Unverzeihliche Wahlen

Unverzeihliche Wahlen

Einst reichte es, zwei Arten von Wahlen zu unterscheiden. Da waren die unfreien Wahlen, bei denen man zu wählen hatte, wen man wählen sollte. Vorsichtshalber wurde die Stimmabgabe überwacht, um Fehler beim Wählen zu verhindern. Und da waren die freien Wahlen. Da wählte man, wen man wählen wollte. Anschließend ärgerte man sich, wenn zu viele anders als genau so gewählt hatten, wie man es selbst es für richtig hielt. Dann reute es, wenn man zu wenig Einsatz bei der Willensbildung vor der Wahl gebracht hatte. Doch man nahm das Wahlergebnis hin – wie die Leute im Frühmittelalter ein vermeintliches Gottesurteil.

Heute gibt es eine dritte Art von Wahlen. Das sind die unverzeihlichen Wahlen. Bei denen wurde falsch gewählt. Das Unverzeihliche besteht in der Falschheit der Wahlentscheidung. Nur ein Akt tätiger Reue kann dann zur Erlassung dieser Sünde führen. Er besteht darin, die Wahl rückgängig zu machen und sich öffentlich für sie zu schämen. Die einem Menschen angemessene Freiheit besteht nämlich nicht darin, zu wählen, was man will. Sie besteht darin, freiwillig zu tun, was man soll.

Ich bin nicht sicher, ob alle die Ironie im letzten Absatz bemerken; deshalb dieser Hinweis. Doch ziemlich viele werden mitbekommen haben, dass es diese dritte Art von Wahlen in Deutschland wirklich gibt. Eine solche Wahl fand vor etlichen Wochen im thüringischen Erfurt statt bei der Wahl eines Ministerpräsidenten, eine andere vor kurzem im sächsischen Radebeul bei der Wahl eines Kulturamtsleiters. Das werden wohl auch nicht die einzigen „unverzeihlichen Wahlen“ bleiben. Wahrscheinlich dürfen wir noch erleben, dass sich ein Parlament nach öffentlichem Druck auflöst, weil nämlich die Wähler unverzeihlich falsch abgestimmt haben – und jetzt die Gelegenheit bekommen sollen, sich zu bessern.

Mehreres läuft da schief.

Erstens: Anscheinend nehmen manche ihre Stimmabgabe nicht so ernst, dass sie wirklich nur das wählten, was sie im Konfliktfall auch öffentlich vertreten wollten. Doch das Wählen und Abstimmen ist in einer freiheitlichen Demokratie nun einmal deutlich mehr als bloß ein unverbindliches Ritual. Beides hat Folgen. Genau die sollte vorher bedenken, wer seine Stimme abgibt – und sollte anschließend zu seiner Entscheidung auch stehen.

Zweitens: Anscheinend meinen manche, eine Wahl oder Abstimmung wäre nur ein Signal dafür, sich jetzt endlich zu engagieren, und zwar ergebniskorrigierend. Doch Wahlen und Abstimmungen sind der Abschluss eines Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses, in den man sich vorher einzubringen hat. Unverzeihlicher als ein unwillkommenes Abstimmungsergebnis ist deshalb ein Treibenlassen der Dinge vor der Wahl oder Abstimmung. Vielleicht aber sollte man an noch mehr Stellen Gebrauch von jener Weisheit machen, die in der Staffelung von Vorwahlen und Wahlen oder in den parlamentsüblichen drei „Lesungen“ beim Entscheidungsprozess besteht.

Drittens: Anscheinend meinen manche, eine Wahl oder Abstimmung könne nur dann legitim sein, wenn sich gerade nicht der Rivale oder Gegner durchsetzt. Das kann man so sehen – insbesondere dann, wenn einem die Welt vorkommt wie der Kampf von Gut gegen Böse, der Anständigen gegen die Unanständigen, des Wahren gegen das Falsche. Doch eben die Trennung von „Wahrheit“ und „Mehrheit“ ist die Voraussetzung für Freiheit. Wo dies nicht begriffen oder nicht praktiziert wird, fangen die Fundamente von Demokratie zu bersten an.

Wer sich also nicht vom jeweils konkreten Streit ums klare Denken bringen lässt, wird wohl erkennen: Unverzeihlicher als eine unwillkommene Wahl ist es, nach einer Wahl die Debatte darüber zu führen, ob diese Wahl denn nicht rückgängig gemacht werden müsse. Sobald wir das nämlich zur Verfassungspraxis erheben, werden Wahlen und Abstimmungen nicht mehr den – um der Freiheit willen erforderlichen! – politischen Streit fürs erste beenden. Vielmehr werden sie ihn sogleich weiter anfachen. Auch wird bald jeder damit rechnen, dass sich ein medial unterstützter Aufstand gegen Wahlergebnisse politisch lohnt. Doch so beginnt erfahrungsgemäß der Weg hin zu Revolution und Bürgerkrieg. Den aber sollten wir um keinen Preis betreten.

Zwar kann wirklich – und wird mitunter – bei einer Wahl oder Abstimmung „der falsche“ oder „das Falsche“ gewinnen. Doch in einer Demokratie ist „nach der Wahl“ ja auch immer „vor der Wahl“. An den Früchten konkreter Amtsführung wird man dann schon erkennen, welcher Samen da ausgebracht wurde. Dann kann man Verantwortliche zur Rechenschaft ziehen, Gewählte zum Rücktritt treiben, sie auch wieder abwählen. Und glücklicherweise stehen wir in Deutschland nicht auf so schwankendem Grund, dass alles politisch wenig Wünschenswerte uns bald schon in den Untergang risse.

Also wäre uns allen anzuraten: Engagieren wir uns immer rechtzeitig – und akzeptieren wir sogar als falsch Erscheinendes genau dann, wenn zu ihm ein im Grundsatz vernünftiges Verfahren führte. Viel mehr Intelligenz scheint nämlich in Institutionen verankert zu sein, und viel weniger in den Köpfen oder Seelen von politisch erregten Menschen.

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