Populismus – und wie mit ihm umzugehen ist

Populismus – und wie mit ihm umzugehen ist

Werner J. Patzelt

 

Populismus – und wie mit ihm umzugehen ist,
gerade von Parlamentariern

Vortrag im Rahmen einer gemeinsamen Vorlesungsreihe der Universität Erfurt und des Thüringer Landtags am 15. November 2018 im Plenarsaal des Landtags Thüringen. Zum kommunikativen Umfeld dieses Vortrags siehe auch https://wjpatzelt.de/2018/12/04/erfurter-albereien/.

I. Die Herausforderung
1. Populismus als Schimpfwort

„Populismus“ ist inzwischen zum recht unverbindlichen politischen Schimpfwort geworden. Wenn einem Aussagen über Politik missfallen, diese Aussagen dabei halbwegs verständlich sind und auch noch bei einer größeren Anzahl von politischen Gegnern Beifall finden: Genau dann liegt es nahe, solche Aussagen „populistisch“ zu nennen – und jene Leute „Populisten“, die sie vortragen. Der im Wort „Populismus“ verdichtete Vorwurf ist dabei ein doppelter: Erstens gehören sich die als „populistisch“ bezeichneten Aussagen ohnehin nicht – und zweitens gehört es sich schon gleich gar nicht, für solche Aussagen auch noch Beifall zu spenden oder zu erheischen.

Wenn man zusätzlich noch mitteilen will, das Kritisierte wäre außerdem gefährlich, dann lässt man den Populismusbegriff in den Begriff des Radikalismus übergehen: Nicht nur abstoßend wäre das Geäußerte, sondern auch noch überscharf und verletzend. Und wann immer selbst der Vorwurf des Radikalismus nicht zu reichen scheint, greift man zum Begriff des Extremismus: So moralisch abseitig wäre die kritisierte Position, dass deren Vertreter sich nun wirklich außerhalb jeder Vernunft betätigten; und letztlich stellten solche Leute die freiheitliche demokratische Grundordnung in Frage, ja wollten sie beseitigen.

Die Motivation, gegen solche Extremisten zu kämpfen, quillt bereits aus dem Begriff des Populismus, falls man diesen nutzt zur Bezeichnung einer Vorform erst des Radikalismus, dann des Extremismus. Und die politische Zielrichtung der eigenen Abwehrmotivation macht man klar, indem man dem Begriff des Populismus klärende Vorsilben oder Zusätze beigibt, also vom Rechtspopulismus und vom Linkspopulismus spricht, vom Populismus von oben und dem von unten, vielleicht auch vom „Populismus der Mitte“, aus dem dann der „Extremismus der Mitte“ erwachsen mag.

 

2. Allzu simple Populismusbegriffe

Das alles kann man so machen – und tut das auch so, und zwar nicht nur in Deutschland. Man muss dann allerdings auch einige Folgen für den politikanalytischen sozialwissenschaftlichen Sprachgebrauch in Kauf nehmen – zumindest beim Versuch, politikwissenschaftliche Diskurse auch für die politisch interessierte Bürgerschaft verständlich zu halten. Den politikwissenschaftlichen Sprachgebrauch prägen dann nämlich Definitionsformeln wie die folgenden:

  • Populismus ist eine simplifizierende, den sogenannten „gesunden Menschenverstand“ preisende und darin anti-intellektuelle Rhetorik;
  • Populismus ist ein prinzipienloser, mit leeren Versprechungen arbeitender politischer Opportunismus;
  • Populismus ist ein demagogischer Stil des politischen Machterwerbs, der – statt auf Differenzierung – auf Polarisierung setzt, desgleichen eher auf symbolische Effekte als auf praktische Problemlösungen;
  • Populismus ist das Westentaschenformat politischer Ideologie;
  • Populismus ist die – mitunter durchaus von Charisma getragene – Zurschaustellung vulgärdemokratischen Denkens.

Das alles ist gewiss nicht verkehrt, nimmt aber jeweils nur Teile von Populismus für das Ganze. Gleichwohl wird in jenen schmalspurigen Definitionsformeln etwas Wesentliches kenntlich, und zwar: Populismus ist ganz indifferent hinsichtlich der – jeweils im „populistischen Stil“ vertretenen – Inhalte. Also muss es nicht wundern, dass Populismus in den unterschiedlichsten politischen Zusammenhängen auftreten kann. Am leichtesten wird er heute fassbar als Rechtspopulismus, doch durchaus auch als Linkspopulismus, häufig auch als Populismus „von oben“ (also seitens der politischen Klasse), und – häufiger noch – als Populismus „von unten“ (also seitens von protestierenden Bürgern). Man findet ihn derzeit besonders oft als nationalistischen Populismus, doch mitunter auch als internationalistischen Populismus. Und je nach Land gibt es ganz besondere, anderswo recht unplausible Kombinationen oder Zuspitzungen von alledem.

 

3. Die Vielfalt realer Populismen

In einer solchen verworrenen Beschreibungs- und Debattenlage wäre es hilfreich, einen analytischen, nicht polemischen Begriff von Populismus verwenden zu können. Ein solcher Begriff sollte dann auch geeignet sein, der weltweiten Buntheit populistischer Phänomene gerecht zu werden. Deren Vielfalt ist wirklich nicht gering. Nicht nur beobachten wir seit vielen Jahren quer über Europa mannigfaltige Rechtspopulismen, die zwar manch Gemeinsames im Nenner haben, doch auch nicht wechselseitig gleichzusetzen sind. Frankreichs „front national“ ist nun einmal etwas ziemlich anderes, als es die „Wahren Finnen“ sind; und die AfD unterscheidet sich in markanten Zügen von Kaczyńskis polnischer Partei für „Recht und Gerechtigkeit“. Auch trat dasjenige, was heute Populismus genannt wird, typusprägend schon seit den 1930er Jahren in Lateinamerika auf – und dabei vorwiegend als Linkspopulismus, nicht als Rechtspopulismus. In Brasilien vollzog sich das unter der Führung von Getulio Vargas, in Mexiko unter der von Lázaro Cárdenas, später in Argentinien unter der von Juan Perón – und in jüngster Zeit unter Lula da Silva in Brasilien, unter Hugo Chavez in Venezuela, unter Evo Morales in Bolivien.

Der Begriff des Populismus seinerseits wurde bereits in den USA des späten 19. Jahrhunderts geprägt, und zwar als Selbstbezeichnung einer Farmerbewegung, die sich gegen den ausbeuterischen Ostküstenkapitalismus richtete. Aus dieser Bewegung entstand 1889/90 die „People’s Party“. Die schaffte es zeitweise sogar in den US-Kongress, wurde aber überflüssig, als die Demokratische Partei etliche ihrer Forderungen aufgriff sowie – im New Deal Roosevelts – sogar in konkrete Politik umsetzte.

Und wer eine besonders breite geschichtliche Perspektive mag, der wird bei der Suche nach historischen Ausprägungsformen des Populismus bereits in den antiken griechischen Stadtstaaten fündig. In der Staatsformenlehre des Aristoteles führt der im Verfassungsstaat, der politeia, immer wieder modisch werdende Populismus zur Pöbelherrschaft, die teils Ochlokratie heißt (von „ochlos“, d.h. der Pöbel), teils Demokratie (von „demos“, d.h. das gemeine Volk). Und die Innenpolitik der römischen Republik war – nachzulesen etwa bei Livius – ganz wesentlich geprägt von den Ständekämpfen und den Auseinandersetzungen zwischen der Senatspartei, den „Optimaten“ (d.h. den selbsternannt oder oligarchisch „Besten“), sowie den Parteigängern der einfachen Leute, nämlich den „Popularen“.

 

4. Umrisse eine komplexen Populismusbegriffs

Hin zu den heutigen Begriffen des „Populären“ und der „Populisten“ ist da auf den ersten Blick bloß ein kurzer Weg. Wir müssen freilich einen längeren und mühsameren Weg einschlagen, um zu einem angemessen komplexen und möglichst zeitübergreifenden Verständnis dessen zu gelangen, was inzwischen als „Populismus“ empfunden und kritisiert wird. Ein wirklich tauglicher Begriff dieser Sache sollte außerdem die komplexen Mischungsverhältnisse zwischen „guter Demokratie“ und „schlechtem Populismus“ erfassen können. Und obendrein sollte ein solcher Begriff klar sein sowie in plausiblen Erklärungszusammenhängen stehen.

Wie sich genau das leisten lässt, wird im Folgenden gezeigt. Konkret werden fünf Elemente von Populismus vorgestellt. Jedes dieser Elemente kann irgendwo zwischen „ganz normal demokratisch“ und „völlig populistisch“ ausgeprägt sein, und alle fünf Elemente können in beliebigen Kombinationen ihrer möglichen Merkmalsausprägungen auftreten. Auf diese Weise lässt sich anhand von nicht mehr als fünf Dimensionen die gesamte Vielfalt des Populismus abbilden – und kann man auf diese Weise hinausgehen über intellektuell oder politisch zwar bequeme, doch den Gegenstand bis hin zur Verballhornung verkürzende Definitionsformeln.

Trotzdem wird es am Ende nicht so sein, dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr erkennt. Die folgende Metapher bietet nämlich stets eine verlässliche Orientierung: Populismus ist nichts weiter als der hässliche Bruder einer schönen Jungfer namens „Demokratie“. Ganz unverkennbar sind es Geschwister aus derselben Familie: Beiden geht es um das Volk – benannt einerseits auf Griechisch als „demos“, anderseits auf Latein als „populus“. Wenn sich dieses Volk aufführt als Horde von Plebejern oder absinkt zum Pöbel, so finden wir Populismus vor – und ebenfalls dann, wenn politische Anführer unverkennbar plebejisch auftreten oder tatsächlich den Pöbel mobilisieren. Insofern ist es für manche Zwecke schon erkenntnisträchtig, einen „Populismus von unten“ von einem „Populismus von oben“ unterscheiden. Obendrein gibt es zwischen einem gesitteten und einem pöbelnden Auftreten sowohl seitens eines Volkes als auch seitens seiner Politiker nahtlose Übergänge. Deshalb ist die meiste Politik in Demokratien weder „völlig frei von Populismus“ noch „rein populistisch“. Und im Übrigen können populistische Anführer immer wieder leicht zu autoritären Demagogen werden – oder sind es von vornherein. Also kann eine populistische Demokratie ganz nahtlos in eine auf populistische Verführungskraft gegründete Diktatur übergehen. Das wiederum mag dazu verleiten, den „guten Populismus“ in Demokratien vom „schlechten Populismus“ autoritärer Herrscher zu unterscheiden. Und so beginnt man das unausweichliche Scheitern eines jede Versuchs zu erahnen, durch Begriffsbildung dort klare Grenzen zu ziehen, wo es solche in jener Wirklichkeit gar nicht gibt, welche es begrifflich zu erfassen gilt.

 

II. Fünf Elemente von Populismus

1. Demagogische Vereinfachungspraxen

Das am leichtesten auffallende Element von Populismus ist die vereinfachte Darstellung von verwickelten Zusammenhängen, und zwar genau dann, wenn diese Vereinfachung nicht in pädagogischer, sondern in demagogischer Absicht vorgenommen wird. Das betreiben freilich auch „lupenreine Demokraten“ wie Deutschlands etablierte Politiker, zumindest in Wahlkampfzeiten oder in Talkshows. Von Populisten unterscheidet sie idealerweise, dass ihr Können über das Zusammenstellen von Phrasen hinausreicht, sie also hin- und herschalten können zwischen den Betriebsarten von Diskurs und von Polemik.

 

2. Repräsentationsfeindliche Entgegensetzung von „unten“ und „oben“

Des weiteren ist Populismus ein Politikstil, der um die Entgegensetzung von „uns da unten“ mit „denen da oben“ kreist, also um den Widerstreit zwischen „dem Volk“ und „den Politikern“. Genau eine solche Entgegensetzung pflegt in der Behauptung politischer Anführer zu münden, sie verträten „das Volk“ gegen „die da oben“. Manche halten an dieser Behauptung auch dann noch fest, wenn sie selbst an die Spitze eines Staates gelangt sind.

Gewiss ist ebenfalls in einer repräsentativen Demokratie eine Unterscheidung von „Volk“ und „Politikern“ ganz unvermeidlich, denn auch in einer Demokratie stehen die Repräsentanten den Repräsentierten nicht von gleich zu gleich gegenüber, sondern besetzen alle politischen Führungspositionen. Sehr wohl aber wählen die Repräsentierten ihre Politiker ins Amt – oder wählen sie ab bzw. veranlassen sie zum Rücktritt oder Rückzug. Insofern ist das Volk schon wichtiger als seine Politiker. Doch solange die Repräsentanten ihre Ämter ausüben, sind sie nun einmal – und mit Recht – den Repräsentierten an Autorität und Einfluss weit überlegen. Also besteht auch in einer ordnungsgemäß funktionierenden repräsentativen Demokratie ein Gefälle zwischen denen „im Staat oben“ und denen „im Staat unten“.

Den richtigen Umgang mit diesem Gefälle beschreibt die sogenannte „Agentur-Theorie“, die seit einigen Jahren zur internationalen Standardtheorie der Repräsentationsforschung geworden ist. Nach ihr sind die Repräsentierten die politische „Prinzipale“, die Repräsentanten aber deren „Agenten“. Also ist die Ausübung von politischer Autorität eine Dienstleistung für einen Auftraggeber. Umgekehrt ist das Anvertrauen politischer Macht ein Auftrag zur Dienstleistung an einen, der sich – diesbezüglich ein Gleichgestellter – um einen solchen Auftrag bewirbt. Doch leider verhalten sich einesteils die Repräsentanten nicht ausnahmslos rollenangemessen, sondern immer wieder arrogant gegenüber der Bürgerschaft. Andernteils lassen sich auch immer wieder die Repräsentierten auf einen unangemessenen Verhaltensstil mit ihren Politikern ein. Diese sind nämlich Dienstleister unter Dauerbeobachtung mit etlichem Berufsstress, nicht aber zu missbrauchen als Prügelknaben, als Projektionsflächen für Hass, oder als Fußabstreifer selbstgerechter Wutbürger. Eben den falschen Stil beim Umgang aufbegehrenden Volks mit leichtfertig verachteten Politikern erfasst das dritte Element von Populismus.

Außerdem funktioniert dieser falsche Stil sowohl vulgärdemokratisch als auch autoritär. In beiden Erscheinungsformen ist er für eine freiheitliche Ordnung gefährlich. Vulgärdemokratischer Populismus kritisiert nämlich nicht nur die politische Klasse und macht dabei Vorwürfe, die oft genug sogar stimmen. Sondern solcher Populismus bestreitet frei gewählten Politikern überhaupt ihre Legitimität: Nichts weiter als „Volksverräter“ seien sie, die auf „das Volk“ nicht hörten; und ihr „freies Mandat“ missbrauchten sie für ideologische Experimente. Solche Vorwürfe geht aber an den Kern demokratischer Repräsentation, nämlich ans Recht von Politikern, nach eigenem Ermessen zu entscheiden – wenngleich unter dem Risiko, anschließend abgewählt zu werden.

Noch größere Gefahr droht politischer Freiheit, wo populistische Anführer sich als wichtigste Anwälte der „einfachen Leute“ aufspielen und glauben machen, eben „um des Volkes willen“ müsse man sich über die „etablierte Politik“ und über deren Regeln hinwegsetzen. Entsprechende Einlassungen gehen meist einher mit Forderungen nach Volksabstimmungen, und zwar insbesondere nach den falschen Arten von Volksabstimmungen. Das sind jene, bei denen gewählte Repräsentanten die Erfüllung ihrer Pflicht verweigern können, politische Streitfragen selbst zu entscheiden, indem nämlich sie unangenehme Sachfragen ganz nach eigenem Ermessen dem Volk vorlegen und sich auf diese Weise jeder persönlichen Verantwortung entziehen. Einmal eingeführt, lassen sich solche Sachplebiszite mit Personalfragen verbinden, ja manipulativ zur Legitimierung persönlicher Machtansprüche nutzen. „Plebiszitärer Cäsarismus“ ist der Fachbegriff für solches Anführertum, das auf populärer Zustimmung gründet, letztlich also: auf der – angeblich – plebiszitär nachgewiesenen Identität von Volks- und Führerwillen. Das Streben nach solcher, meist ganz imaginärer Identität führt aber stets auf autoritäre Abwege. Sowohl dieser identititätsdemokratische als auch jener vulgärdemokratische Populismus missdeuten das mit politischer Repräsentation notwendigerweise einhergehende Gefälle zwischen dem Volk und seinen Vertretern als eine bloße Machtanmaßung und werden eben dadurch zu einer Gefahr für die Demokratie.

 

3. Behauptung der Existenz eines „klaren, einheitlichen Volkswillens“

Kern von Populismus ist die Behauptung, es gäbe so etwas wie einen klaren, einheitlichen Volkswillen. Um den behaupten jene zu wissen, die da rufen „Wir sind das Volk!“. Und gerade einen solchen einheitlichen Volkswillen behaupten auch jene Anführer zu kennen, die sich an die Spitze der „einfachen Leute“ setzen. Als Demagogen im Wortsinn machen sie dann gekonnt glauben, sie wüssten noch besser als ihre Gefolgsleute um das Bescheid, was jene bewegt – und wären genau deshalb die „wahrhaft demokratisch legitimierten“ Anführer des Volks. Je nachdem, um welche Themen es dabei geht und von welchen politischen Traditionen Populisten zehren, bilden sich dann höchst unterschiedliche – und auch verschieden stark ausgeprägte – populistische Ideologien aus.

Doch nichts ist einer pluralistischen Demokratie fremder als der Glaube an die Existenz eines einheitlichen, klaren und somit auch ideologisch-eindeutig aussagbaren Volkswillens. Pluralismus geht nämlich gerade nicht davon aus, es gäbe ein interessenhomogenes Volk, dessen „gemeinsamer Wille“ sich erkennen lasse. Pluralistische Demokratie behauptet auch nicht, hinter der für Entscheidungen nötigen Mehrheit stünde mehr als bloß ein zeitweiliges Bündnis unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen mit oft ganz widersprüchlichen Interessen. Populisten hingegen macht gefährlich, dass sie genau jenen Kompromisscharakter jeder demokratischen Mehrheitsbildung für einen Nachteil halten und sich der Einsicht verweigern, dass überhaupt erst die Trennung von „Mehrheit“ und „Wahrheit“ politische Freiheit ermöglicht.

Doch es kommt in der einer Demokratie nun einmal gerade auf die Mehrheit an, wie kompliziert und unter Inkaufnahme wie vieler Kompromisse sie auch zustande gekommen sein mag. Noch so viele heiße Neins dürfen nicht die Mehrheit derer aushebeln, die – wie matt auch immer – zu einer Regelung „ja“ gesagt haben; und eine Mehrheit wird eben durch schlichtes Auszählen festgestellt, nicht aber durch irgendeine Würdigung der Intensität vorgetragener Behauptungen, man selbst vertrete – im Unterschied zur „bloß quantitativ festgestellten“ Mehrheit – eine Art „qualitativ wahren Volkswillen“. Wie bei der vulgär- oder identitätsdemokratischen Fehldeutung einer Repräsentationsbeziehung werden also auch hier Missverständnisse des Funktionierens realer Demokratie zur ernstzunehmenden Gefahr.

 

4. Selbstsüchtiges politisches Unternehmertum

Ferner – und wie sich schon abzeichnete – gehört zum Populismus der Anführer, der politische Condottiere, bürgerlich auch ein „politischer Unternehmer“ genannt. Das sind Leute, die politische Aufstiegschancen wittern, die aufwühlende oder begeisternde Themen erkennen, und die um solche Themen herum Gefolgschaft gewinnen, sie an sich binden und alsbald verlässliche Führung versprechen auf dem Weg in eine bessere Zukunft. Diese Rolle ist natürlich auch für viele unzweifelhaft demokratische Politiker selbstverständlich – zumal für jene, die Charisma in sich verspüren und solches auch ausstrahlen. Von Populisten unterscheidet sie allenfalls, dass sie ein Amt nicht nur zur Selbstverwirklichung anstreben, sondern auch zum Dienst am Gemeinwohl. Zumal in präsidentiellen Regierungssystemen ohne starke Gewaltenteilung verlockt die herausgehobene Stellung des Präsidenten machtwillige Politiker dazu, gerade „im Namen des Volkes“ die Rolle eines „líder máximo“ anzustreben; und auf gerade diese Weise wurde im 20. Jahrhundert in Südamerika der Linkspopulismus eben populär.

 

5. Populismus als Warnsignal für Störungen im Gefüge repräsentativer Demokratie

Im Übrigen ist das Aufkommen von Populismus stets ein Hinweis auf Störungen im Gefüge repräsentativer Demokratie. Die analytische Kurzformel lautet: Populismus entsteht in Repräsentationslücken und kann sich genau in ihnen festsetzen. Hier beim Kern eines angemessenen Verständnisses von Populismus angelangt, muss zunächst einmal verstanden werden, wie eine perfekte repräsentative Demokratie funktionieren würde.

In deren Bevölkerung gibt es eine Meinungsverteilung zwischen – beispielsweise und grob vereinfacht – „ganz links“ und „ganz rechts“. Natürlich verändert sich diese Meinungsverteilung immer wieder, weil politische Moden oder konkrete politische Herausforderungen nun einmal wechseln. Die jeweilige Meinungsverteilung wird sodann über ein arbeitsteiliges Mehrparteiensystem in den Parlamenten widergespiegelt. Dabei wird für eine immer wieder erforderliche Re-Synchronisierung des mehrheitlich in der Bevölkerung bzw. in der politischen Klasse Gewollten dadurch gesorgt, dass es regelmäßige freie Wahlen gibt. Die aber wollen Politiker und Parteien meist lieber gewinnen als verlieren. Das wiederum zwingt sie – bei Strafe endloser Stimmenverluste – dazu, sich an den Meinungen der für sie wichtigen Wählergruppen zu orientieren.

Allerdings vollzieht sich die „Widerspiegelung“ des vielfältigen und auch widersprüchlichen „empirisch vorfindbaren Volkswillens“ richtigerweise nicht einfach abbildartig, sondern mit solchen Verbesserungen des in der Bevölkerung Gedachten oder Gewünschten, zu denen die Repräsentanten nach näherer Befassung mit den einschlägigen Sachfragen kraft eigenen Urteils gelangen. Ernst Fraenkel, ein Gründervater der bundesdeutschen Politikwissenschaft, nannte das einst die „Veredelung des empirisch vorfindbaren Volkswillens“ hin zu jenem „hypothetischen Gemeinwillen“, den die Leute dann hätten, wenn sie sich ebenso gründlich und umsichtig mit den zu lösenden Problemen befassen könnten, wie das Berufspolitikern möglich und von diesen auch zu verlangen ist.

Wenn diese teils Widerspiegelung, teils Verbesserung des empirisch vorfindbaren Volkswillens aber nicht geleistet wird, dann kommt es zu Störungen im Prozess der politischen Repräsentation. Solche Störungen verdanken sich in der Regel zwei Ursachen. Die eine besteht in einer längerfristig von Bevölkerungspräferenzen abweichenden Politik, die andere in einer unzulänglichen Kommunikation der Gründe für konkret vollzogene Politik hinein in die Bevölkerung. Unter genau solchen Umständen entsteht eine Repräsentationslücke. Einesteils kann sie aufreißen zwischen einem Teil der Bevölkerung und jenem Teil der politischen Klasse, von dem frühere Anhänger sich nunmehr im Stich gelassen, also nicht länger vertreten fühlen. Andernteils kann eine Repräsentationslücke entstehen, wenn das von der politischen Klasse vertretene Meinungs- und Präferenzspektrum stark von der Spannweite dessen abweicht, wie in der Bevölkerung tatsächlich gedacht und geredet wird.

Und insbesondere kommt es dann zu solchen Repräsentationslücken, wenn Sorgen und Themen, die einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung wichtig sind, von der politischen Klasse als nur eingebildet behandelt werden, als nebensächlich, als letztlich nicht ernstzunehmen. Solches vollzog sich etwa in Deutschland 2015 zunächst bei der „Euro-Rettung“, dann bei der – zeitweise wie bedingungslos gehandhabten – Offenheit des Landes für selbstermächtigte Zuwanderung. Es kommt zu solchen Repräsentationslücken auch dann, wenn manche Bereiche des politischen Spektrums von der politischen Klasse bewusst nicht repräsentiert werden. Das geschah – beispielsweise – jahrelang mit deutlich rechtem Denken seitens der CDU. Diese Partei war ja, gemeinsam mit der bayerischen CSU, jahrzehntelang die am weitesten rechts stehende staatstragende Partei und vermochte es im von ihr abgedeckten Bereich des politischen Spektrums durchaus, die meisten Bürger bis hin zum rechten Narrensaum verlässlich an sich zu binden. Doch bei der CDU ließen – „Sozialdemokratisierung“ genannt – neu eingenommene politische Positionen während der Vorsitzendenzeit von Angela Merkel eine Repräsentationslücke hin zum rechten Rand der Bürgerschaft aufreißen. Und erst recht kommt es zu solchen Lücken, wenn große Teile von politischer Klasse und Öffentlichkeit besorgten Bürgern nicht einmal mehr die Aufrichtigkeit ihrer Sorgen abnehmen. In Deutschland wurde beispielsweise jahrelang jeglicher Protest gegen eine als unabwendbar dargestellte Zuwanderung als Ausdruck von Rassismus oder Chauvinismus gedeutet und behandelt.

In allen solchen Fällen, die leicht um Beispiele aus anderen Ländern zu ergänzen wären, entsteht Empörung über die politische Klasse und über solche Massenmedien, die derlei Empörung entgegentreten wollen. „Volksverräter“ und „Lügenpresse“ lauten seit dem Spätherbst 2014 die dafür in Deutschland verwendeten Schlagworte. Und so entsteht ein Resonanz- und Entfaltungsraum für Protestbewegungen und Protestparteien, die neu entstehen oder zusätzliche Unterstützung finden können. Auf funktional äquivalente Weise kamen in den frühen 1980er Jahren die aus der 1968er-Kulturrevolution hervorgegangenen Grünen auf, nachdem die SPD des Bundeskanzlers Schmidt durch ihre Kernenergie- und Sicherheitspolitik am linken Flügel des politischen Spektrums eine Repräsentationslücke hatte entstehen lassen. Und zur Zeit der CDU-Kanzlerin Merkel ereignete sich seit 2013 das spiegelbildlich Gleiche mit der AfD am rechten Flügel des politischen Spektrums, wo vor allem die Euro-Politik und die Zuwanderungspolitik, beides von fast allen etablierten deutschen Parteien unterstützt, zu einer Repräsentationslücke geführt hatten.

Diese Zusammenhänge vor Augen, kann man das fünfte Element von Populismus so umreißen: Je nachdem, ob in einem politischen System eine Repräsentationslücke im linken oder im rechten politischen Spektrum oder sonstwo auftritt, entsteht Linkspopulismus oder Rechtspopulismus oder ein sonstiger Populismus. Und falls die gesamte politische Klasse ohne Resonanz mit großen Teilen der Bürgerschaft zu agieren scheint, dann kann auch ein querfrontartiger Populismus entstehen. Der richtet sich dann als „Populismus von unten“ gegen die gesamte bislang etablierte politische Klasse und mag in der ganzen Breite einer Gesellschaft zu wurzeln.

Weil also Populismus nach Land und Zeit in sehr unterschiedlichen Repräsentationslücken entsteht, ist er auch so vielfältig. Ihn prägen ja politische Themen und Spannungen, die höchst verschieden sein können, allenthalben aber als Folgen von Fehlverhalten der bisherigen Repräsentanten gedeutet werden. Außerdem werden die Erscheinungsformen von Populismus stark von den Eigentümlichkeiten der jeweiligen Regierungs-, Parteien- und Wahlsysteme beeinflusst, welche den gerade aufkommenden populistischen Condottieri dann je besondere Aufstiegsmöglichkeiten erschließen oder eben verstellen. Eine kaum mindere Rolle spielen jene variierenden Selbstverständlichkeiten politischer Kultur, die zu manchen ideologischen Ausprägungen populistischen Gehabes beitragen, manch anderen aber entgegenwirken.

Und natürlich gilt auch hier das sogenannte Thomas-Theorem: „Wenn Menschen eine Situation als gegeben definieren und von dieser Situationsdefinition ausgehend handeln, dann sind die Folgen dieses Handelns real – ganz gleich, wie irreal die Situationsdefinition gewesen sein mag“. Das aber heißt: Populismus kann auch aus rein eingebildeten Repräsentationslücken entstehen – und wird deshalb, je nach der Dynamik öffentlicher Meinung in unterschiedlichen Gesellschaften, erst recht sehr vielgestaltig sein.

III. Antipopulistische Strategien – gerade von Parlamentariern

Überblickt man diese Darstellung der Erscheinungsformen und Ursachen von Populismus, so ist unschwer zu erkennen: Hier liegt eine konzeptuell sehr sparsame Theorie vor, die einesteils leicht nachzuvollziehen ist, andernteils es aber erlaubt, sowohl die Vielfalt der Populismen als auch den nahtlosen Übergang von normalen Verhaltensweisen im demokratischen Konkurrenzkampf hin zu einem demokratiegefährdender populistischer Demagogie zu erfassen. Obendrein lassen sich aus dieser sehr leicht handhabbaren Theorie wirksame Maßnahmen gegen das Entstehen und Weiterwuchern von Populismus ableiten.

1. Lasst keine Repräsentationslücken aufreißen!

Die erste Maxime lautet: Lasst keine Repräsentationslücken aufreißen! Sie wurzelt in der Einsicht, dass aufkommender Populismus in jedem Fall ein Warnsignal für Störungen im Legitimierungsprozess eines politischen Systems ist. Das aber wird gerade in einer Demokratie zu einem besonderen Ärgernis. Und somit erweist sich Populismus als ein sekundäres Problem das auf jenes – vorrangig anzugehende – primäre Problem hinweist, von dessen besser zu vermeidender Existenz das Aufkommen von Populismus nur zeugt. Das wiederum heißt: Man muss – gerade als Parlamentarier und als Partei – alles daran setzen, echte – bzw. nur situationsdefinierend behauptete – Repräsentationslücken zu erkennen und alsbald zu schließen. Letzteres meint: Falls eine Repräsentationslücke durch Politik entstanden ist, die dem Wahlvolk nicht plausibel zu machen ist, dann muss man entweder eine real unplausible Politik ändern, worauf parlamentarische und außerparlamentarische oppositionelle Regierungskontrolle hinzuwirken hat; oder man muss sich auf geduldige „politische Volkspädagogik“ einlassen, falls nämlich die Repräsentationslücke durch ein bloßes Nachhinken populärer Einsichten und Wünsche hinter dem aus guten Gründen politisch Gebotenen entstanden ist – oder falls eine solche Repräsentationslücke ohnehin nur eingebildet wäre.

 

2. Verbessert den „empirisch vorfindbaren Volkswillen“!

Die zweite Maxime lautet: Verbessert den „empirisch vorfindbaren Volkswillen“! Für dessen Verbesserung durch „politische Volkspädagogik“ gelten vier Regeln. Erstens muss man – gerade als Parlamentarier und Parteipolitiker – sorgfältig hinhören, welche Sichtweisen, Sorgen, Ängste, Interessen und Wünsche die jeweils auftretenden Populisten bewegen. Zweitens muss man am Gehörten das Eingebildete vom Realen, das Phobische vom Rationalen, das Unbegründete vom Begründeten unterscheiden. Drittens muss man mit dem bloß Eingebildeten, Phobischen, Unbegründeten argumentativ-zurechtrückend oder – wo nötig – demokratiesichernd-repressiv umgehen. Das entspricht im Grunde dem, was in Deutschland lange Zeit als alleinige Reaktion empfohlen wurde, zumal als alleinige Reaktion auf Rechtspopulismus. Doch – viertens – muss man sich mit dem Realen, Rationalen und Begründeten am Bürgerprotest schon auch konstruktiv auseinandersetzen. Das aber heißt: Parlamentarier und Parteipolitiker, Medien und Zivilgesellschaft haben sich um wirksame sowie rational begründbare Lösungen jener realen Probleme zu bemühen, die von Populisten thematisiert werden, und sie müssen solche Anstrengungen auch klar in die Bevölkerung hinein kommunizieren.

Das alles läuft somit gerade nicht darauf hinaus, populistische Redeweisen nun selbst zu verwenden. Vielmehr besteht der Zweck darin, populistische Demonstrationen oder neue populistische Parteien über ihr fallweises Aufflackern hinaus überflüssig zu machen. Solches Verhalten wiederum entspricht genau den Leitgedanken repräsentativer Demokratie: Was im Staatsvolk an Sichtweisen und Wünschen da ist, das soll in öffentlichen Diskursen erörtert, in den Parlamenten vertreten, dabei zum „hypothetischen Gemeinwillen“ weiterentwickelt und als solcher durch Anstrengungen kommunikativer politischer Führung in der Bevölkerung mehrheitsfähig gemacht oder mehrheitsfähig gehalten werden.

Das ist allerdings mühsam. „Politische Volkspädagogik“ meint nämlich in der Praxis: Demonstrativ hinhören, auch wenn man die Argumente längst kennt; vorgebrachte Behauptungen richtigstellen, selbst wenn man das gegenüber anderen Gesprächspartnern schon tausendmal getan hat; als richtig angesehene Positionen erläutern, und zwar sogar dann, wenn deutlich wird, dass der Gesprächspartner nicht folgen will. Es nutzt für das zu sichernde Vertrauen in repräsentative Demokratie ja wenig, wenn man ihr Funktionieren nur behauptet; vielmehr muss dieses Funktionieren schon auch immer wieder vorgeführt werden – und zwar gerade im persönlichen sowie im medienvermittelten Kontakt zwischen dem „Volk“ und dessen Vertretern. Überhaupt vollzieht sich Legitimation allein durch Kommunikation. Wer diese abbricht, stellt somit die Arbeit an der Aufrechterhaltung repräsentativer Demokratie ein. Das aber sollten wir unter keinen Umständen für richtig halten – und schon gar nicht jener Institution durchgehen lassen, die das Kommunizieren und Parlamentieren doch bereits im Namen trägt: nämlich unseren Parlamenten und deren Parlamentariern.

 

3. Geht in den „kommunikativen Nahkampf“!

Die dritte Maxime lautet „Geht in den den ‚kommunikativen Nahkampf‘!“. Tatsächlich braucht es, gerade in einer Demokratie mit freien Wahlen und diesen vorangehenden Wahlkämpfen, unbedingt den „kommunikativen Nahkampf“ mit politischen Gegnern. Bei ihm geht es weder darum, populistische Wortführer mundtot zu machen, noch darum, sie persönlich zu überzeugen. Das Ziel besteht vielmehr darin, Populisten immer wieder vor einem möglichst großen Publikum argumentativ zu besiegen. Dazu aber muss man die Gegner eben auch vor einem großen Publikum stellen, darf also vor der Konfrontation mit Populisten nicht kneifen – etwa mit dem Argument, diese „verdienten“ es nicht, dass man sich mit ihnen auseinandersetzt.

In Wirklichkeit hilft es nämlich gar nichts, wenn man jene Themen beschweigt, um die herum sich Populismus hochrankt. Denn was man als „nicht salonfähig“ behandelt, das wabert dann eben – von kompetenter Gegenrede unbehelligt – an den Stammtischen der Nation oder in den Echokammern des Internet weiter. Und jene, die man durch Ausgrenzung auf der anderen Seite eines „Trennstrichs“ zwischen den „Guten“ und den „Bösen“ agieren lässt, die bleiben dort schlicht sich selbst überlassen. Beides aber schadet genau jener Demokratie, die man gegen Populisten und Populismus doch verteidigen sollte. Tatsächlich wurde noch nie ein Gegner dadurch besiegt, dass man im Freundeskreis herablassend über ihn schimpfte.

Sich in den Nahkampf mit politischen Gegnern zu begeben, verlangt allerdings nicht nur Fachkompetenz und rhetorisches Können, sondern auch Mut. Der aber fehlt oft – zumal gegenüber jenen politischen Freunden, die einem davon abraten, sich überhaupt auf dieses oder jedes Podium zu setzen und auf Debatten mit Populisten einzulassen. Nicht selten vollzieht sich solches Abraten gar entlang der Unterstellung, in Debatten mit Populisten zu gehen laufe hinaus auf die Popularisierung populistischer Parolen, auf eigene Nähe zu Populisten, auf „Beifall von der falschen Seite“.

Zwar sind diese Einwände schwer zu unterbieten an intellektueller Trägheit und an mangelnder politischer Kampfeslust. Doch sie vorzubringen, rechtfertigt immer wieder das behagliche Verbleiben im Schutzraum der eigenen politischen Echokammer oder Filterblase – und verschafft obendrein das angenehme Gefühl politisch-moralischer Überlegenheit hinsichtlich derer, die man dann als Populisten oder immerhin Populistenfreunde denunziert. Politische Redlichkeit sieht zweifellos anders aus – und zeitigt dann auch ein am Ende viel erfolgreiches Engagement für unsere freiheitliche Demokratie.

 

IV. Einige handlungsleitende Fragen an uns selbst

Kann man als Politiker, oder als ein für unsere Demokratie eintretender Bürger, aber wirklich jeden zornigen oder aufbegehrenden Populisten erreichen? Gewiss nicht. Kann man jeden Populisten überzeugen? Alle Erfahrung spricht dagegen. Macht es Freude, mit bockigen, trotzigen, verhärteten, verbohrten, eifernden Zeitgenossen über Politik zu streiten? Meistens nicht. Soll man es trotzdem tun? Ja sicher.

Denn warum sollte man mit empörten Bürgern eigentlich nicht im Gespräch bleiben? Nimmt wohl unser Gemeinwesen ausgerechnet dadurch Schaden, dass man dessen dreisten, kurzsichtigen, mitunter auch übelwollenden Gegnern argumentierend in den Weg tritt – und nicht bloß gegendemonstrierend mit gleich welchen Sprechchören? Schädigt es denn unsere Demokratie nicht viel mehr, wenn man deren Gegner sich selbst überlässt – und sich dann hilflos wundert, wenn die dann mit Opfergehabe ihresgleichen anziehen, sich trotzig solidarisieren und später radikalisieren?

Außerdem: Hat politischer Diskurs wohl zur einzigen Aufgabe, Demokraten in ihrer demokratischen Gesinnung zu bestärken? Muss man nicht gerade auf jene hinreden, die am Abgleiten an die Ränder oder in den Radikalismus sind? Hat man nicht auch in der Auseinandersetzung mit solchen Mitbürgern klarzumachen, was die Inhalte des Werte-, Verfahrens- und Ordnungskonsenses unserer pluralistischen Demokratie sind? Wo also die akzeptablen Grenzen politischen Wollens, Redens und Tuns liegen – und warum genau dort?

Und vor allem: Erfüllt Diskursverweigerung gegenüber Populisten oder gar Radikalen nicht letztlich den Tatbestand der politischen Feigheit? Des Desertierens aus den Reihen derer, die unsere wehrhafte Demokratie zu verteidigen haben – und zwar nicht in einer bloßen Simulation solchen Kampfs beim ungestörten Reden vor einem zustimmungswilligen Publikum, sondern Aug‘ in Aug‘ mit teils gutgläubigen, teils wütenden Populisten?

Wer sich also nicht von geistiger Faulheit oder von politischer Hasenherzigkeit leiten lässt, sondern wer – ausgehend von den Prinzipien unserer freiheitlichen Demokratie – seine Pflichten als stolzer Bürger unseres guten Gemeinwesens systematisch bedenkt, der kann wohl zu keinem anderen Schluss kommen als dem: Natürlich muss man auch zu Populisten reden – und zwar gerade dann, wenn man möglichst viele von ihnen wieder für den ganz normalen politischen Streit zurückgewinnen will. Dann freilich darf man Populisten auch nicht wie Feinde behandeln, also nicht wie Extremisten. Populisten sind vielmehr schlicht Andersdenkende, mitunter auch radikal anders Denkende, die ihre Freiheit dahingehend ausleben, dass sie – vom Standpunkt ihrer Gegner aus – sich sogar bei wichtigen Fragen halsstarrig und lautstark irren oder verrennen.

Gegen solche Leute aber haben, kraft ihrer professionellen Fachkompetenz, gerade auch Politikwissenschaftler aufzutreten, und zwar nicht allein in bequemen Distanzierungen, Resolutionen und „Offenen Briefen“, sondern insbesondere in der persönlichen Konfrontation auf Diskussionspodien oder im Internet. Oder, um es in den Worten des damaligen SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel auf dem Dresdner SPD-Parteitag vom 13. November 2009 zu sagen: Wir müssen raus ins Leben; da, wo es laut ist; da, wo es brodelt; da wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt. Wir müssen dahin, wo es anstrengend ist“. Genau so ist es – und gar erst, wenn man zwischen die heutigen Fronten von Rechtspopulisten und ihren linken Gegnern gerät. Doch manches muss nun einmal in Kauf nehmen, wer allseits für eine freiheitliche Grundordnung mit pluralistischer Demokratie streitet.

Eben das sollten auch Sie alle tun. Und wenn Ihnen mein Vortrag dafür einiges an Werkzeug an die Hand gegeben habe n sollte, vielleicht auch an Umsicht oder Einsicht, dann hätte er seinen Zweck erfüllt.

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