Demokratie ist nicht „unkaputtbar“!

Demokratie ist nicht „unkaputtbar“!

ursprünglich erschienen bei Hallo Meinung unter dem folgenden Link: https://www.hallo-meinung.de/demokratie-ist-nicht-unkaputtbar/ und als Podcast unter https://www.youtube.com/watch?v=U6X5n2BxJas&feature=youtu.be

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Eigentlich wissen wir Deutschen sehr gut, wie zerbrechlich eine Demokratie sein kann. Die von Weimar hielt ganze 14 Jahre. Allerdings war sie auch nie stabil. Sie trug die Erblasten des Ersten Weltkriegs, nachdem die Generäle das Eingeständnis der Niederlage den Zivilisten zugeschoben hatten. Die neue Demokratie belastete, dass die Siegermächte mehr auf eine dauernde Demütigung Deutschlands ausgingen als auf eine bestandsfähige europäische Friedensordnung. Die Weimarer Republik war geschlagen mit der Inflation bis 1923, dann mit der Weltwirtschaftskrise seit 1929. Sie musste sich eher auf Vernunftrepublikaner stützen, als dass sie auf überzeugte Demokraten hätte zählen können. Sie litt unter einer Verfassungsordnung, welche die politische Macht zwischen Reichstag, Reichsregierung und Reichspräsidenten versickern ließ. Es machte sie noch schwächer, dass die Parteien nicht unters Joch einer gerade in schweren Zeiten zu tragenden Verantwortung gezwungen wurden. Und sie fand mit den Kommunisten und den Nationalsozialisten zwei einander wechselseitig bekämpfende Todfeinde.

Doch auch eine stabile, sich selbst jahrzehntelang als Vorbild feiernde Demokratie wie die der USA funktioniert seit Längerem nicht wirklich so, wie sie sollte. Wir dürfen uns also nicht damit beruhigen, dass die Demokratie unserer Bundesrepublik nun seit siebzig Jahren stabil ist und wirklich alles besitzt, um sich auch stabil zu erhalten: von einer guten Verfassung über staatlich organisierten Verfassungsschutz bis hin zu Generationen, die aus der Geschichte gelernt zu haben glauben. Doch es kommt obendrein auf die Haltung an, in der man mit seinem Staat umgeht. Zu wahren ist auch der Geist der Gesetze, nicht nur ihr Buchstabe. Deshalb braucht eine demokratische Ordnung solchen Gemeinsinn, der die Bürgerschaft zusammenhält; und sie nimmt Schaden, wenn sich allseits Misstrauen verbreitet – Misstrauen in den Staat, und Misstrauen in die Mitbürgerinnen und Mitbürger.

Da aber blinken viele Warnsignale in Deutschland auf. Am penetrantesten leuchtet unter ihnen die Behauptung, wir hätten doch gar keine Demokratie mehr. Die längst bestehende Diktatur der Kanzlerin habe sich inzwischen zu einer Corona-Diktatur mit eigenem Ermächtigungsgesetz samt dem Einsatz von Wasserwerfern gegen Aufmüpfige entwickelt. Bürgerrechte würden immer weiter eingeschränkt. Die Systemparteien hielten sich im Bündnis mit der Lügenpresse an der Macht; und alternative Parteien schlügen sie mit der Verfassungsschutzkeule zu politischen Krüppeln. Bald würden wohl auch die Wahlen so gefälscht wie unlängst in den USA. 

Dass gar nicht wenige in Deutschland derlei Unsinn wirklich glauben und entlang einer solchen Wirklichkeitssicht auch handeln, muss wirklich alarmieren. Doch ebenso muss alarmieren, dass selbsternannte antifaschistische Freiheitskämpfer nicht nur bei Veranstaltungen wie dem Hamburger G20-Gipfel eine Spur der Verwüstung durch ganze Stadtteile ziehen, sondern dass linksextreme Gewalt nachgerade zur bundesdeutschen Politikfolklore geworden ist. Ob in Berlin oder in Leipzig oder in Frankfurt, oder neulich in Braunschweig beim Abfackeln von Fahrzeugen einer als fremdenfeindlich ausgegebenen Behörde: Immer wieder nehmen sich Leute das Recht, ihre eigenen politischen Ansichten nicht nur für die einzig richtigen zu halten, sondern sie auch noch durch Akte der Einschüchterung und des Terrors zur Geltung zu bringen.

Und wieder andere ermorden Ausländer, bedrohen anders Aussehende, greifen Menschen in Synagogen an, tun es beim Erschießen von Politikern der einstigen RAF nach – oder freuen sich immerhin über derlei Gewalttaten. Teils geschieht das klammheimlich, teils sogar ganz offen. Zu Recht habe es den und die getroffen, und übrigens: Wer sich nicht wehrt, der lebt verkehrt! Gerade im Internet können sich viele gar nicht hämisch genug über unsere Politiker äußern, über unsere Parteien, über unseren Staat. Da bestärkt man sich wechselseitig im Glauben, jetzt sei die Zeit zur „großen Weigerung“ gekommen. Die Probleme unseres Systems wären ohnehin unlösbar, denn: „Das System ist das Problem!“ Da fehlt dann nur noch der Spruch „Die Revolution ist machbar, Herr Nachbar“, um sich voll und ganz in jene Tradition zu stellen, aus welcher der heutige Linksextremismus stammt. Man muss ja gar nicht das vielfach verhasste Bild vom Hufeisen bemühen, an dessen Enden Links- und Rechtsextreme einander gegenüberstünden, um zu erkennen: Für vom Tod bedrohte Menschen, für verletzte Polizisten, für eine eingeschüchterte Familie fühlt es sich ziemlich gleich an, ob einem das alles von Faschisten oder von Antifaschisten zugefügt wurde. Ohnehin ändern noch so edle Anliegen nichts am Unrecht einer bösen Tat.

Viele Leute, die noch im Erwachsenenalter politisch pubertieren, zanken sich heute wie uneinsichtige Kinder um die Frage, wer denn mit dem entgleisenden Streit angefangen habe. Man kann die entstandenen Spannungen aber auch sachlich erörtern. Dann muss man etwa die folgenden Fragen stellen. Ist Deutschlands heutige Antifa wirklich nur eine Reaktion auf weiterlebenden oder neu entstandenen Faschismus? Sind rechtsradikale Äußerungen aus den Reihen von AfD-Anhängern und AfD-Mitgliedern wirklich nur eine Reaktion auf die Ausgrenzung ihrer Partei durch das politisch-journalistische Establishment? Gibt es da nicht auf beiden Seiten auch ideologievernarrte Überzeugungstäter, die Streit deshalb suchen, weil sie sich bei ihm wohlfühlen wie bei einer Paintballschlacht – vielleicht noch mit dem zusätzlichen Kick, dass da fallweise echte Steine fliegen und man mit Wasserwerfern oder Tränengas Bekanntschaft macht? 

Doch weshalb sollte die große Menge der Friedfertigen und Vernünftigen im Land zu so üblen Spielen gute Miene machen? In deren Reihen empfindet man tatsächlich Sorgen um die Grundlagen unserer Demokratie. Also will man unsere freiheitliche Ordnung schützen, und das ist auch gut so. 

Die Frage ist allerdings, wie diese Sorgen in demokratiesicherndes Handeln umzusetzen wären. Wie hilfreich ist es, in bequemer Distanz und möglichst unter Gleichgesinnten einfach nur zu plaudern über den Zerfall unserer Öffentlichkeit, auch über die Entstehung von wechselseitig verbarrikadierten Meinungshöhlen, aus denen immer wieder ausgerückt wird, um auf die jeweiligen Gegner mit Worten oder Taten einzuschlagen? Wieviel Gutes wird eigentlich dadurch bewirkt, wenn man schlicht zur Ausgrenzung und Bekämpfung der jeweils anderen aufruft? Oder wenn nur der Endsieg über Gegner als moralisch angemessen gilt – nicht aber der Versuch, durch Gesprächsangebote an alle Seiten zur Friedensstiftung beizutragen? Und schwächen nicht jene, die unserer Demokratie verteidigen wollen, die Chancen darauf, wenn sie die Beobachtung einer Partei durch den Verfassungsschutz bereits als Beweis dafür nehmen, jener Tatbestand sei zweifellos gegeben, der durch eine Beobachtung doch überhaupt erst erkundet werden soll? Das nämlich wäre jener aktive Kampf einer Partei gegen unsere freiheitliche demokratische Grundordnung, den die Sprache des deutschen Verfassungsrechts als „Extremismus“ bezeichnet.

Gewiss kann man über die Antworten auf alle diese Fragen streiten. Man sollte auch über sie streiten. Man sollte sie aber zuvor ernsthaft beantworten – und nicht aufs Geratewohl. Schon gar nicht sollten wir uns dann gut fühlen, wenn wir jeweils nur in den eigenen Kreisen über die bösen anderen schimpfen – die einen über Rechtspopulisten und Rechtsradikale, die anderen über Systemlinge und Volksverräter. Wohin eine politisch-kulturelle Spaltung führt, die mit wechselseitiger Kommunikationsverweigerung beginnt und sich dann in einer freudig zur Schau gestellten Verachtung der jeweils anderen fortsetzt, haben wir in den letzten US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkämpfen gesehen, und dann erst recht beim Eindringen eines verhetzten Mobs ins Kapitol zu Washington. Lassen wir es bei uns nie mehr so weit kommen. Wehren wir also wirklich den Anfängen – und belassen wir es nicht bei jenem oft sehr selbstgerechten Posieren, das heute „Haltung zeigen“ heißt.

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