, würden gewiss auch praktische politische Bildungswirkungen nicht ausbleiben, die unserer so oft ganz steril erregten politischen Kultur wohltäten.

 

V. Veränderung der politischen Klasse durch offene Vorwahlen für alle Parlamentsmandate

Erhebliche Unzufriedenheit drückt sich aus im demoskopisch immer wieder gemessenen Misstrauen gegenüber „den Parteien“, im Sinken der Mitgliederzahlen von Parteien, in der seit Längerem wachsenden, oft ganz demonstrativen Wahlabstinenz , in beträchtlicher Wählervolatilität sowie in mitunter nachgerade liebesblinder Zuneigung zu neuen (Protest-) Parteien. Hört man auf populäre Parteienkritik, so möchte man fast meinen, Parteien wie SPD und CDU wären zentrale Risikofaktoren unserer Demokratie. Solcher Parteienkritik, welche die tatsächlichen Leistungen unserer Parteien oft ignoriert, entstammt auch ein Großteil der Hoffnung, ein volksgewählter Bundespräsident werde „Politik oberhalb des Parteienstreites“ führen – so, als ob nicht gerade ein Bundespräsidentenwahlkampf zum Hochfest parteipolitischen Wettbewerbs werden müsste. Und auch plebiszitäre Instrumente wünschen sich nicht wenige darum, mittels ihrer die Rolle von Parteien zu schwächen – so, als ob nicht gerade diese sich als erste solcher neuen Möglichkeiten politischen Streits bedienen würden.

Hinter dem für systematisches Politikdenken ganz unplausiblen Wunsch nach einer Schwächung unserer Parteien steht allerdings das oft durchaus plausible Verlangen nach „besserem politischem Personal“. Denn verbreitete Vorbehalte gegen unsere politische Klasse nähren sich nicht nur daraus, dass in Oppositionszeiten und Wahlkämpfen meist mehr versprochen wird, als anschließend zu halten ist. Sondern sie sind auch eine Reaktion auf die – unter politischen Normalbedingungen unvermeidbare – Karrierisierung des politischen Lebens. Eine berufspolitische Laufbahn muss nämlich unter den derzeitigen Umständen schon in sehr jungen Lebensjahren eingeschlagen werden, wenn sie an die politische Spitze führen soll. Das aber schließt alle von landes- oder bundesweit wirkungsvoller politischer Teilhabe aus, die erst um die Lebensmitte herum entscheiden möchten, ob sie ihre Tatkraft fortan in den Dienst des Gemeinwesens stellen wollen. Weil aber nicht wenige Leistungsträger in Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur genau in dieser Lage sind, ärgert sie oft das Fehlen jeglicher Chance, eines selbst bestimmten Tages um politische Ämter auf Landes- oder Bundesebene mit „Berufspolitikern von Jugend an“ konkurrieren zu können – und zwar umso mehr, je überlegener sie sich „reinen Berufspolitikern“ fühlen. Außerdem lädt zur offen bekundeten Politikerverachtung ein, dass große Teile der Bevölkerung empfinden, politischer Aufstieg hänge vor allem vom Beherrschen der Technik des Politischen ab, viel weniger aber davon, dass man redlich für Inhalte steht oder Sachkenntnis auch jenseits des politischen Gewerbes nachweisen kann. Das aber ist ein Stachel im Fleisch der Demokratie: Sie gibt es ja nicht der politischen Klasse willen, sondern die Letztere zu keinem anderen Zweck als dem, einem Volk gerechte Ordnung und ein Leben in Freiheit zu sichern. Das aber traut man eher Persönlichkeiten mit Lebenserfahrung zu, die es „eigentlich nicht nötig haben, in die Politik zu gehen“, als solchen, die von Jugend an von der Politik leben wollen.

Bei der Suche nach Wegen zu einer anderen Zusammensetzung unserer politischen Klasse ist es wenig zielführend, in den populären Ruf nach Amtszeitbegrenzungen für Abgeordnete einzustimmen. Sie änderten ja nichts an deren Rekrutierungswegen. Es bringt auch nicht viel, einfach nach „neuen Parteien mit neuen Köpfen“ zu verlangen – so, als wären „neue Köpfe“ auch schon die von besseren Politikern. Vielmehr muss man die Regeln für die Rekrutierung von Landtags- und Bundestagsabgeordneten verändern, des Kerns der politischen Klasse. Das Ziel bestünde im Rückbau der jetzt schon in sehr jungen Jahren einsetzenden Karrierisierung von Politik. Zu erreichen wäre es durch Institutionalisierung folgender Auswahlmaxime: In einer Demokratie rundet die Ausübung politischer Ämter ein leistungsstarkes anderweitiges Lebenswerk ab, ersetzt es aber nur im Ausnahmefall – nämlich dann, wenn jemand schon in jungen Jahren politische Hochbegabung unter Beweis stellt. Das Mittel zum Zweck wäre die Einführung offener Vorwahlen auf der Ebene von Wahlkreisen für alle Parlamentsmandate.

In der Praxis liefe das auf Folgendes hinaus: Wer immer sich als Direkt- oder Listenkandidat einer Partei um einen Parlamentssitz bewirbt, muss die entsprechende Kandidatur bei einer solchen Vorwahl seiner Partei errungen haben, an der sich die ganze Wählerschaft seines Wahlkreises beteiligen kann. Die Kandidatenselektion würde also von den Parteien wegverlagert und zu einer Angelegenheit gerade auch der Wahlbürger gemacht. Das minderte zwar die Attraktivität einer Parteimitgliedschaft schon in jungen Jahren, steigerte aber die Chancen solcher Frauen und Männer auf eine landes- oder bundespolitische Laufbahn, die zuvor im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder kulturellen Leben Ansehen erworben haben. Zu den wichtigsten Folgen dieser Reform gehörte, dass sich alsbald jeder mit aktiver politischer Beteiligung Zeit lassen könnte und die „rush hour“ seines Lebens nicht auch noch mit dem Beginn einer politischen Karriere belasten müsste. Das weitete beträchtlich den Kreis derer, die für Parlamentsmandate und auf ihnen aufbauende Spitzenämter in Frage kämen, schöpfte also das politische Potential unseres Gemeinwesens deutlich besser aus, als das bislang gelingt. Der Vorwurf eines faktischen Ausschlusses nicht-politischer Eliten von einer späteren politischen Laufbahn würde gegenstandslos, die sich an rein innerparteilichen Aufstiegsmöglichkeiten entzündende Parteienkritik ebenso, und gleichwohl würde niemand daran gehindert, von jungen Jahren an seiner politischen Begabung nachzugehen. Zwar gilt es, die offenen Vorwahlen zu überstehen, gegebenenfalls in Konkurrenz mit bereits angesehenen Mitbürgern. Doch wenig passt besser zu einer repräsentativen, auf Wahlen gegründeten Demokratie als genau dieses Kriterium politischer Begabung.

 

VI. Was tun?

Gewiss wird es dauern, bis wir unsere Demokratie mit dem einen oder anderen dieser Mittel verbessern können. Sie bringen allesamt Neues – mit zunächst einmal unsicheren Risiken und Nebenwirkungen. Verständlicherweise treffen sie auf Vorbehalte und Abwehr. Also hängt ihre Einführbarkeit vom Auftreten schmerzhafter Krisen ab, in denen jeweils eine dieser Reformen Linderung, ja Prävention verspricht – und gerade deshalb die nötige politische Unterstützung und parlamentarische Mehrheit findet.

Sehr wohl aber kann man jetzt schon die Klärung möglicher Problemlösungen soweit voranbringen, dass sich auf gut durchdachte Konzepte, vielleicht sogar auf vorbereitete Gesetzentwürfe dann zurückgreifen lässt, wenn unversehens „die Situation da ist“. Also sollten wir die Einführung offener Vorwahlen und sinnvoller plebiszitärer Instrumente in dieser Weise vorbereiten. Juristen sollten sich auf die Suche nach solchen Möglichkeiten machen, welche das so komplizierte Planungsrecht mit dem so einfachen Wunsch nach besser fühlbarer und auch legitimatorisch wirksamer Bürgerbeteiligung verbinden. Und mit Bürgergutachten, Bürgerhaushalten sowie den Möglichkeiten von E-Democracy sollte man ohnehin lernwillig experimentieren. Vielleicht kommen wir ja auch ohne katalysatorische Krisen voran, nämlich dank einiger Einsicht, redlichen Reformwillens und der Bereitschaft, sich anzustrengen. Für etwas so Kompliziertes wie eine pluralistische Demokratie zu sorgen, gleicht ohnehin dem Wirken der Dombauhütte an einer gotischen Sandsteinkathedrale: Immer wieder kommt es zu neuen Schäden, und nie lässt sich die Baustelle schließen. Dass es sich mit unserer stabilen Demokratie nicht anders verhält, braucht uns also nicht zu schrecken.

 

 

Bildquelle: http://www.hamburg.de/contentblob/4016342/data/2013-08-13-bis-pm-stimmzettel-erforderlich-bild-16z9.png

 

 

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