Wanderwitzens Ostkunde

Wanderwitzens Ostkunde

ursprünglich erschienen am 6. Juni 2021
unter gleichem Titel auf auf „Hallo Meinung“
(https://www.hallo-meinung.de/wanderwitzens-ostkunde/)

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Warum wählt in den neuen Bundesländern gut jeder Fünfte die AfD, im Westen aber nur rund jeder Zehnte? Deutschlands anscheinend bester Ossi-Kenner, der Ost-Beauftragte der Bundesregierung, hat uns den Grund neulich genannt: Weil die Ostdeutschen „diktatursozialisiert“ sind. Das wirke sich auch drei Jahrzehnte nach dem Ende der DDR noch aus. Die einzige Hoffnung für Ostdeutschlands Demokratie besteht also darin, dass die – sozusagen – „Erlebnisgeneration“ der DDR irgendwann das Zeitliche segnet.

Dann bleibt zwar weiterhin unklar, warum im längst so vorbildlich-demokratischen deutschen Westen die AfD trotzdem meist um die zehn Prozent der Stimmen erhält. Doch womöglich gibt es sogar in Helldeutschland einen Bodensatz an Faschisten und Rassisten. Nun ja, die BRD war eben ein reaktionär-restaurativer Staat, der nie mit den Nazis so wirklich gebrochen hat! Umso mehr wundert es freilich, dass der jahrzehntelange antifaschistische Kampf des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden anscheinend keine besseren Früchte getragen hat als die Wahlerfolge der AfD. Vielleicht war der SED-Staat ja eben doch in erster Linie eine Diktatur. 

Wenn unser Wanderwitz einer lernbegierigen Zuhörerschaft genau das mitteilen will, dann stimme ich ihm gerne zu. Tatsächlich zeigen vergleichende Untersuchungen politischer Kultur, dass in den neuen Bundesländern bis heute ein anders akzentuiertes Demokratieverständnis als in Westen vorherrscht. Empirische Studien führen auch vor Augen, dass es im Osten weniger Unterstützungsbereitschaft als im Westen für die Demokratie gibt – und zwar nicht für die Demokratie als Idee, sondern für die Weise, in der Demokratie hierzulande praktiziert wird. Ferner findet man in Ostdeutschland schon seit den 1990er Jahren eine noch viel größere Politikverdrossenheit, Politikerverdrossenheit und Parteienverdrossenheit, als man sie auch im Westen erkennt. Dazu trug nicht wenig bei, dass seit der – angeblich so sehr missratenen – Wiedervereinigung „die Politik“ aufs Heftigste beschimpft wurde, und zwar zunächst von Seiten der politischen Linken, nun seit vielen Jahren von Seiten der politischen Rechten. Obendrein kann man zeigen, dass eine nachwirkende DDR-Sozialisierung samt dem damals alle persönlichen Fehlhaltungen überdeckenden Staats-Antifaschismus auch dazu beigetragen hat, dass freiheitliches Verfassungsdenken zwischen Ostsee und tschechischer Grenze noch viel weniger in Blüte steht als im Westen. 

Im Übrigen ist ja auch die Diffamierungslust, das Praktizieren von Cancel Culture und die anti-rechte Gewalttätigkeit bundesdeutscher Antifaschisten nicht wirklich ein leuchtendes Vorbild für jene AfDler, von deren Beschimpfung man sich doch hoffentlich nicht auch noch ein Wahlkreuz bei SPD und Grünen erhofft. Und auf ein Wahlkreuz von AfDlern bei der CDU wollen wir ohnehin nicht ausgehen; das wäre ja ein verbotenes „Fischen am rechten Rand“! Soll man also zehn bis an die 25 Prozent AfD-Wähler nun einfach einer sich schon jahrelang radikalisierenden Partei überlassen? Wohl auch nicht. Am besten verbieten wir die AfD einfach – wenigstens solange, bis es in der ehemaligen DDR nur noch klar westdeutsch geprägte Generationen von lupenreinen Demokraten gibt!

Das Letztere wird das wohl auch unser guter Wanderwitz so ähnlich sehen. Trotzdem sollte er jene Schuld nicht beschweigen, die niemand anderes als seine CDU an den Wahlerfolgen der AfD hat – und zwar nicht nur im Osten, sondern im ganzen Land. Fällt denn ihm und seinesgleichen gar nicht auf, dass etwa in Sachsen heute genau jene Regionen AfD-Land sind, in denen man früher einen schwarzen Besenstil aufstellen konnte und ins Parlament gewählt bekam? Waren wohl die Ossi-Faschisten solange durchaus gut zu leiden, wie sie noch die CDU wählten? Oder wäre es besser gewesen, wenn damals eben doch nicht die CDU solche Leute an sich gebunden hätte, sondern wenn noch viel, viel mehr von ihnen Wähler der NPD und der DVU gewesen wären? Oder war es vielleicht sogar gut, dass so viele Jahre lang Helmut Kohls CDU all jenen eine vernünftige politische Heimat bot, die ohne entsprechende Bindekraft der CDU nun einmal leicht ins Radikale abschwirren? Und vielleicht waren ja sogar – und sind weiterhin – viele AfD-Wähler gar keine diktaturverdorbenen Faschisten und Rassisten? 

Was für ein abwegiger Gedanke! Rote Karte – und aus ist es mit dem Zuhören oder dem Weiterlesen! 

Doch es zeigen nun einmal die regelmäßig nach Parlamentswahlen durchgeführten und größenordnungsmäßig durchaus verlässlichen Wählerwanderungsanalysen, dass die AfD-Wählerschaft sich zu besonders großen Teilen aus ehemaligen CDU-Wählern und aus solchen früheren Nicht-Wählern zusammensetzt, die inzwischen auf Seiten der AfD ein für sie passendes Politik- oder Protestangebot zu erkennen meinen. Obendrein wandern mittlerweile die Restbestände der Arbeiterklasse zur AfD ab: frühere SPD-Wähler im Westen, einstige Wähler von PDS und Linkspartei im Osten. Eine einleuchtende Erklärung dafür hat unlängst Sarah Wagenknecht veröffentlicht. Also täte ein CDU-Berufspolitiker wie unser Ostbeauftragter gut daran, nach Fehlern seiner eigenen Partei zu suchen.

Allerdings – so schließt er messerscharf – „es kann nicht sein, was nicht sein darf“. Nein, die CDU jener großen Vorsitzenden, zu deren Zeiten Wanderwitz seine Parteikarriere machte, wird gewiss an der AfD nicht schuld sein. Wie, da gäbe es sehr wohl Hinweise auf eine Verursacherrolle der CDU? Etwa, dass die AfD aus Kritik an der Eurozonenpolitik Merkels entstand? Nun, in der AfD sammeln sich eben europafeindliche Chauvinisten! Dass der AfD zuneigt, wer Merkels Energiepolitik kritisiert? Das liegt doch daran, dass sich in der AfD Atomfans mit Klimaleugnern zusammentun! Und es hätten seit dem Jahr 2015 Deutschlands Probleme mit Hunderttausenden von jetzt so recht nicht integrierten Zuwanderern der AfD auf ihre bleibende Erfolgsspur verholfen? Ja, allein schon an einem solchen Gedanken erkennt man doch, dass die AfD wirklich nur eine Sammlungsbewegung von Rassistinnen und Rassisten ist! Denn alle diese Politiken der CDU waren – wie Deutschlands Wanderwitze genau wissen – nicht nur gutgemeint und ohnehin alternativlos, sondern außerdem sehr gut getan. Allenfalls kurzsichtige Rücksichtnahmen auf die dummen Konservativen in der Union können womöglich Anlass gegeben haben zur einen oder anderen vielleicht ja ansatzweise berechtigten Kritik an Merkels glanzvoller Politik.

Zwar behaupten viele AfDler, sie hätten sich ihrer neuen Partei wegen von ihnen erkannter Politikfehler der CDU zugewandt. Und auch deshalb, weil sich inzwischen sogar die Union zur Befürworterin von Gendersprache gemacht habe, von linker Identitätspolitik, von ächtender Jagd auf politisch nicht 150-Prozentige. Doch natürlich durchschauen wir solche Lügen. Mit denen lenken AfDler nur davon ab, dass sie jetzt endlich das gefunden haben, wonach ihresgleichen immer schon suchte: eine rassistische Nazi-Partei. Und man lasse sich bitte nicht davon täuschen, dass AfDler – im engen Schulterschluss mit Corona-Leugnern und mit Verschwörungstheoretikern – gegen eine sogenannte „Merkel-Diktatur“ wettern. Denn nur gegen die Kanzlerin und gegen die von Merkel für sympathisch befundenen Grünen haben sie etwas. Doch letztlich projizieren sie über einen psychischen Abspaltungsmechanismus auf Deutschlands Meisterstaatsfrau bloß das, was die AfD eigentlich anstrebt: die Neuerrichtung einer faschistischen Diktatur. Wie gut, dass der Analytiker Wanderwitz uns das jetzt endlich so klar gesagt hat!

Allerdings gerate ich soeben ins Zweifeln, ob denn wirklich die DDR jene Fascho-Diktatur war, welche die AfDler bis heute prägt. Hat Wanderwitz hinsichtlich der „Diktatursozialisation“ vielleicht etwas Wichtiges zu sagen unterlassen? Nämlich dass Deutschlands Faschismus womöglich in der DDR im Gewand des Antifaschismus weiterwirkte? Und dass die von solchem Nachwirken Betroffenen in Ost und West dies deshalb so selten mitbekommen, weil sie stets im Hochgefühl der eigenen moralischen Überlegenheit leben?

Nein, diesen Gedanken lassen wir lieber. Der lenkte ja nur ab von der politisch korrekten Kritik allein an der AfD. Oder an den Ossis aus Dunkeldeutschland. Und vom Lob für die Analysekraft von Deutschlands oberstem Ostkundler.

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