Was war, was ist PEGIDA?

Was war, was ist PEGIDA?

Unlängst erschien unter dem Titel „‚Repräsentationslücken‘ im politischen System Deutschlands? Der Fall PEGIDA“ meine bislang am weitesten ausgreifende Behandlung des PEGIDA-Phänomens, und zwar in der Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 13/1, 2015, S. 99-126.

Das Manuskript wurde Ende März abgeschlossen. Der dort vorgetragenen Analyse fehlen also die Befunde aus unseren Demonstrantenbefragungen von Ende April / Anfang Mai (siehe dazu auf diesem Blog den Beitrag „Was wurde aus Dresdens PEGIDEA?“ vom 26. Mai sowie die dortigen Links [https://wjpatzelt.de/?p=394]). Ihr fehlen auch jene Deutungen, die sich aus dem Wahlergebnis der PEGIDA-Kandidatin bei der Dresdner Oberbürgermeisterwahl vom Juni 2015 ziehen lassen. Über 21.000 Wähler hatten sich damals als PEGIDA-Sympathisanten erwiesen. Das war fast ein Zehntel der Abstimmenden und somit – bei einer Wahlbeteilung von gut 50% – fast jeder zwanzigste Dresdner. PEGIDA ist also keineswegs auf jene immer noch Demonstrierenden beschränkt, die derzeit kein Zehntel dieser Wählerschaft umfassen.

In ihrer Erklärung und Kontextualisierung des (Dresdner) PEGIDA-Phänomens ist diese Publikation durch diese neueren Befunde und Entwicklungen aber keineswegs „überholt“. Vielmehr bestätigt, was sich seither zeigte, eben das, was damals geschrieben wurde. Deswegen stelle ich diesen Text in seiner Originalversion auch zu meinen anderen PEGIDA-Texten auf diesem Blog. Gedankt sei Joachim Klose für viele seiner Beobachtungen und Deutungen, die nicht nur in unseren gemeinsamen, vor einiger Zeit in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ publizierten Text eingegangen sind (siehe auf diesem Blog den Beitrag „Die Ursachen des PEGIDA-Phänomens“ vom 13. Mai [https://wjpatzelt.de/?p=375]), sondern ebenfalls in diesen. Solchen gemeinsamen Entstehungszusammenhanges wegen gibt es auch etliche Passagen, die aus anderen Texten in diesen übernommen wurden, um einer möglichst umfassende Diagnose von PEGIDA als gesellschaftliches Gesamtphänomen vorzulegen. Weiterer empirischer Analyse und beschreibender Darstellung bedürfen noch die Inhalte sowie Dynamiken der Facebook-Kommunikation von und zwischen Pegidianern bzw. Anti-Pegidianern, desgleichen die bei den PEGIDA-Demonstrationen gehaltenen Reden.

 

 

Werner J. Patzelt

Was war, was ist PEGIDA?
Ein analytischer Essay.

 

Was war – oder ist weiterhin – jene von Dresden ausgegangene PEGIDA-„Bewegung“, die so großen Zulauf, auch so viele Ableger quer übers Land und vereinzelt bis in andere Staaten fand?[1] Wird in ihr wohl etwas sichtbar, das den Dresdner Fall übersteigt, das etwas „typisch Ostdeutsches“, ja womöglich gar etwas Gemeindeutsches ist? Oder versteht man PEGIDA am besten als eine recht eigenartige, den besonderen deutschen Umständen entsprungene Form dessen, was sich in den USA als „Tea-Party-Bewegung“ zeigt, im Vereinigten Königreich als UKIP, in Frankreich als Front National oder in den Niederlanden als „Partij voor de Vrijheid“?

 

I. Was sind die Fakten? Zum Diskussions- und Forschungsstand

1. Zum Streit um PEGIDA

Derzeit ist es aussichtslos, mit Antworten auf solche Fragen Konsens zu finden. Einstellungen zu PEGIDA scheinen etwas Glaubensartiges zu haben, einhergehend mit selektiver Wahrnehmung und emotional stabilisierten Deutungsschemata. Die Dresdner Antifa nahm PEGIDA-Demonstranten von Anfang an als Faschisten und Rassisten wahr. Zuerst sächsische, dann bundesweite Medien befestigten dieses Bild. Politiker passten sich der so geprägten Medienlandschaft an und sprachen von Chaoten, Schande für Deutschland und Mischpoke, wenn sie jene meinten, die von ihren Gegnern „Pegidisten“, „Peggys“, oft auch „Pegidioten“ genannt werden.[2] Die geben solche Abneigung empört zurück – vor allem in Rufen wie „Lügenpresse“ und „Volksverräter“, die sich gegen Journalisten und Politiker wenden, desgleichen in höchst zornigen Facebook-Kommentaren über ihre Kritiker.

Parteinahme gegen PEGIDA scheint bis heute für viele die einzig angemessene Reaktion zu sein. Wer einfach verstehen und zutreffend erklären will, was da vonstattengeht, gilt leicht als zwischen politischer Unkorrektheit und intellektueller Fragwürdigkeit beheimateter „Pegidaversteher“. Und wer Gespräche zwischen Pegidianern und anderen in Gang bringen will, erweist sich in so manchen Augen als Mischung aus Naivling und verantwortungslosem Verharmloser – ganz gleich, ob er einen solchen Brückenschlag als Politiker oder als politischer Bildner versucht.[3] Mittlerweile haben sich auch viele PEGIDA-Leute ihrerseits an solchen Frontlinien eingegraben – mit Verbalausfällen gegen die „links-grüne“ Front, und inzwischen sogar zur AfD auf Distanz.

Zerstritten ist aber nicht nur die Dresdner Gesellschaft, sondern überhaupt die deutsche Öffentlichkeit – und zwar nicht nur über die politische Bewertung von PEGIDA, sondern bereits über rein empirische Fragen wie danach, wer zu PEGIDA geht und was Pegidianer motiviert. Also fehlt Konsens auch darüber, wie gefährlich – und gegebenenfalls warum – diese periodischen Demonstrationen, von Pegidianern „Abendspaziergänge“ genannt, für unsere Demokratie sind. Ohne einvernehmliche Diagnose kann es freilich auch keine Einigkeit darüber geben, wie mit PEGIDA umzugehen ist. Darüber wird in Fernsehrunden, Hörfunkfeatures und Feuilletons, auf Podiumsdiskussionen, im Internet und in Privatgesprächen denn auch gestritten bis zum Verblassen aller Höflichkeitsregeln und zum Aufkündigen selbst jahrelanger Freundschaften.

Nicht wenige hoffen, Dresdens PEGIDA werde dahinschmelzen wie im Frühling der Schnee, und möge außerhalb Dresdens so wenig Wurzeln schlagen wie Palmen am Südpol. Durch entsprechende, auch medial verbreitete Situationsdefinitionen versuchen sie auch, das Ihre dazu beizutragen. Pegidianer hingegen motivieren einander zum montäglichen Gemeinschaftserlebnis und bestärken einander im Glauben, lange genug demonstrierend würden sie von der Straße her deutsche Politik durchaus verändern. Aus dieser Lage mag sich, bildlich gesprochen, ein Stellungskrieg entwickeln wie an der Westfront nach 1914 – oder ein Guerillakrieg wie zu Sowjetzeiten in Afghanistan. PEGIDA-Gegner setzen freilich auf einen „Siegfrieden“.

 

2. Politisch umstrittene Schlüsselbeobachtungen zu PEGIDA

Oft kann Wissenschaft Streit über Tatsachen und Handlungsmotive schlichten, indem sie forschend ihr Handwerkszeug nutzt. Das wurde auch in den Auseinandersetzungen über PEGIDA versucht. Für die Zeit zwischen Dezember 2014 und Januar 2015 liegen inzwischen sechs durchaus unterschiedliche empirische Studien vor, die zu ergründen versuchten, wer warum zu PEGIDA geht.

Den Anfang machte eine mit persönlichen Kurzinterviews arbeitende und Repräsentativität anstrebende Studie des Dresdner Politikwissenschaftlers Hans Vorländer.[4] Nur wenig später stellten Teams um Dieter Rucht (Wissenschaftszentrum Berlin)[5] und Franz Walter (Göttinger Institut für Demokratieforschung)[6] eigene Untersuchungen vor. Bei diesen wurde auf PEGIDA-Demonstrationen mit Flugblättern für eine Beteiligung an später folgenden – und deshalb stichprobenmäßig sehr verzerrten – Online-Umfragen geworben. Methodisch hatte das freilich den Vorteil, mit einem ziemlich differenzierten Fragenprogramm arbeiten zu können. Walter schloss in seine Studie auch eine Befragung von Gegendemonstranten ein, systematische Beobachtungen des Demonstrationsgeschehens (so auch Rucht) sowie mehrere Gruppendiskussion mit etlichen Pegidianern. Die bislang letzte Demonstrantenuntersuchung entstammt einem Methodenseminar von Werner J. Patzelt und kombinierte teilnehmende Beobachtungen durch Studierende, die seit Anfang November unternommen wurden, eine Analyse der Facebook-Kommunikation von Pegidianern sowie explorative Interviews mit einer abschließenden quotenbasierten Befragung. Diese fand am 25. Januar 2015 anlässlich der letzten wirklich großen, obendrein stationären und bei Tageslicht stattfindenden PEGIDA-Demonstration statt.[7]

Doch keineswegs befriedeten diese Studien die Diskussion um PEGIDA. Zu sehr widersprachen ihre – einander durchaus überlappenden – Befunde dem, was Gegendemonstranten, Journalisten und Politiker von Anfang an in PEGIDA zu erkennen glaubten: einen rechtsradikalen, rassistischen, schlichtweg xenophoben Mob. Vielmehr ließen sie erkennen:[8] Beurteilt nach Einkommen und Ausbildung versammelten sich bei PEGIDA mehrheitlich Leute von der der „Mitte der Gesellschaft“ bis hin zum „Dienstleistungsproletariat“ kleiner Gewerbetreibender, oft auch überdurchschnittlich gebildet mit (Fach-) Hochschulabschlüssen sowie zu rund drei Vierteln erwerbstätig; und sie waren überwiegend mittleren Lebensalters (im Durchschnitt zwischen 40 und 50 Jahren), zu 80 Prozent Männer, osttypisch zu fast drei Vierteln konfessionslos, knapp die Hälfte verheiratet. Durchaus nicht der Wählerschaft rechtsradikaler Parteien entstammend, waren die Demonstranten von den „etablierten Parteien“ enttäuscht, setzten ihre Hoffnungen in die AfD und stuften sich politisch meist von der rechten Mitte bis zum rechten Rand ein. Rechtsradikale waren sehr wohl unter ihnen; deren – laut Polizeischätzungen – wohl 500 bis 800 prägten aber umso weniger das Bild, je mehr Tausende Pegidianer auf die Straße gingen.

So zusammengesetzt, fühlte sich die Mehrzahl der Dresdner Demonstranten von den Medien, von den meisten Kommentatoren und erst recht von ihren Gegnern in verletzender Weise missverstanden. Die ihnen zugeschriebene allgemeine Ausländerfeindlichkeit weisen sie bis heute zurück.[9] Im Januar wollten fast drei Viertel weiterhin „politisch verfolgte Asylbewerber und Bürgerkriegsflüchtlinge aufnehmen“. 43% meinten damals auch, Deutschland nehme durchaus nicht zu viele Bürgerkriegsflüchtlinge auf. Sehr wohl waren aber zwei Drittel der Ansicht, Deutschland lasse zu viele Asylbewerber ins Land. Dabei stehen den PEGIDA-Demonstranten vor allem jene vor Augen, die – von ihnen „Wirtschaftsflüchtlinge“ genannt – ohne Chance auf Anerkennung eines Bleibegrunds kommen und dennoch, aufgrund von Vollzugsdefiziten, mit einem faktischen Verbleib in Deutschland rechnen können. Diese Personengruppe mögen die Pegidianer wirklich nicht. Außerdem können sie sich den Islam so gut wie gar nicht in einer zu Deutschland passenden Form vorstellen. Etwa meinte im Januar nur ein Drittel, selbst „ein Islam so friedlich wie das Christentum“ gehöre zu Deutschland, und weit über die Hälfte lehnte für unser Land sogar einen friedlichen Islam ab. PEGIDA-Gegner pflegen aus Plakaten sowie aus Facebook-Äußerungen zu alledem zu folgern, Pegidianer seien von einem tiefsitzenden, ihnen oft selbst gar nicht bewussten „kulturalistischen Rassismus“ geprägt.

Zwar scheinen nicht wenige Pegidianer sich zwischen den rechtspopulistischen PEGIDA-Organisatoren und ihren – im Januar wohl ein Drittel der Demonstranten ausmachenden[10] – rechtsnationalen, xenophoben, islamablehnenden „Mitspaziergängern“ wie in einem Schraubstock zu fühlen. Dennoch kamen – und kommen – weiterhin Montag für Montag Tausende zu den Dresdner Veranstaltungen. Warum tun sie das? Die Antwort von PEGIDA-Gegnern lautet im Wesentlichen: weil sie vielfach „Latenznazis“ oder ihres tatsächlichen Charakters unbewusste Rassisten sind, und obendrein verantwortungslose Mitläufer von rassistischen und faschistoiden Organisatoren. Pegidianer hingegen pflegen – durchaus in Übereinstimmung mit den Tatsachen – darauf hinzuweisen, dass ihnen das Versammlungsrecht keine Handhabe zur Ausgrenzung Andersdenkender von Demonstrationen biete; dass ihre Ordner das Auftreten von Losungen oder Plakaten mit nazistischen oder rassistischen Inhalten nach Kräften unterbänden; und dass die erhobenen Forderungen – von den „19 Punkten“ vom 10. 12. 2014 über die „10 Dresdner Thesen“ vom 15. 2. 2015 bis hin zur „Dresdner Charta für den interreligiösen Frieden“ vom 28. 2.[11] – doch fraglos im Rahmen unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung blieben. Manche Beobachter merken obendrein an, dass hinter dem Imperativ, nie dürfe ein anständiger Bürger gemeinsam mit Radikalen oder gar Extremisten auftreten, wohl der simple Doppelwunsch nach moralischer Diskreditierung und zahlenmäßiger Schwächung der Gegner steckt.

Vielen schien, dass die entdämonisierenden Befunde empirischer Studien zu einer seit Dezember per Medienhype als höchst beunruhigend dargestellten „Massenbewegung von Faschos“ einfach nicht stimmen konnten. Nicht nur widersprachen sie dem öffentlichen, medial verfestigten Erwartungshorizont. Vielmehr stellten sie die Angemessenheit, ja Sinnhaftigkeit des damals sich intensivierenden und bald vor allem selbst feiernden „Abwehrkampfs“ gegen PEGIDA in Frage. Also durfte einfach nicht wahr sein, dass PEGIDA nicht nur aus Rechtsradikalen bestünde, ja mit seiner Benennung von Verteilungskonflikten („Es kommen zu viele Wirtschaftsflüchtlinge!“) und von unerwünschtem kulturellen Wandel („Wir wollen keine Islamisierung!“) echte Sorgen aufgreife, damit den Nerv vieler Bürger treffe und, wegen solcher Thematisierungsleistung, von nicht wenigen wie eine Befreiung von bislang verhängten Diskurstabus empfunden werde.[12] Solche Einsichten vertrugen sich ganz einfach nicht mit dem Selbstverständnis und der Motivationslage der – so Walters Befunde – überwiegend dem rot-grünen Lager zuneigenden, eher jugendlichen und vor allem akademisch-künstlerischen Gegendemonstranten.[13]

Diese nahmen deshalb nicht nur die Pegidianer, sondern bald auch deren Analytiker aufs Korn. Einesteils wurde aus den – für die Bewegungsforschung ganz typischen – Stichprobenproblemen etwa der Studie von Vorländer das Fehlen jeglicher Repräsentativität von Demonstrantenstudien gefolgert.[14] An den Online-Daten von Rucht und Walter wiederum betonte man vor allem das, was halbwegs ins Bild eines neu aufbrandenden Neonazismus passten konnte, nämlich die Befunde zu Verlustängsten ob „nationaler Identität und Kultur“ (82%); zur Forderung nach mehr „Mut zu einem starken Nationalgefühl“ (81%); zur Feststellung, Deutschland sei „durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet“ (41%); zur Ablehnung einer großzügigen „Prüfung von Asylanträgen“ (81%); oder zur Wichtigkeit von „Recht und Ordnung“ (66%).[15] Und die – bis zum Januar natürlich noch nicht in Forschungsberichten dokumentierten, doch in vielen Interviews der Öffentlichkeit nahegebrachten – Beobachtungsbefunde von Patzelt wurden simpel als „faktenfreie Pegidaversteherei“ etikettiert.[16] In diesem Klima (sowie entlang der Frontlinie zwischen einer Aufklärung dessen, was ist, und dem Kampf gegen das, was nicht sein soll) begann alsbald allein schon die öffentlichkeitswirksame Beschreibung dessen, was es wirklich mit Dresdens PEGIDA auf sich hatte, als „Parteinahme für PEGIDA“ zu gelten, ja als ein vorzuwerfendes „Überschreiten der Trennlinie zwischen Wissenschaft und Politik“.[17]

Solche rein politische Kritik verstummte, ohne freilich je zurückgenommen zu werden, als sie mit Argumenten konfrontiert wurde.[18] Sie wurde erst recht sprachlos, als die PEGIDA-Monographie von Franz Walter jene Einschätzungen bestätigte, die etwa Patzelt vom Dezember bis zum Februar in vielen Medien abgegeben hatte. Inzwischen zeigt auch noch eine Vergleichsarbeit von Karl-Heinz Reuband, dass die soziographischen Befunde der vier Teilnehmerstudien trotz ihrer Repräsentativitätsprobleme im Wesentlichen übereinstimmen.[19] Also werden auch die nicht mehrfach abgefragten Merkmale von Pegidianern im Großen und Ganzen halbwegs richtig getroffen sein. Unter dem Eindruck solcher mit guten Argumenten nicht länger bestreitbaren Tatsachen behaupten denn auch inzwischen sogar Vertreter der schärfsten PEGIDA-Gegner, etwa von „Dresden nazifrei“, sie hätten eigentlich immer schon eine differenzierende Einschätzung von PEGIDA gehabt. Nur am Vorwurf eines allgemeinen Rassismus halten sie in der Regel fest, erweitern dafür aber den Rassismusbegriff ungemein.

 

3. PEGIDAs Vielfalt

Viel weiteren Dissens brachte – und bringt weiterhin – in die Debatte um PEGIDA, dass sich auf den Facebook-Seiten und sonstigen Webseiten von Pegidianern und in deren Umfeld durchaus mehr und anderes zeigt, als bei den PEGIDA-Demonstrationen sichtbar wird oder in den meisten Reden zu hören ist.[20] Jedenfalls führte – unschwer zu gewinnende eigene Eindrücke bestätigend – die erste Analyse von PEGIDA-Facebook-Daten ein viel rechtsradikaleres und rassistischeres Bild PEGIDAs vor Augen, als es die Teilnehmerumfragen zeichneten.[21] Dieser Unterschied mag einesteils auf die bekannte Hemmungslosigkeit von Internetäußerungen zurückgehen, die sich zumal dann einstellt, wenn mit Fake-Accounts gearbeitet wird oder sich „Trolle“ in die Kommunikation einmischen.[22] Andernteils scheint sich – so die Befunde der Demonstrantenstudie vom Januar 2015 – auf Facebook zwar der „harte Kern“ Pegidianern zu versammeln.[23] Er ist als „harter Kern“ aber nicht repräsentativ für jene vielen, zeitweise zusätzlich motivierten Demonstrationsteilnehmer, auf welche der große Zuwachs PEGIDAs zwischen Dezember und Januar zurückzuführen ist. Sofern also PEGIDA-Kritiker ihre Gegnerbilder vor allem aus dem Internet gewinnen, doch weniger aus eigener Anschauung der Demonstrationen (oder ihrer im Internet verfügbaren Livestreams) beziehen, müssen sie natürlich auch einen sehr anders akzentuierten Eindruck von PEGIDA haben.[24]

Erst recht führt zu sehr unterschiedlichen Wahrnehmungen PEGIDAs, dass die Dresdner periodischen Demonstrationen, sozusagen „das Original“, etwas ziemlich sind als dessen – unter mannigfachen Namen auftretenden – „Kopierversuche“ oder „Ableger“ in anderen Städten. Nicht nur werden PEGIDA-Demonstrationen in den Altbundesländern überwiegend von eindeutig Rechtsradikalen organisiert sowie besucht, weshalb dort der Ton viel schärfer, ja abstoßender ist als in Dresden. Sondern es ist in Dresden auch das Auftreten der allermeisten Pegidianer sehr zivilisiert. Ihretwegen bräuchte es jedenfalls kein großes Polizeiaufgebot zur Absicherung der „Abendspaziergänge“, denn Gewalt gegen Sachen ging von ihnen bislang nie aus, und gegen Personen nur in jenen ziemlich wenigen Fällen, in denen es zu wechselseitig provokatorischen Szenen zwischen ihnen und ihren Gegnern kam. Der Grund für diese Besonderheit Dresdens liegt nicht nur in der sozialen Zusammensetzung der Pegidianer, sondern auch im Zahlenverhältnis zwischen ihnen und den Gegendemonstranten. Während nämlich außerhalb von Dresden die PEGIDA-Demonstranten meist einer Übermacht von Gegendemonstranten gegenüberstehen, was bürgerlichen und vernünftigen Leute meist von einer Teilnahme abrät, waren in Dresden seit Dezember 2014 stets die PEGIDA-Demonstranten weit in der Überzahl. Hingegen sind dort die Gegendemonstrationen – zumal seit Einsetzen der vorlesungsfreien Zeit samt Absenz vieler Studierender – ins weitgehend Unbeträchtliche geschrumpft. Unter solchen Umständen ist die Teilnahme bei PEGIDA ein recht risikoloses Unterfangen für fast jedermann – und können Pegidianer mehrheitlich unaggressive Selbstsicherheit ausstrahlen.[25]

Über die genannten Studien und über journalistische Arbeiten hinaus gibt es auch noch eine Reihe von in systematischer Absicht verfassten Texten, die das in Dresden so markant hervorgetretene „PEGIDA-Phänomen“ teils dresdenspezifisch, teils im Rahmen Ostdeutschlands oder insgesamt der bundesdeutschen politischen Kultur einzuordnen versuchen.[26] Doch auch diese Analysen gelangten bisher zu keinem Konsens. Gleichwohl glaubt der Verfasser, dass sich deren plausibelsten Deutungen gut miteinander verbinden lassen. Das wird im Folgenden versucht.

 

II. Die „Oberfläche“ des PEGIDA-Phänomens

Ausgelöst wurden die seit dem 20. Oktober 2014 stattfindenden „Abendspaziergänge“ durch die Dresdner Innenstadt recht zufällig.[27] Auf einer Solidaritätskundgebung für die in Deutschland verbotene Arbeiterpartei Kurdistans und für deren bewaffneten Kampf gegen den „Islamischen Staat“ wurde in Dresden Geld gesammelt. Mit solchem „Import“ nahöstlicher bzw. – wie es den späteren PEGIDA-Organisatoren erschien – innerislamischer Konflikte wollten sich die Mitglieder einer Facebook-Gruppe nicht abfinden. Die in den Monaten vorher fühlbar gewachsene Anzahl von in Deutschland aufzunehmenden Bürgerkriegsflüchtlingen und Asylbewerbern, immer häufiger auch aus dem islamischen Kulturkreis stammend, motivierte erst recht, vom virtuellen Raum sozialer Netzwerke in den realen Raum der Dresdner Innenstadt überzuwechseln.

Aus dem ersten „Spaziergang“ mit rund 350 Teilnehmern wurde eine periodische Demonstration, die immer mehr Leute anzog und mit wohl 25.000 Teilnehmern am 12. Januar 2015 ihren Höhepunkt erreichte. Wenige Tage später spaltete sich das bis dahin recht gut zusammenwirkende Organisationsteam, und zwar im Wesentlichen über der Frage, ob Lutz Bachmann, die prägende Figur der bisherigen Demonstrationen, weiterhin eine markante Rolle spielen sollte. In Kritik war er schon Wochen vorher durch seinen Lebenslauf geraten, den etliche – auch ins Gefängnis führende – Delikte kennzeichnen. Nun tauchten auch noch klar rassistische Internetäußerungen von ihm auf, desgleichen ein – wie sich später zeigen sollte: gefälschtes – Bild, auf dem er als Hitler posierte.[28] Unter öffentlichem Druck trat Bachmann daraufhin ab, drängte aber bald wieder zurück – nicht nur aus persönlichen, sondern auch aus inhaltlichen Gründen. Dadurch vergraulte er Ende Januar 2015 die an seine Stelle getretenen Mitorganisatoren aus dem inzwischen begründeten PEGIDA-Förderverein. Die Folge war eine Spaltung PEGIDAs.

Allgemein wurde erwartet, dass um den zurückgekehrten Bachmann ein „rechtsradikaler Flügel“ PEGIDAs entstehen und sich alsbald, aufgrund wachsender Präsenz von Hooligans und Neonazis, auf westdeutsches Sektiererniveau dezimieren würde. Dem „gemäßigten Flügel“ derer, die unter dem Namen „Direkte Demokratie für Europa“ (DDfE), die „bürgerliche Mitte“ erreichen wollten, wurde mangels mobilisierenden Profils erst recht keine nennenswerte Zukunft vorhergesagt. Tatsächlich kamen zu einer ersten DDfE-Demonstration Anfang Februar nur 500 Teilnehmer, eine Woche später ganze 100, womit sich dieser Zweig von PEGIDA erledigt hatte.

Doch die – wie sich zeigen sollte – „Original-PEGIDA“ um Lutz Bachmann mobilisierte weiterhin Tausende, beginnend mit rund 2000, steigend auf über 7000, doch seither – allem Anschein nach – bei „normalen Demonstrationen“ wieder sinkend. Empirische Studien zur derzeitigen Zusammensetzung und Motivationslage der Dresdner PEGIDA-Demonstranten fehlen noch. Subjektive Eindrücke mehrerer Beobachter legen allerdings nahe, dass der „harte Kern“ der Demonstranten vom Dezember und Januar auch weiterhin kommt, Rechtsextremisten oder Hooligans aber immer noch nicht das Bild prägen. Obendrein gibt es Zweifel an der tatsächliche Größe der Demonstrantenzahlen, da sich – wohl aus politischen Motiven – seit dem „Reset“ von PEGIDA niemand mehr die Mühe einer objektiven Feststellung gemacht hat.[29] Obendrein finden die von Dresden ausgehenden PEGIDA-Demonstrationen weiterhin Nachahmer in etlichen anderen Städten, wenngleich dort mit meist kümmerlichen Demonstrantenzahlen und völliger Deutungshoheit auf Seiten der PEGIDA-Gegner.

Falls die jetzt noch aktive, stark verkleinerte „Original-PEGIDA“ im Lauf der Zeit das Schicksal ihres eingegangenen Rivalen DDfE nehmen sollte, wären dafür wohl die folgenden Gründe ursächlich. Erstens haben die Medien PEGIDA seit Februar gleichsam unter Quarantäne gestellt und berichten kaum mehr über das, was sie vor Weihnachten „hochgeschrieben“ haben. Also findet auch weniger „Werbung für ein spannendes Event“ statt. Zweitens sind die Gegendemonstrationen nun weitgehend verstummt oder haben sich in Straßenkonzerte und Straßenhappenings verwandelt. Dort feiert man eher sich selbst, als dass man „Pegidioten“ entgegenträte. Auf diese Weise werden bei PEGIDA-Demonstranten aber auch nicht mehr jene trotzigen Solidarisierungseffekte ausgelöst, denen sich einst das Wachstum von PEGIDA so sehr verdankte. Drittens haben in Dresden vielerlei Bildungsinstitutionen – allen voran: die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung – sowie die Staatsregierung vielfältige Begegnungs- und Diskussionsmöglichkeiten zwischen Pegidianern und deren Kritikern bzw. der staatlichen Verwaltung geschaffen. Dort entweicht in normalen Diskursen gleichsam jener Dampf, der PEGIDA vordem aufgeblasen hat.[30] Und – viertens – scheinen auch deshalb nun weniger Leute zu kommen, weil PEGIDAs Veranstaltungen aufgrund der Jahreszeit nicht mehr überwiegend im Schutz der Dunkelheit stattfinden können. Etliche Teilnehmer bzw. sich zu erkennen gebende PEGIDA-Sympathisanten berichteten jedenfalls, Arbeitgeber hätten ihren Beschäftigten Konsequenzen für den Fall angedroht, dass sie sich als „Pegidisten“ erwiesen.

Fünftens – und vor allem – fehlt es PEGIDA an politischer Führung und somit an Möglichkeiten, den Druck von der Straße ins politische System zu leiten. Auf diese Weise fehlt den Demonstranten aber auch ein über den jeweiligen Abend hinausgehendes und zum andauernden Wiederkommen motivierendes Erfolgserlebnis. Enttäuschung darüber richtet sich einstweilen noch an „die Politiker“, die einfach nicht „aufs Volk hören wollen“. Entsprechende Empörung mag eines Tages aber auch die Organisatoren treffen. Irgendwann dürfte sich nämlich die Einsicht verbreiten, dass diese im Grunde nur von Woche zu Woche denken, doch keinerlei Geschick darin haben, aus Tausenden begeisterungsbereiten Demonstranten effektive politische Macht zu generieren.
Solches Unvermögen hat einesteils mit dem Fehlen einer – und sei es auch nur quasi-plebiszitär – legitimierten Führungsgruppe von PEGIDA zu tun. Das Team um Bachmann sind wirklich nur „Organisatoren“. Genau deswegen tat – und tut – sich die Politik auch leicht, das Gespräch mit Leuten „ohne Mandat“ zu verweigern. Andernteils haben es die Organisatoren nicht vermocht, für die obligatorischen zwei, drei Reden auf ihren Demonstrationen mit einiger Verlässlichkeit tüchtige, rhetorisch wie intellektuell überzeugende Sprecher zu finden, aus denen reale Führer einer selbstbewussten Massenbewegung werden könnten. Von wenigen Ausnahmen abgesehen machten die als Redner hervorgehobenen Pegidianer oder PEGIDA-Sympathisanten eine eher bemitleidenswerte Figur und lebten gleichsam mehr vom guten Willen der Zuhörer, als dass sie deren Verlangen nach Führung erfüllt hätten.

Obendrein gelang es den Organisatoren auch nie, politisch handhabbare Forderungen an präzis benannte Adressaten zu formulieren und dann mit gebündeltem Druck zu untersetzen. Von den „19 Punkten“ über die „10 Thesen“ bis zur „Charta für den interreligiösen Frieden“ wirken alle PEGIDA-Dokumente wie eine Mischung aus Versuchsballon und Selbstbescheinigung politischer Rechtschaffenheit, nicht aber wie eine Prioritätenliste zielstrebig verfolgter Anliegen. Und nicht zuletzt brachte die Mitte März einsetzende Zurückweisung der – freilich ihrerseits keinen klaren Kurs auf PEGIDA nehmenden – AfD durch die PEGIDA-Organisatoren diese selbst um einen jetzt schon in unser politisches System hineinwirkenden Hebel. Wer bloß eine „Bürgerbewegung“ sein will, muss sich nicht wundern, wenn ohne „parlamentarischen Degen“ politischer Erfolg ausbleibt. Im Grunde sind sich Bachmann & Co. darin genug, Demonstrationen zu organisieren und auf ihnen ein Gemeinschaftserlebnis zu haben. Das ist aber zu wenig, wenn man politische Ziele erreichen will. Auf diese Weise verraten die Organisatoren ihre Anhänger nachgerade – und häufen politisch-kulturellen Sprengstoff auf, der dann ungesichert bleibt.

 

III. Woher kam PEGIDAs Dynamik?

1. Die Rolle der Medien

Während sowohl die lokalen als auch – erst recht – die nationalen Medien nun seit Februar die Dresdner PEGIDA-Demonstrationen nachgerade „dröhnend beschweigen“, entfalteten sie zwischen Dezember und Ende Januar regelrecht einen Hype um PEGIDA. Auf dessen Höhepunkt wurde jeweils zu Wochenbeginn auf fast allen Kanälen ausführlich über PEGIDA berichtet und waren Fernsehteams nicht nur aus so gut wie allen europäischen Staaten, sondern auch aus den USA, dem arabischen Raum, Japan und Australien in Dresden. Aufmerksam gemacht wurde die internationale Öffentlichkeit natürlich von deutschen Medien, die mit PEGIDA umgingen, als hinge von den Pegidianern Deutschlands Stabilität ab.

Wichtig war freilich schon auch, dass Dresden nun einmal eine Bühne politischer und soziokultureller Ereignisse ist, von der besonders gern berichtet wird. Im Positiven reichten die resonanzreichen Themen vom Wiederaufbau von Frauenkirche, Residenzschloss und Innenstadt über den Semperopernball bis hin zum Erringen des Status einer „Exzellenzuniversität“ durch Dresdens TU. Im Negativen diente Dresden als vielbeachtete Bühne wegen rechtsradikaler Umtriebe schon zu Beginn der 1990er Jahre, dann in den 2000er Jahren aufgrund der zeitweiligen Kaperung des Gedenken an Dresdens Zerstörung durch Neonazis – und nunmehr wegen PEGIDA.

Das Medieninteresse an PEGIDA wurde auch dadurch befeuert, dass dort alles zusammentraf, was in Deutschland an sich schon großen Nachrichtenwert hat: markante Aufzüge von Rechten; dramatisch inszenierte Gegenwehr von Linken; ganz unübliches Schweigeverhalten, mitunter gar offensive Ablehnung gegenüber Journalisten; skandalisierende Interviews mit einzelnen PEGIDA-Demonstranten, mitunter auch in Täuschungsabsicht geführt, deren ungeschickte Formulierungen und törichte Ressentiments sich dann „aufklärerisch-unterhaltsam“ zur Schau stellen ließen; und obendrein ein Mord an einem Asylbewerber, der sich – bis zum baldigen Beweis des Gegenteils – PEGIDA-Anhängern zuschreiben bzw. auf ein „von PEGIDA erzeugtes“ Klima der Ausländerfeindlichkeit in Dresden zurückführen ließ. Das alles prägte bundesweit das Bild von PEGIDA – und leider auch von Dresden.

 

2. Objektive Probleme als Empörungsgrund

Doch natürlich nährte sich die um PEGIDA entstehende Dynamik nicht allein aus den Medien. Viel wichtiger war der Eindruck vieler Pegidianer und PEGIDA-Sympathisanten, dass es in unserem Land mancherlei ins Gewicht fallende Missstände und Fehlentwicklungen gibt, um die sich die Politik nicht zielstrebig kümmert, ja die sie als solche gar nicht wahr- oder ernstzunehmen scheint.

Ausgangspunkt entsprechender Sorgen ist, dass Deutschland aufgrund seiner Bevölkerungsentwicklung ein Einwanderungsland sein muss, wenn es seinen Wohlstand aufrechterhalten möchte, und das im Konsens aller großen Parteien mittlerweile auch sein will. Zum Kern vieler Sorgen wird deshalb, dass Deutschland trotzdem keine klare Einwanderungs- und Integrationspolitik betreibt. Ungelindert bleiben diese Sorgen, weil es keinen gesellschaftlichen Konsens darüber gibt, ob man sich überhaupt Sorgen machen müsse – und falls ja, welche davon begründet, welche anderen aber rein eingebildet wären. Der Konsens aber fehlt, weil grundverschiedene Sichtweisen auf die Gesamtthematik konkurrieren und sich nicht verbinden lassen wollen.

Einesteils soll unser reiches Land – auch aufgrund seiner Geschichte – einfach offen sein für die Verfolgten und Schicksalsbeladenen der Erde. Im Grunde niemanden soll man aussperren, sondern alle nach Deutschland Gelangenden willkommen heißen und, falls sie das wollen, auch im Land behalten. Das kann man eine „passive Einwanderungspolitik“ nennen. Andernteils braucht unser Land Auszubildende, Facharbeiter, Ingenieure, Wissenschaftler – und Pflegekräfte. Doch eine entsprechend wählerische, also „aktive“ Einwanderungspolitik passt nicht zur normativen Offenheit unseres Landes. Die wünscht sich aber auch weiterhin ein Großteil von Öffentlichkeit und Eliten. Und während die einen sich Einwanderung obendrein als Mittel zum Zweck der Entstehung einer „multikulturellen Gesellschaft“ wünschen, welche an die Stelle eines – gleichwie als „problematisch“ empfundenen – „deutschen Volkes“ treten soll, wollen viele andere das Deutsche an Deutschland durchaus nicht loswerden. Obendrein befürchten sie, dass statt bereichernder Multikulturalität nur jene konfliktträchtige Parallelgesellschaftlichkeit entstehen würde, die auch Ländern wie Frankreich oder dem Vereinigten Königreich nicht sonderlich gut tut.

Außerdem empfinden viele den folgenden Widerspruch. Rechtlich unterscheidet man Zuwanderer je nach ihrem Einreisegrund, nämlich als EU-Bürger, Arbeitssuchende laut Aufenthaltsgesetz, Asylbewerber sowie Bürgerkriegsflüchtlinge, und legt großen Wert darauf, sie auch bei Diskussionen nicht zu vermengen. Anschließend aber geht es um praktische Fragen gesellschaftlicher Integration, bei denen diese rechtlichen Unterschiede gerade keine Rolle spielen sollen, denn jeder soll diskriminierungslos in gleicher Weise willkommen geheißten und zum Teil unserer Gesellschaft gemacht werden. Auf diese Weise verbindet sich das alles zu einem einheitlichen Einwanderungsgeschehen, das nun aber nirgendwo gesteuert oder hinsichtlich seiner Folgen verantwortet wird. Eben solche Passivität der Politik führt zu umso größeren Sorgen, je mehr Einwanderer auf diese Weise ins Land kommen und –zum Großteil – dann auch bleiben. Die Sorgen wiederum schlagen oft um in Empörung bei solchen Bürgern, die auch die Einwanderungspolitik für demokratisch legitimierungsbedürftig halten und sich deshalb fragen, wann diese wohl ein Thema bei Wahlen oder Abstimmungen gewesen wäre.

Hinzu kommen Sorgen ob jener kultureller Veränderungen, die oft „Islamisierung“ genannt werden und sich daraus nähren, dass in den letzten Jahren nicht nur die Anzahl von Asylbewerbern und Bürgerkriegsflüchtlingen überhaupt sehr stark gestiegen ist, sondern dass sich unter diesen – aufgrund der heutigen Bürgerkriegsgebiete – sich jetzt und fortan auch besonders viele Muslime befinden. Außerdem macht der in den Medien thematisierte Islam – vom Islamischen Staat bis hin zu deutschen Dschihadisten – derzeit keinen sonderlich attraktiven Eindruck.

Zu alledem gesellt sich auch noch Beunruhigung ob der aktuellen Entwicklungen im Osten der Ukraine. Im Grunde keimt hier Kriegsfurcht auf. Und weil – zumal in den neuen Bundesländern – für die derzeit zunehmenden Spannungen nicht wenige die USA und ihre europäischen NATO-Verbündeten als ursächlich ansehen, nicht aber Russland, verbindet sich solchermaßen traditionelle deutsche Russophilie mit ideologischem Anti-Amerikanismus. Das wiederum erlaubt einen Brückenschlag zwischen Rechten, die wegen der passiven deutschen Einwanderungspolitik und der „Islamisierung“ zu PEGIDA stoßen, mit pazifistischen und antiimperialistischen Linken. Gleichem leistet die ebenfalls bei PEGIDA verbreitete Globalisierungs- und Kapitalismuskritik Vorschub. Und dass PEGIDA auch noch die in Deutschland traditionell linke Forderung nach mehr direkter Demokratie aufgegriffen hat, verbreitert den Kreis von offenen oder verhohlenen PEGIDA-Sympathisanten erst recht – nicht nur in Dresden, sondern in ganz Deutschland.

Im Grunde brauchte es nur einen Auslöser, um aus diesem brisanten Sorgen- und Forderungsgemisch eine Art „Vulkanausbruch“ zu machen. Warum sich dieser Auslöser gerade in Dresden und in Ostdeutschland fand, wird unten erörtert. Doch woher kam die gewaltige Dynamik, die PEGIDA anschließend vorantrieb?

 

3. Arrogante Reaktionen

Es war nicht zuletzt Arroganz, was PEGIDA groß werden ließ. Stolz aufs zielsichere Erkennen von Islamophobie und Ausländerhass, auch von Rassismus und Nazismus, immunisierte gleich die ersten Urteile von Beobachtern und Politikern gegen faktensuchende Neugier und erkundendes Hinterfragen. Hochmut hielt zumal Intellektuelle davon ab, den realen Motivationsgefügen unter den ihnen so unsympathischen Demonstranten nachzugehen. Und Überheblichkeit führte dazu, dass nichts als der Platz auf dem hohen Ross antifaschistischen Widerstandes für Politiker und politisch Engagierte als angemessen erschien.

Hätte PEGIDA allein aus Rassisten und Faschisten bestanden, wäre das alles ganz in Ordnung gewesen. Doch allzu einfach wurden Sorgen um die Zukunft unserer sich wandelnden Einwanderungsgesellschaft als „Ausländerhass“ verbucht; und Ängste ob der Ausbreitung einer in Deutschland recht neuen Religion bekamen kurzschlüssig das Etikett „Islamfeindlichkeit“. Tatsächlich aber verfehlten derlei Verdikte das Selbstverständnis und die realen Positionen vieler PEGIDA-Teilnehmer. Das empörte diese und führte geradewegs zu jener trotzigen Solidarität, welche die Dresdner Demonstrationen so sehr anschwellen ließ. Diese wiederum bescherten den Pegidianern schöne Gemeinschaftserlebnisse, und eben die verdichteten sich immer wieder im Ruf „Wir sind das Volk!“. Solche Selbstbestätigung stärkte dann ihrerseits den Glauben vieler Demonstranten, als Masse sowie auf der Straße würde man nun endlich für politische Positionen Gehör finden, die sonst durch mancherlei Filter politischer Korrektheit vom öffentlichen Diskurs ferngehalten werden. Insofern hat gerade die schroffe Ablehnung und Ausgrenzung, auf die PEGIDA seitens von Massenmedien, Politikern und Gegendemonstranten traf, eher zum Wachstum als zur Schwächung des PEGIDA-Phänomens beigetragen.

Was aber löste derart arrogante Reaktionen gerade in solchen Kreisen aus, die sonst so stolz sind auf ihre Offenheit, Empathie, Toleranz, Neigung zum kritischen Diskurs? Im Grunde wohl, dass sich Dinge ereigneten, die auf den üblichen Landkarten politischer Diskussionen nicht verzeichnet sind. Da legten die PEGIDA-Organisatoren inhaltlich unanstößige Positionspapiere vor, ließen aber volksaufhetzerische, klar fremden- und muslimfeindliche Reden zu. Da zeigten sich viele Demonstranten als um Deutschlands Zukunft besorgte Bürger, konnte man aber auch nicht übersehen, dass gar nicht wenige Einträge auf PEGIDA-nahen Internetseiten viel mehr als nur Anklänge an rassistische und faschistische Positionen boten. Da artikulierten sich bei klar Rechtsorientierten genau jene Politikerverdrossenheit und Kapitalismuskritik, jene Amerikafeindlichkeit und Religionsablehnung, die sonst unter Linken zum guten Ton gehören. Und da stellten sich Leute als „das Volk“ gegen „das System“, die nicht in die Tradition einer fortschrittlichen Revolution zu gehören schienen, sondern allein in die der Gegenrevolution, der Reaktion.

Kaum einer wollte Dresdens so unerwartete Protestzüge aber als Hinweis auf Unzulänglichkeiten verbreiteter Politiklandkarten nehmen, als Anstoß zum Neudenken darüber, ob unsere realen Problemlagen und unsere etablierten politischen Diskurse weiterhin zusammenpassen. Vielmehr verfuhren viele vulgärhegelianisch nach dem Motto: „Umso schlimmer für die Tatsachen!“ Für eine offene Gesellschaft auftretende „Pro-Demonstranten“[31] bestätigten einander Mal um Mal, wie schlimm die Tatsache wachsenden PEGIDA-Zustroms sei – nämlich auf meist mit guter Musik garnierten Veranstaltungen, die ein „Buntes Dresden“ und eine offene Gesellschaft feierten. Und die schlimmen Tatsachen selbst, nämlich die Existenz und das Wachsen von PEGIDA, bekämpften Gegendemonstranten mit – selten erfolgreichen – Blockadeversuchen, mit – zumal in Leipzig – ziemlich hochgetriebenen polizeilichen Transaktionskosten, desgleichen mit symbolisch ausdrucksstarken Sprechchören. Unterdessen breitete sich PEGIDA aus wie ein Virus.

Doch die empfohlene Therapie schlug einfach nicht an: medial warnen; durch Gegenprotest bekämpfen; isolieren durch Kontaktsperre für die Organisatoren, durch Gesprächsverweigerung mit bekennenden Anhängern; Selbstschutz durch Verzicht auf nähere Befassung mit den Themen und Anliegen von PEGIDA. Im Grunde wurde so getan, als ob die realen Probleme ungesteuerter Einwanderung durch Aussitzen verschwänden; als ob eine zusammenhaltende multikulturelle Gesellschaft allein schon durch Ausgrenzung von Bedenkenträgern entstünde; und als ob zur Zivilgesellschaft nur jene gehörten, die man mag.

Schon gar nicht wollte man sich zur Diagnose verstehen, dass sich Deutschlands durchschnittlicher Medien-, Politiker- und Elitendiskurs im Vergleich zur realen Meinungsverteilung der Bevölkerung verschoben haben könnte– und somit weniger die Bürger als vielmehr die Eliten problemursächlich wären. Zwar blieb nicht unbekannt, dass nicht nur die Wahlbeteiligung deutlich gesunken ist, sondern sich gerade PEGIDA-Sympathisanten damit hervortun, ihre innere Kündigung gegenüber den staatstragenden Parteien und unserer politischen Ordnung zu bekunden. Doch daraus schien nicht zu folgen, dass man diesen Teil des Volkes nach seinen Gründen für solche Entfremdung befragen, ja das Gehörte dann auch bedenken solle. Genau deshalb störten auch jene Untersuchungsbefunde so sehr, nach denen die PEGIDA-Demonstranten im Wesentlichen nicht dem deutschen Prekariat oder unterschichtigem Mob entstammten, sondern nach Herkunft und Bildung durchaus etwas über jene Dinge wissen könnten, über die sie sich empörten. Es durfte eben nicht geben, was auf unseren politischen Landkarten nicht verzeichnet war: Reale Probleme, über die sich nicht ein Querschnitt der Bürger, sondern gerade ein Teil der öffentlichen Eliten täuscht.

Zweifache Arroganz also war beim Umgang mit PEGIDA am Werk und entfesselte die Dynamik dieses Phänomens. Jeweils wurzelte sie im Stolz auf eigene Macht. Einesteils war es die Arroganz etablierter Politik: Dieses haben wir schon immer so gemacht, jenes noch nie; da könnte doch jeder kommen; also weiter so – und schließlich haben wir ja die Mehrheit im Parlament! Andernteils war es die Arroganz der Tugendwächter öffentlichen Diskurses: Schon Deine Sprache verrät Dich; wir kennen Dich besser, als Du selbst; wer so ist, gehört ohnehin nicht zu uns – und deshalb werden wir Deinen Themen und Gedanken auch keine Bühne bieten![32]

 

4. Eindringen in eine „Repräsentationslücke“

In Dresden, ja deutschlandweit gehört es zum guten Ton, öffentliche Kommunikation mit Pegidianern zu vermeiden. Mehr noch: Zum Hauptanliegen von PEGIDA-Gegnern wurde es, die „Pegidioten“ von den Straßen oder Plätzen zu verscheuchen, um auf alle diese Weise zu verhindern, dass – gar noch als „befreiender Tabubruch“ verkleidet – deren „Rassismus“ und „(Latenz-) Faschismus“ in die Öffentlichkeit gelange.

So erzwungener Rückzug tatsächlichen Meinens oder Sprechens ins Nichtöffentliche löst aber keinerlei Spannungen. Vielmehr unterbleibt dann gerade das, was doch ein entscheidender Vorteil repräsentativer Demokratie ist. Ernst Fraenkel nannte ihn einst die „Veredelung des empirisch vorfindbaren Volkswillens“. Die besteht darin, dass im öffentlichen Diskurs Publizisten und Politiker in rationale, unanstößige, diskursiv anschlussfähige Sprache überführen, was sich an Denkweisen oder Interessensbekundungen an den Stammtischen und auf den Internetseiten der Nation ausdrückt – und dort eben mit oft ganz unzulänglichen, ja primitiven Mitteln, die ihrerseits manch hetzerische Dynamik entfalten. Unterbleibt dann eine „Veredelung“ des so Vorgebrachten, so wird den von ihren Eliten alleingelassenen einfachen Leuten bald schon eine akzeptable Sprache fehlen, in der sie ihre Sichtweisen und Anliegen unanstößig ausdrücken könnten. Eine solche Sprache wird sogar entwunden, wenn es vor allem Geßlerhüte politischer Korrektheit zu grüßen gilt, doch viel weniger Wert auf eine treffende Beschreibung realer Phänomene gelegt wird. Weil aber heutzutage vor allem rechte Beschreibungen, Denkfiguren und Interessen als politisch inkorrekt ausgegrenzt werden, bleibt die Rechte eben in verlachten, anstößigen Dialekten befangen, während die Linke ihre hochsprachlichen Künste immer beredter zur Schau stellt – so wie in Dresden bei den Veranstaltungen von PEGIDA-Gegnern und „Pro-Demonstranten“.

Auf diese Weise aber entsteht im rechten Bereich des politischen Meinungsspektrums eine „Repräsentationslücke“. Diese hat eine offenkundige und eine subtile Dimension. Die offenkundige erkennt man darin, dass sich zwar viele respektable Parteien von der politischen Mitte bis zum linken Rand drängen, es rechts von der sich als mittig verstehenden Union aber lange Zeit nur schmuddelige Parteien gab. Die konnte man nun wirklich nicht ins republiktragende Parteiensystem integrieren. Erst mit der AfD entstand eine Partei, die immerhin verspricht, vom Grundkonsens unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung aus die Repräsentationslücke rechts der Union zu füllen.

Die subtile Dimension dieser Repräsentationslücke ist sogar noch wichtiger. Sie besteht darin, dass rechte Denkfiguren und Interessen nicht nur als solche verpönt sind, sondern sich obendrein nicht länger in einer passablen Elitensprache ausdrücken lassen. Mehr noch: Selbst an sich unanstößige Formeln und Aussagen werden wahrgenommen wie bloß aufgesetzt, auf Täuschung berechnet und schräg klingend, sofern sie – sozusagen – „von den Falschen“ verwendet werden. Das sieht man, für solche Zusammenhänge einmal sensibilisiert, aufs Deutlichste an Pegida. Patriotismus klingt da gleich nach Chauvinismus, Europäertum nach verstocktem Dünkel, Islamisierung wie ein reines Hirngespinst, Abendland wie ein arroganter Ausgrenzungsbegriff. Wer von den Herausforderungen einer Einwanderungsgesellschaft spricht, wird sofort als Ausländerfeind oder gar Rassist erkannt, und wer kulturelle Schwierigkeiten mit manchen Muslimen thematisiert, gilt rasch als anti-islamisch. Was hingegen klar und ziemlich vernünftig formuliert ist, wie die publizierten Forderungen von Pegida, das ist dann gar nicht zu glauben, weil ja doch nur hilflose oder verblasene Töne authentisch sein können. Erklingen dann diese, so bestätigen sie umgekehrt, was man ohnehin schon weiß: Pegidisten gehören nicht zu uns, sondern müssen ausgegrenzt werden – und zwar im Namen von Toleranz und Integration.

Doch weil PEGIDA ohnehin nicht die Festungen des „juste milieu“ berannte, sondern einfach in diese Repräsentationslücke eindrang und in ihr viel Platz und große Resonanz fand, versagten diesmal die üblichen Methoden im „Kampf gegen rechts“. Da war nämlich nichts auszugrenzen, was eigentlich dazugehören wollte; vielmehr wurde nur eine schon vollzogene innere Kündigung auch noch öffentlich kundgetan. Das führt aber zur brisanten Frage, wer denn nach einem Verschwinden von PEGIDA und seinen Ablegern das in dieser Repräsentationslücke angesammelte, aufgrund weit verbreiteter Wahlabstinenz an der parlamentarischen Machtzuweisung unbeteiligte Wählerpotential an sich binden könnte – sei es bei einer Protestwahl oder gar auf Dauer? Mag da noch jemand auf die „sozialdemokratisierte“ CDU setzen? Wird wohl die AfD nach Abschluss ihrer Richtungsstreitigkeiten absorptionsfähig sein? Oder wird, die durch PEGIDA aufgewiesenen Chancen vor Augen, sich eines Tages eine mit wirklicher Führungspotenz ausgestattete populistische Partei entwickeln und dann ernten, was allzu selbstgerechte Politiker gesät, Pegidianer aber nur zur Kenntnis gebracht haben? Gerade angesichts des Fortgangs unseres soziokulturellen Wandels hin zu einem Einwanderungsland, womöglich auch unter dem Eindruck künftiger islamistischer Anschläge oder ethnischer Konflikte in deutschen Großstädten ist nichts anderes zu erwarten, als dass die der Repräsentationslücke entstammende Dynamik auch dann weiterwirken wird, wenn PEGIDA selbst einem erloschen Vulkan gleichen sollte. Im Übrigen sollte keiner glauben, dass sich in Deutschland das für Europa so untypische Fehlen einer rechtspopulistischen Partei durch Ausgrenzung von deren möglichen Wählern auf Dauer stellen lässt – statt durch deren Einbindung in den Verfassungsbogen und in die Anhängerschaft zweifelsfrei demokratischer Parteien.[33]

 

IV. Ostdeutsche „Tiefenschichten“ des PEGIDA-Phänomens

1. Warum Dresden?

Warum wurde aber gerade Dresden zum Brennpunkt dieses so vielschichtigen Konflikts, der um PEGIDA herum ausgetragen wurde? Kristallisationspunkt war jene Facebook-Gruppe, aus der sich später das Organisatorenteam von PEGIDA rekrutierte. Den Spannungsdruck steigen ließ die Zunahme von Bürgerkriegsflüchtlingen und Asylbewerbern in den letzten wenigen Jahren. Bei der Zuweisung der eintreffenden Migranten zu ihren neuen Aufenthaltsorten gab es in Sachsen nicht immer viel Geschick, was mancherlei öffentlichkeitswirksame Gegenreaktionen auslöste. Deren Motiv war freilich nicht, dass man selbst schon schlechte Erfahrungen mit Zuwanderern gemacht hätte. Vielmehr fehlten solche Erfahrungen überhaupt – und somit auch gute Erfahrungen. Dann freilich kommt es auch leicht zur Angst vor dem unbekannten Neuen, zumal unter dem Eindruck einer auf Negatives fokussierten Berichterstattung in den Medien. Und somit ist es durchaus kein Rätsel, warum man sich um Einwanderung gerade dort sorgt, wo es noch wenig Einwanderer gibt: Man will bei sich einfach gar nicht erst jene Probleme entstehen sehen, welche die Politik anschließend nicht mehr bewältigen kann.

In dieser Gesamtlage waren es insgesamt drei Gründe, die PEGIDA ausgerechnet in Dresden aufwachsen ließen. Erstens brauchte es schon eine Großstadt, idealerweise mit dicht besiedeltem Umland, damit aus so zufälligen Anfängen wie denen PEGIDAs ein Massenphänomen werden konnte. Zweitens gelten Sorgen ob der Zukunft unserer Einwanderungsgesellschaft in Deutschland als eine Zwangsvorstellung von Konservativen. Also konnte nur in einer Stadt mit konservativer Grundstimmung die Verbindung von Asyl- und Islamisierungsthematik eine so große Wirkung entfalten. Außer Dresden wird man in Ostdeutschland aber keine eher konservative Großstadt finden. Deshalb zündete PEGIDA auch nur in Dresden so richtig, nicht aber im eher linken Leipzig – oder gar im Westen. Und auch in Dresden hätte PEGIDA längst nicht so viel Aufsehen erregt, wäre die Gegenreaktion nicht so scharf gewesen. So aber war sie, weil diese Stadt bei der Rückeroberung des Gedenkens an ihre Zerstörung aus der Besetzung durch Rechtsextremisten ein besonders sensitives Anti-Rechts-Netzwerk entwickelt hat. Dieses sprang sofort auf PEGIDA an, attackierte diesmal aber – statt bloßer Neonazis – auch mehr und mehr normale Leute und erzeugte so als Gegenreaktion weiteren Zulauf.

Die bundesweite Öffentlichkeit hatte damit wieder ihre „Ossis aus dem Tal der Ahnungslosen“, über deren politische Zurückgebliebenheit man sich nun selbstgerecht aufplustern konnte. Denn im Grunde bestätigte jene „Xenophobie samt Islamfeindschaft“, die so vielen das Kernmotiv von PEGIDA zu sein schien, sehr viele Vorurteile, die man gemeinhin über die Neuen Bundesländer hegt: Die Werte der Demokratie sind dort nicht verwurzelt; ein großer Teil der Bevölkerung hat extreme und rassistische Einstellungen; die Leute sind undankbar, ungebildet und grob. Obendrein beklagen sie sich über „Islamisierung“ in einem Landesteil fast ohne Muslime; nennen sie Politiker „Volksverräter“, die ihnen so schöne Städte und so gute Straßen beschert haben; und beschimpfen sie Medien als „Lügenpresse“, die ihnen doch nur aufklärerisch zeigen, wer sie wirklich sind: dumme Ossis, die nicht zur offenen, modernen Gesellschaft der Wessis passen und weltweit unser Land in Verruf bringen. Falls aber solche Vorwürfe nicht stimmen: Was machte dann PEGIDA zu einem vor allem im Osten resonanzreichen Phänomen?

 

2. Die Empfindung politischer Machlosigkeit

Immer wieder zeigen demoskopische Umfragen, dass viele Bürger gerade Ostdeutschlands meinen, auf politische Entscheidungen keinen Einfluss zu haben – oder gar Grundlegendes durch Wahlen ändern zu können.[34] Eben deshalb ist es unter PEGIDA-Demonstranten so populär, nun auch Volksabstimmungen zu fordern. Mitunter setzen sie die heutige Lage sogar mit jener zu DDR-Zeiten gleich: Schon wieder übersehen Politiker reale Missstände; sie hören nicht aufs Volk; und die Medien berichten einfach das, was die Politiker sehen und lesen wollen. 1989 hatte man einem solchen Regime auf der Straße sein Ende bereitet; warum also nicht auch jetzt? Und so entstanden ganz illusorische Hoffnungen, mit Demonstrationen allein könne man in einer repräsentativen Demokratie wie der unseren Weitreichendes verändern.

Für das Verstehen des PEGIDA-Phänomens reicht es aber nicht aus, solch irrtümliche Parallelisierungen wie ein „Paradox“ zu behandeln. Weiter führt es, nachwirkende DDR-Prägungen zu bedenken. Hierzu gehört vor allem die DDR-typische Trennung von Privatem und Öffentlichem. Sie führte – unter anderem – zur Ansicht, echte Demokratie gäbe es im Wesentlichen nur dort, wo die Regierenden das vollzögen, was man selbst und seinesgleichen für richtig hält. „Der Staat müsste doch…“ – so beginnen viele Vorwürfe an Politiker in Ost wie West. Im Denk- und Verhaltensmuster von PEGIDA-Anhängern zeigt sich die hieraus entstehende Demokratiekritik so: „Wir Bürger haben ein Problem mit der drohenden Überfremdung unseres Landes. Ihr Politiker seid an diesem Problem schuld. Ihr ignoriert es aber, geht es jedenfalls nicht an. Und dagegen demonstrieren wir jetzt auf der Straße!“ Im Grunde verlangt PEGIDA von der Politik nicht mehr als die Erfüllung ihrer Pflicht: das Sich-Kümmern um solche Probleme, die man selbst als bedrohlich empfindet, von der politischen Klasse aber wegdiskutiert oder kleingeredet fühlt. Doch wer – wie PEGIDA – dann nicht bedenkt, dass die eigene „Bewegung“ ja nur ein Teil des Volkes ist und deshalb mit anderen Gruppen um politischen Einfluss zu konkurrieren hat, der erachtet dann leicht die Kluft zwischen den eigenen Wünschen und den eintretenden Politikerreaktionen als „undemokratisch“. Auf diese Weise vermengt sich richtiges Fordern mit falschem Urteilen.

Die politische Klasse wiederum verweist bei solchen Repräsentationskonflikten gerne auf parlamentarische Mehrheiten sowie auf jene frei getroffenen Wahlentscheidungen, die zu solchen Mehrheiten geführt haben. Doch nicht ebenso gerne mögen Politiker öffentlich in Erwägung ziehen, dass ihr eigenes Politik- und Personalangebot womöglich an den Wünschen vieler Wähler vorbeizielt, was diese entweder in die Wahlenthaltung oder zum Votieren für Protestparteien treibt. Für beide Reaktionen werden dann jene Bürger, die den etablierten Parteien innerlich gekündigt haben, von denselben Politikern kritisiert, die solche Reaktionen ihrerseits überhaupt erst hervorgerufen haben. Und so entsteht eine wechselseitig verursachte Entfremdungs- und Empörungsspirale. Genau in diese Stimmungslage hinein wirkt nun die Erinnerung an die Friedliche Revolution: Damals gelang es, die Politiker zur Kenntnisnahme nicht nur ihrer eigenen, sondern auch der im Volk empfundenen Interessen zu zwingen – und so möge es wieder sein. Genau das ist die Hoffnung hinter dem Ruf „Wir sind das Volk“.

 

3. Sorgen ob sich vollziehender Veränderungen Deutschlands

Viele Veränderungen, die unweigerlich auf unsere Einwanderungsgesellschaft zukommen, werden als drohender Verlust von Beheimatung im eigenen Land empfunden. Dieses Gefühl, oft vorschnell als „Rassismus“ etikettiert, ist in Ostdeutschland besonders stark. Einesteils ist dort, nach einem über zwanzigjährigen Transformationsprozess, die Gesellschaft gerade erst wieder zur Ruhe gekommen. Da löst es nicht gerade Freude aus, wenn ein weiterer Veränderungsschub in Aussicht steht. Andernteils wirkt manches nun Anstehende auf viele Ostdeutsche wie ein „déjà vu“ – nur dass man den gesellschaftlichen Wandel diesmal nicht wie im März 1990 selbst durch freie Wahlen herbeigeführt hat, sondern ihn wie von westdeutschen Elitegruppen aufgezwungen empfindet. Hinzu kommt, dass die Ostdeutschen den alltäglichen Umgang mit Fremden zu DDR-Zeiten nicht einüben konnten, weshalb das neue Fremde weniger als Chance oder mögliche Bereicherung, sondern eher als ein Risiko empfunden wird.

Weil das Ende der DDR für deren Bürger nun aber einen wirklichen Heimatverlust bedeutete, wurde zur prägenden Erfahrung, dass man seine Heimat verlieren kann, ohne sie je zu verlassen. Es reicht, wenn sich die Umwelt über eigene Anpassungswünsche hinaus verändert – und man angesichts dessen objektiv machtlos ist. Eben das befürchten viele PEGIDA-Anhänger nun als Folge der von Deutschland passiv hingenommenen Einwanderung, zumal jener aus moslemischen Kulturkreisen. Als deren Konsequenz sehen sie nämlich eine – „Islamisierung“ genannte – Veränderung bislang selbstverständlicher und gerne aufrechterhaltener Kulturmuster voraus. Eben das möchten sie von der Politik schon vorsorglich abgewendet wissen.

 

4. „Islamfeindlichkeit“ als „religiöse Unmusikalität“

Ferner äußert sich in PEGIDAs sogenannter „Islamfeindlichkeit“ im Grunde nur das, was Jürgen Habermas einst „religiöse Unmusikalität“ genannt hat. Der SED-Staat war erfolgreich darin, dass in der DDR Religiosität weithin schwand. Religion wurde so zu einem allenfalls von außen her erkannten, doch nicht länger von innen her verstandenen „Gefühl“ oder „Sachverhalt“. Wer aber selbst keine ihn bereichernden religiösen Erfahrungen gemacht hat, der nimmt Religion leicht überhaupt für eine Feindin von Vernunft und Modernität. Breitet sich dann Religion neu aus, oder tut das gar eine im Land neue Religion, so erlebt man derlei wie einen soziokulturellen, gesellschaftlichen und – vor allem – politischen Rückschritt. Dann kann es wie eine Bürgerpflicht wirken, sich gegen ihn zu wehren.

Genau das ist der zentrale Deutungsschlüssel zum Verständnis der „Islamfeindlichkeit“ von PEGIDA. Durchaus nicht nährt sich diese aus einer besonderen Zuneigung zur „jüdisch-christlichen Abendlandkultur“. Die Rede von der ist selten mehr als ein rhetorisches Versatzstück. Was als Islamfeindlichkeit aufscheint, ist vielmehr Religionsverachtung schlechthin. Sie trifft das Christentum nur deshalb nicht, weil es in Ostdeutschland ohnehin keine fühlbaren gesellschaftsprägenden Gestaltungsansprüche mehr erhebt.

Anders verhält es sich mit dem Islam. Jener Islam, der es in die Medien schafft, ist in der Regel hässlich und abschreckend wie Boko Haram oder der Islamische Staat. Verständlicherweise wünscht ihn sich kaum jemand für Deutschland. Hingegen ist der Islam vieler muslimischer Einwanderer für diese eine Art „transportable Heimat“. Die wird umso wichtiger, je ferner man seiner ursprünglichen Heimat lebt. Solche Religion wird dann auch ernstgenommen – und will ebenfalls von anderen ernstgenommen werden. Deshalb hat der Islam für viele Migranten einen sehr anderen, sehr viel wichtigeren „Sitz im Leben“, als ihn bei den meisten Deutschen das Christentum hat.

Wer nun „religiös unmusikalisch“ ist, wie das aufgrund ihrer biographischen Prägungen die allermeisten Ostdeutschen sind, der versteht dann eben auch nichts von der inneren Anziehungskraft des Islam – und auch nichts von dessen seelischen Tröstungen für Menschen, die fortan in einer anders geprägten Kultur leben. Leicht nimmt er dann die ihm bekannten, auch schrecklichen Ausprägungen des Islam für dessen Ganzes – und unterschätzt die Wandlungsmöglichkeiten dieser Religion unter den prägenden Bedingungen unserer westlichen Kultur.

Das alles zeigt, dass „gegen die Islamisierung des Abendlandes“ aufzustehen zwar sehr wohl ein wichtiges Motiv der PEGIDA-Anhänger ist. Doch zugleich wird klar, wie unzureichend dessen Erfassung mit einem Begriff wie „Islamfeindlichkeit“ ist. Im Wesentlichen geht es um die misslingende Begegnung einer areligiösen Gesellschaft mit einer noch nicht erkalteten, sondern im Alltag fühlbare Gestaltungsansprüche erhebenden Religion.

 

5. Verlangen nach „Gerechtigkeit“

Obendrein gehört zu den Tiefenschichten des PEGIDA-Phänomens tief empfundener, doch ungern eingestandener Neid. Er lässt sich auch als „Verlangen nach Gerechtigkeit“ rationalisieren. Solcher Neid, zumal in seiner Erscheinungsform als besonders intensives Verlangen nach „sozialer Gerechtigkeit“, wuchs im Osten parallel zum Wandel der egalitären DDR-Gesellschaft hin zur auf Konkurrenz gebauten westlichen Gesellschaft. Im Westen findet die Quelle solchen Neidempfindens bzw. Gerechtigkeitsverlangens ihr Gegenstück in der sozialen Spreizung unseres Landes zwischen kapitalistischen Globalisierungsgewinnern und solchen Arbeitnehmern, die – auch durch Einwanderung billiger Arbeitskräfte – zur Reallohnstagnation gezwungen wurden. Und obendrein treten nun immer mehr Asylbewerber und Bürgerkriegsflüchtlinge als weitere Gruppe von Anspruchsträgern ins Ringen um mehr Gerechtigkeit und um sozialen Ausgleich.

Diese Konkurrenzlage wird einesteils verschärft durch rechtliche und ethische Überzeugungen dahingehend, dass Asylbewerber und Bürgerkriegsflüchtlinge im Wesentlichen gemäß – wenn auch minimalen – deutschen Sozialstandards zu behandeln sind. Andernteils fällt der jetzige Anstieg der Zuwanderung in eine Zeit, da es zur erwarteten Staatspraxis geworden ist, dass die Haushalte von Bund und Ländern ausgeglichen zu sein haben. Also wird die Finanzierung von Asylbewerbern und Bürgerkriegsflüchtlingen zum innerstaatlichen Nullsummenspiel: Was für Einwanderer ausgegeben wird, steht für andere Zwecke nicht zur Verfügung. Eben das nährt vielerlei Empfindungen verletzter Gerechtigkeit auf Seiten derer, die zum Steueraufkommen beitragen.

Zum PEGIDA-Phänomen gehört somit auch eine neue Spannungslinie in unserer Gesellschaft: Zur Spannung zwischen „oben“ und „unten“ kommt jetzt eine weitere Spannung unten hinzu, nämlich die zwischen den „kleinen Leuten“ hierzulande sowie den – wie sie letztlich auf Hartz IV-Niveau gestellten – Bürgerkriegsflüchtlingen, Asylbewerbern und Armutsmigranten. Existenzielle Bedrohungsgefühle werden auf diese Weise geweckt. Mancher Kitt, der die PEGIDA-Demonstranten verbindet, ist somit ein diffuses Gefühl des Zukurzkommens – sei es seit der Wiedervereinigung, sei es in der entstehenden Einwanderungsgesellschaft.

 

V. PEGIDA als gesamtdeutsche Herausforderung

Blickt man von diesen soziokulturellen Tiefenschichten her auf PEGIDA, so drängt sich die Vermutung auf, dass es sich dabei um ein in Ostdeutschland zwar besonders ausgeprägtes, doch auf die neuen Bundesländer durchaus nicht beschränktes Phänomen handelt. Es scheint eher so zu sein, dass der Osten, und zwar aufgrund seiner fragilen Umstände, einmal mehr als jene „Avantgarde“[35] fungiert, die – wie bei der Auflösung von gewerkschaftlich gesicherten Arbeitsbeziehungen oder bei der zunehmenden sozialen Bindungslosigkeit politischer Parteien – frühzeitig erkennen lässt, was bei Fortgang der laufenden Veränderungsprozesse wohl auch auf den Westen zukommen wird.

Das eine sind jene realen Herausforderungen, von denen oben die Rede war. Das andere ist der politisch-kulturelle Umgang mit jenen Diskursen, in denen solche Herausforderungen politisch folgenreich thematisiert, perspektiviert und in legitimierbare Handlungsoptionen umgesetzt werden. Diesbezüglich ist zu erkennen, dass viele sinnstiftende Großerzählungen unseres Landes unter Druck geraten sind. Damit ist aber eine zentrale Machtfrage erreicht. Denn bei der Auseinandersetzung, welche Narration weiterhin als selbstverständlich gelten darf, welche andere aber als gleichsam „häretisch“ behandelt werden soll, geht es im Kern um „kulturelle Hegemonie“ – und darum, wer sie besitzt bzw. gegen wen verteidigt. Das PEGIDA-Phänomen wiederum steht nun aber quer zu wichtigen bundesrepublikanischen Großerzählungen – etwa zu jenen von der liberalen und rundum diskursoffenen pluralistischen Demokratie, vom soziale Gerechtigkeit in Aussicht stellenden Wohlfahrtsstaat, vom partnerschaftlichen Verhältnis zwischen Religion und Staat, vom rundum vorteilhaften Wandel einer „homogenen Volksgemeinschaft“ hin zu einer „multikulturellen Gesellschaft“. Und eben weil es mit den etablierten Großerzählungen unseres Landes nicht so recht zu fassen war, löste das PEGIDA-Phänomen derart heftige, den konkreten Anlass weit übersteigende Abwehrreaktionen aus.

Sie ermöglichten es wirklich nicht, mit PEGIDA zunächst diagnostisch und dann gleichsam therapeutisch zurechtzukommen. Kaum war etwa – mit dem recht einstimmig von Politik und Medien vorgetragenen Hinweis auf unseren angeblich alternativlosen Umgang mit Asylbewerbern und Bürgerkriegsflüchtlingen – der konkrete Anlass der PEGIDA-Proteste aus dem Bereich akzeptabler Diskurse ausgegrenzt, tauchten ja gleich weitere Infragestellungen bisheriger bundesdeutscher Deutungsselbstverständlichkeiten auf: beim Verhältnis von repräsentativer zu plebiszitärer Demokratie, beim Spannungsfeld von europäischer Einigung und demokratisch beeinflussbarer Nationalstaatspolitik, sowie beim Interessenkonflikt zwischen westlicher Bündnispolitik und einer appeasement-artigen Haltung gegenüber Russland.

Allein im Deutungsschema von „Ausländerhass“ oder „Islamfeindlichkeit“ war und ist das alles offenbar nicht zu verstehen, zu erklären oder gemeinwohldienlich handzuhaben. Solange man weiterhin gerade das versucht, wird es allenfalls gelingen, PEGIDA zu verscheuchen oder durch Totschweigen kleinzubekommen. Doch verschwinden wird durch derlei Maßnahmen ganz gewiss nicht, was da im PEGIDA-Phänomen sichtbar geworden ist. Zu arbeiten wäre deshalb an der Bewältigung jener realen Herausforderungen, die PEGIDA nicht geschaffen, sondern nur vor aller Augen geführt hat. Sie reichen von der gesetzlichen Regulierung und administrativen Handhabung der Einwanderung nach Deutschland über den Versuch, unsere Einwanderungsgesellschaft kulturell sowie unter fortbestehendem Religionsfrieden zusammenzuhalten, bis hin zur Behebung politischer Repräsentationsmängel durch geeignete plebiszitäre Instrumente. Und mit je weniger Arroganz wir uns an solche Arbeit machen und in die sie begleitenden Diskurse gehen, um so Besseres wird für unser Land entstehen.

 

 

Anmerkungen

[1] PEGIDA steht für „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“. Das ist eine merkwürdig überkomplexe, in der Praxis aber überaus schlicht gehandhabte und aus beiden Gründen recht irreführende Selbstbezeichnung. Im Übrigen ist PEGIDA viel besser als eine – verlässlich organisierte – periodische Demonstration zu verstehen denn als eine „Bewegung“: Es gibt weder einen mit politischen Funktionen ausgestatteten Führer noch einen irgendwie fassbaren Führungsprozess innerhalb des – allein zu finanziell-praktischen Zwecken – gegründeten PEGIDA-Fördervereins.

[2] Um nicht schon mit der Bezeichnung eine Bewertung zu verbinden, wird im Folgenden von „Pegidianern“, „PEGIDA-Demonstranten“ oder „PEGIDA-Leuten“ gesprochen.

[3] Solche Kritik haben vor allem sächsische CDU-Politiker sowie insbesondere der Direktor der sächsischen Landeszentrale für politisch Bildung, Frank Richter, auf sich gezogen.

[4] Siehe Vorländer, H. / Herold, M. / Schäller, S.: Wer geht zu PEGIDA und warum? Eine empirische Umfrage unter PEGIDA-Demonstranten in Dresden, = Schriften zur Verfassungs- und Demokratieforschung 1/2015, Dresden 2015 (http://tu-dresden.de/die_tu_dresden/fakultaeten/philosophische_fakultaet/ifpw/poltheo/news/studie_vorlaender_herold_schaeller). Die auf der die Studie vorstellenden Pressekonferenz verwendete Präsentation findet sich unter http://tu-dresden.de/aktuelles/news/Downloads/praespeg.

[5] Rucht, D. u.a.: Protestforschung am Limit. Eine soziologische Annäherung an Pegida, Berlin 2015 (http://www.wzb.eu/sites/default/files/u6/pegida-report_berlin_2015.pdf). Weiter Materialien aus dieser Studie finden sich unter www.wzb.eu/de/pressemitteilung/untersuchung-zur-dresdner-pegida-demonstration.

[6] Diese Studie ist inzwischen auch monographisch publiziert: Geiges, L. / Marg, St. / Walter, F.: PEGIDA. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, Bielefeld 2015. Sie wird im Folgenden als Walter u.a. zitiert; siehe ferner http://www.demokratie-goettingen.de/blog/studie-zu-pegida. In Walters Studie findet sich ein Großteil des inzwischen zu PEGIDA erschienenen Schrifttums zitiert, weshalb nachstehend auf derlei Angaben weitgehend verzichtet wird.

[7] Patzelt, W.J. / Buchallik, P. / Scharf, S. / Paul, C.: Was und wie denken PEGIDA-Demonstranten? Analyse der PEGIDA-Demonstranten am 25. Januar 2015, Dresden. Ein Forschungsbericht. Dresden 2015 (https://wjpatzelt.de/?p=138).

[8] Die folgenden Zahlen stammen aus Walter, PEGIDA, a.a.O., 66ff.

[9] Die nachfolgenden Zahlen stammen aus der Studie von Patzelt u.a.: Was und wie denken PEGIDA-Demonstranten?, a.a.O., 14ff.

[10] Siehe hierzu die grobe Schätzung in Patzelt, PEGIDA-Demonstranten, a.a.O., 26f, v.a. Tabelle 11.

[11] Diese Papiere finden sich unter folgenden Links: http://europenews.dk/de/node/88178; https://legida.eu/images/legida/Dresdner_Thesen_15_02.pdf; http://www.epochtimes.de/Pegida-Dresdener-Charta-fordert-muslimische-Verbaende-zur-Abgrenzung-vom-Terror-auf-ISIS-Boko-Haram-Al-Qaida-a1224034.html.

[12] So die Titel von einigen Zeitungsinterviews des Verfassers. Eine aktuell gehaltene Liste seiner Medienäußerungen zu PEGIDA findet sich unter der Rubrik „Publikationen“ auf seinem Blog wjpatzelt.de.

[13] Siehe Walter u.a., PEGIDA, 71-77. Um die Denkwelt der Gegendemonstranten zu verstehen, ist es im Übrigen unverzichtbar, Facebook-Seiten wie PEGIDA#watch oder NOPEGIDA zu verfolgen. Wann immer man dort Redeweisen wie die von „Pegidioten“ als „braunem Ungeziefer“ liest, drängt sich im Übrigen die Frage auf, ob manche Haltungen von PEGIDA-Gegnern wohl nicht auch unter einen kulturalistischen Rassismus-Begriff fallen könnten. Eine Charakterisierung des Selbstverständnisses zumal der die Konfrontation mit Pegidianern suchenden Gegendemonstranten findet sich u.a. in Patzelt, W.J.: Edel sei der Volkswille. Was brodelt da eigentlich unter der Pegida-Oberfläche: Nationalismus, Rassismus, Faschismus? Vielleicht geht es ja auch eine Nummer kleiner“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 17 vom 21. Januar 2015, S. 12.

[14] Das entsprechende Schrifttum ist umfangreich dokumentiert in Walter u.a., PEGIDA. Exemplarisch zur Kritik siehe den Blog-Beitrag von Niggemeier, St.: Studie über Pegida-Demonstranten zeigt: Pegida-Demonstranten lehnen Teilnahme an Studie ab (http://www.stefan-niggemeier.de/blog/20210/studie-ueber-pegida-demonstranten-zeigt-pegida-demonstranten-lehnen-teilnahme-an-studie-ab/).

[15] So einige Daten aus den Präsentationsfolien beider Studien; siehe Anm. 5 und 6.

[16] So etwa Jennerjahn, M.: Was ist los mit der sächsischen Politikwissenschaft?, Blogbeitrag v. 21. Januar 2015 (http://www.miro-jennerjahn.eu/tag/werner-patzelt/).

[17] Die Texte entsprechenden Kritiker sind zugänglich über https://wjpatzelt.de/?p=149 („Patzelt-Kritiker melden sich“), https://wjpatzelt.de/?p=147 („Neue Patzelt-Kritiker“) und https://wjpatzelt.de/?p=145 („Wie weiter mit der Kritik an Patzelt?“).

[18] Siehe hierzu die Repliken des Verfassers unter https://wjpatzelt.de/?p=119 („Antwort auf meine Kritiker“) und https://wjpatzelt.de/?p=128 („Patzelt-Kritiker sprachlos“).

[19] Reuband, K.-H.: Wer demonstriert in Dresden für Pegida? Ergebnisse empirischer Studien, methodische Grundlagen und offene Fragen, in: MIP 21, 2015, 133-143.

[20] Auf die Facebook-Seiten von PEGIDA und Pegidianern zu blicken ist aus zwei Gründen für ein Verständnis von PEGIDA sehr wichtig. Erstens klingen dort von sozialer Kontrolle freie „O-Töne“ auf, die nicht selten abstoßend sind. Zweitens speist sich ein Großteil des Zusammengehörigkeitsgefühls von Pegidianern – seit Wegfall der auf sie gerichteten Medienaufmerksamkeit – vor allem aus ihrer Facebook-Kommunikation. Beachtlich ist in diesem Zusammenhang, dass die Fanseite von PEDIGA derzeit knapp 160.000 Likes aufweist. Zum Vergleich: Die NPD-Seite hat gut 116.000 Likes, die CDU-Seite gut 89.000 Likes, die SPD-Seites gut 81.000 Likes – die Fanseite von Angela Merkel hingegen über eine Million Likes.

[21] Blickle, P. / Venohr, S.: Dürfen wir vorstellen: Die Freunde von Pegida, in: DIE ZEIT v. 5. Februar 2015 (http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-02/wer-ist-pegida-facebook-daten).

[22] Wikipedia definiert: „Als Troll bezeichnet man im Netzjargon eine Person, welche Kommunikation im Internet fortwährend und auf destruktive Weise dadurch behindert, dass sie Beiträge verfasst, die sich auf die Provokation anderer Gesprächsteilnehmer beschränken und keinen sachbezogenen und konstruktiven Beitrag zur Diskussion enthalten. Dies erfolgt mit der Motivation, eine Reaktion der anderen Teilnehmer zu erreichen“ – und idealerweise eine solche, die den anderen so aussehen lässt, wie man ihn gerne sehen und dargestellt haben möchte.

[23] Siehe Patzelt u.a.: Was und wie denken PEGIDA-Demonstranten?, a.a.O., 10f.

[24] Diskussionen von und mit PEGIDA-Gegnern legen die Vermutung nahe, dass sie das Objekt ihrer Gegnerschaft wohl tatsächlich vor allem von Facebook-Seiten, aus der (früheren) Medienberichterstattung sowie vom Hörensagen kennen, selten aber offenen Sinns selbst bei PEGIDA-Veranstaltungen waren. Das muss auch nicht wundern, wurde doch in der Regel zeitgleich demonstriert und gegendemonstriert, so dass es sich gerade bei den Aktiven gar nicht vermeiden ließ, zu einer ziemlich binnenbezüglichen Einschätzung ausgerechnet anderer zu kommen.

[25] Zu den Einstellungen der Dresdner im Hinblick auf PEGIDA und PEGIDA-spezifische Themen hat Wolfgang Donsbach eine repräsentative telefonische Befragung durchgeführt; siehe Donsbach, W.:Welche Einstellungen führen zu Pegida? Neue Umfrage der Dresdner Kommunikationswissenschaft. Pressemitteilung (http://donsbach.net/aktuell-unsere-studie-zu-was-erkl%C3%A4rt-sympathie-f%C3%BCr-pegida/).

[26] Sie sind großenteils dokumentiert in Walter u.a., PEGIDA, 131-149.

[27] Zur Entstehungsgeschichte und zum Organisationsteam von PEGIDA siehe Walter u.a., PEGIDA, 11-31.

[28] Samt Verweis auf den einschlägigen richtigstellenden Artikel in der Sächsischen Zeitung vom 15. Februar 2015 siehe http://www.pi-news.net/2015/03/saechsische-zeitung-pegida-chef-lutz-bachmann-posierte-nicht-als-hitler/.

[29] Im Unterschied zur Zeit zwischen November und Anfang Februar wäre das inzwischen leicht möglich, weil die Jahreszeit nun die Demonstrationen nicht mehr in abendlicher Dunkelheit stattfinden lässt. Es ist eine uneingelöste Bringschuld der Dresdner Medien, dass sie die so wünschenswerte Sachverhaltsaufklärung verweigern.

[30] Eben dies vorhersehend, hatte eine Minderheit von PEGIDA-Beobachtern von Anfang an Kommunikation mit den bei PEGIDA versammelten besorgten bzw. empörten Bürgern gefordert – was umgekehrt viele PEGIDA-Gegner gerade nicht für die richtige Weise hielten, mit Pegidianern umzugehen.

[31] PEGIDA-Gegner legen vielfach Wert darauf, dass sie nicht „gegen PEGIDA“, sondern „für unsere freiheitliche Ordnung“ demonstrieren. Das ist zwar ein rundum gutes Demonstrationsanliegen. Doch je mehr es – wie in Dresden – bloß auf die Teilnahme an eintrittslosen Freiluftkonzerten mit mehr oder minder berühmten Bands hinausläuft, die ihre Musik nun eben „für eine offene Gesellschaft“ spielen, um so unpolitischer und letztlich bloß selbstbezogener wird solches Demonstrieren.

[32] So zu verfahren, widerspricht gewiss den Leitgedanken pluralistischer, repräsentativer Demokratie. Wo machtgestützt ausgegrenzt wird, kann sich ein zum gemeinsamen Lernen veranlassender Diskurs nämlich nicht entwickeln – und der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ schon gar nicht. Es ist beunruhigend, dass sich im Streit um PEGIDA gerade jene so diskursschwach verhalten haben, die sonst den offenen Diskurs so gerne loben. Auch in einer offenen Gesellschaft gilt anscheinend das berühmte Diktum von Karl W. Deutsch: Wer Macht hat, meint nicht hinzulernen zu müssen.

[33] Zu diesem Kontext von PEGIDA siehe v.a. Walter u.a., PEGIDA, 179-207.

[34] Im Grunde deuteten sich die in PEGIDA sichtbar werdenden Probleme ostdeutschen Demokratieverständnisses schon lange an; siehe etwa Patzelt, W.J.: Demokratievertrauen und Demokratieakzeptanz in den neuen Ländern, in: Vogel, B. (Hg.): Politische Kultur in den neuen Ländern. Herausforderungen und Perspektiven, St. Augustin / Berlin 2008 (Konrad Adenauer-Stiftung), S. 7-36.

[35] Siehe v.a. Engler, W.: Die Ostdeutschen als Avantgarde, Berlin 2004.

 

 

 

Bildquelle: http://gfds.de/volksverraeter-und-luegenpresse-die-pegida-und-ihre-woerter/

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