Wer braucht eine Leitkultur?

Wer braucht eine Leitkultur?

Werner J. Patzelt

Wer braucht eine Leitkultur? –
Unsere Einwanderungsgesellschaft!

Vortrag, gehalten am 6. November 2018 in Leipzig, Museum der bildenden Künste,
im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Woran orientieren? Zu den geistig-kulturellen Grundlagen unserer Gesellschaft in säkularen Zeiten“, veranstaltet vom Politischen Bildungsforum Sachsen der Konrad Adenauer Stiftung und der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen

 

I. Das Unbehagen mit der „Leitkultur“

Mancher wird zornig, ja wütend, wenn er von „Leitkultur“ hört. Meist ist ihm jeder unsympathisch, der davon redet. Er mag die ganze Sache nicht – oder wenigstens nicht das, was er sich darunter vorstellt: Nationalismus, Volkstümelei, Spießertum. Im leuchtet nicht ein, warum es eine besondere Wertschätzung der Kultur derer brauchen soll, die schon länger in einem Land leben. Gar nicht versteht so mancher auch, warum eine solche Kultur jene Leute zu irgendetwas „anleiten“ soll, die neu ins Land kommen. Und selbst wenn er die „chinesische Kultur“ für mehr als eine bloße Fiktion hielte, bisse er sich lieber in die Zunge, als von einer „deutschen Kultur“ zu sprechen. Auch werden viele, die Frankreichs Lebenskunst gerne preisen, zu sehr besorgten Bürgern, sobald sie Lob auf etwas hören, das nicht im guten Frankreich, sondern im bösen Deutschland selbstverständlich ist. Ausnahmen machen sie allenfalls beim hohen Lied auf die Mülltrennung, auf die Lehren aus unserer Geschichte und auf das Grundgesetz.

Letzteres scheint vielen das einzige zu sein, was uns alle einen darf – gerade auch mit jenen, die neu bei uns leben. Zwar ist das Ethos des ersten Grundgesetzartikels, der von der Menschenwürde handelt, ganz unübertrefflich. Auch finden sich bis zum Artikel 20, der „Verfassung in Kurzform“, viele Sätze, die ein jeder unterschreiben kann, falls er bei Trost oder immerhin guten Willens ist. Doch von der Mülltrennung steht im Grundgesetz ebenso wenig wie von fortbestehender Verantwortung für deutsche Staatsverbrechen. Dabei gehört doch beides ganz klar zu jener Kultur, auf die – ganz zu Recht – viele Deutsche stolz sind. Sollten sich derlei also nicht auch alle Zuwanderer zu eigen machen?

Das Dogma lautet aber: Mehr Verbindendes als das Grundgesetz darf es gar nicht geben, falls Freiheit und Vielfalt nicht schwinden sollen! Ob allerdings die umfangreichen Regeln zur Abgrenzung von Bund/Länder-Kompetenzen, welch viele Artikel unseres Grundgesetzes füllen, wirklich unsere Einwanderungsgesellschaft zusammenhalten können? Letztlich ist das Grundgesetz, und zwar gerade in seinen gefühlsbewegenden Passagen, doch nur die Spitze eines riesigen Eisbergs an kulturellen Selbstverständlichkeiten. Die dürfen also nicht wegschmelzen, wenn die Verfassung ihre Gestaltungskraft behalten soll. Wäre es dann nicht vernünftig, alle neu im Land Lebenden zu diesen Selbstverständlichkeiten hinzuleiten? Und falls nur das Wort „Leitkultur“ missfällt, dann nennen wir doch einfach „Rahmenkultur“, was keinem leichtfertig hingenommenen Wandel ausgesetzt werden sollte!

 

II. Was meint „Rahmenkultur“ oder „Leitkultur“?

Jedenfalls verhält es sich mit einer Rahmen- oder Leitkultur weitaus vielschichtiger, als so mancher erkennen will. Durchaus meint der Begriff der Rahmen- oder Leitkultur keinen Kasten, in dem alles zum weiteren Gebrauch verwahrt würde, was im eigenen Land je gedacht oder getan wurde, und aus dem allein sich mit Denkweisen oder politischen Haltungen zu bedienen hat, wer zum hierzulande „länger schon Lebenden“ werden will . Alles Nötige sagt ja schon das lateinische Ursprungswort von „Kultur“: Es geht um das, was durch Aussaat und Ernte entsteht oder gar neu entsteht, durch Pflege und Erneuerung des Überkommenen, ja auch durch umsichtiges Neuanpflanzen oder kunstvolles Aufpfropfen. Kulturen sind also niemals fertig. Doch sie unterscheiden sich sehr von dem, was durch bloßes „Zuschauen beim Wachsen“ entsteht.

Sein ganzes Leben lang habe er eine „gewisse Idee von Frankreich“ gehegt, schrieb Charles de Gaulle zu Beginn seiner Memoiren. Diese Empfindung habe ihn nicht minder inspiriert als die Vernunft. Genau eine solche „Idee“ ist der Kern von Leitkultur: Wie möchte man, dass die eigene Gesellschaft oder Gemeinde, dass die Leute im Land oder das Land selbst wären? Zufrieden im Nebeneinander, oder voller Lust aufs Miteinander? Selbstsüchtig und grob, oder gemeinsinnig und höflich? Jeden Tag beschäftigt mit dem Aushandeln von Regeln, oder frei für Neues, weil man sich auf fortbestehende Selbstverständlichkeiten verlassen kann?

Wer eine Kultur von Zierblumen anlegt oder für einen Wald zuständig ist: Wird der wohl glauben, dass die Erfahrungen früherer Gärtner oder Förster ganz entbehrlich wären? Oder es brauche jene Pflanzen nicht, deren Samen er nutzt, oder keine Bäume, die schon vor der eigenen Lebenszeiten zu wachsen begannen? Gewiss nicht. Gerade wer vernünftig ist, wird seine Ideen von der Zukunft mit dem verflechten, was vom Vergangenen lebendig blieb. Nicht alles wird er weiterverwenden, manches aber schon; und Neues wird er einkreuzen, doch nicht jegliches  Neue – und auch das vielsprechende Neue zunächst wohl  nur versuchsweise.

Rahmen- oder Leitkultur hat also viel zu tun mit dem Willen, zwar Neues entstehen zu lassen, doch nicht ohne Rücksicht auf Bestehendes. Und beides hat zu tun mit der Kraft, plausible Ziele zu setzen sowie Wege zu ihnen zu bahnen. Wer aber zu Hegendes benennt, der braucht nicht nur Wissen über Bewährtes, sondern auch Zuneigung zu ihm. Doch zu mögen, was es in Deutschland schon vor 1933 gab, scheint immer noch anrüchig zu sein. Ein Einwanderungsland freilich, das die eigene Kultur nicht kennt oder mag, tut sich schwer damit, seine Einwanderer wirklich dazugehören zu lassen. Und weil unser Land nun einmal unwiderruflich zum Einwanderungsland geworden ist, sollte es sich auch entsprechend verhalten.

 

III. Wer braucht eine Leitkultur?

Gerade ein Einwanderungsland braucht besonders große Anstrengungen zur Sicherung weiteren gesellschaftlichen Zusammenhalts. Eben das ist die Aufgabe von Integrationspolitik. Viel ist für deren Erfolg bereits gewonnen, wenn es eine klare Verfassungs- und Rechtsordnung gibt, die auch durchgesetzt wird, und in die hinein man sich integrieren kann. Doch Verfassung und Recht beruhen auf kulturellen Voraussetzungen, die brüchig werden oder schwinden können, sobald man sie nicht mehr umsichtig pflegt. Also führt es ganz in Irre, wenn man die Aufrechterhaltung einer gemeinsamen Kultur mit dem Hinweis darauf für überflüssig erklärt, es gäbe doch eine gemeinsame Verfassungsordnung. Letztere wird nämlich nur solange gerade im Konfliktfall als verbindlich akzeptiert, wie die in dieser Ordnung Lebenden auch eine gemeinsame Kultur verbindet.

Außerdem wird gerade in Zeiten gesellschaftlicher Unruhe, wie wir sie derzeit durchleben, alles das wichtig, was mit fragloser Geltungskraft Halt und Orientierung gibt. Dass vermag am meisten die Empfindung, beheimatet zu sein – nämlich in einer konkreten Gegend, einer konkreten Sozialstruktur, einer konkreten Kultur, auch in einer konkreten Zeit. Das alles aber wandelt sich – mitunter langsam, derzeit allerdings ziemlich schnell. Also ist Beheimatung nichts, was ein für allemal errungen wäre. Beheimatung ist vielmehr ein nie endender Versuch der Tradierung und Neuanpassung, der Integration und der Stabilisierung. Anders gewendet: Beheimatung ist kein Zustand, sondern ein Vorgang, in dem Neues und Fremdes ins Bestehende integriert wird.

Derlei gemeinsame Heimat bildet sich recht verlässlich dort, wo – in einer konkreten Gegend, innerhalb einer konkreten Sozialstruktur, während einer konkreten Zeit – alle dort Zusammenlebenden auch „kulturell dazugehören“ und gemeinsam an allem teilhaben, was sie als Gewinn oder Fortschritt empfinden. Solches Heimischwerden gelingt offenbar besser, wenn es auch gefördert wird. Eben deshalb brauchen wir eine wirkungsvolle Integrationspolitik, die Fliehkräften entgegenwirkt sowie den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt. Und gelingt es dabei, Beheimatung mit Weltoffenheit und Bereitschaft zum Wandel zu verbinden, so führt das erfahrungsgemäß zu Wohlfahrt und zu Erfolg.

Insgesamt zeigt sich: Gerade um einer wirkungsvollen Integrationspolitik willen braucht es eine verbindende Rahmenkultur. Auch Leitkultur genannt, meint sie nicht den „kleinsten gemeinsamen Nenner“, sondern jenes Fundament unseres Zusammenlebens, das wir – schwer genug – für die neue, liberale und pluralistische Demokratie unseres alten Landes geschaffen haben. Dieses Fundament muss auch fortan gesichert bleiben, zumal alles das, was unser Land attraktiv macht, genau auf dieser Grundlage beruht. Ihretwegen geht es hierzulande sicherer und friedlicher, freiheitlicher und gerechter, ja auch wohlhabender zu als in vielen anderen Teilen der Welt. Also sollten wir gerade in solchen Zeiten das alles nicht aufs Spiel setzen, in denen es viele kulturell anders Geprägte nach Deutschland zieht.

 

IV. Die Inhalte unserer Leit- oder Rahmenkultur

Doch worin genau bestünde jene Leit- oder Rahmenkultur, die wir brauchen? Sie umfasst – neben der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, welche das Bundesverfassungsgereicht bereits 1952 sehr präzis beschrieben hat – auch jene kulturellen Errungenschaften, denen unsere Verfassungsordnung überhaupt erst ihre Plausibilität verdankt. Dazu gehören die Trennung von Staat und Religion, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Wertschätzung des Strebens nach selbstdefiniertem Lebensglück, sowie die Verbindung von Freiheit mit persönlicher Verantwortung für die Folgen der Nutzung von Freiheit. Das alles zu sichern, stiftet jenes Vertrauen, in dem eine gelebte Verfassung wurzelt.

Doch eine Leitkultur umschließt nicht nur Werte und Rechtsnormen. Zu ihr gehören auch jene kulturellen Selbstverständlichkeiten, die das eine Land im Vergleich mit anderen Ländern besonders machen. Das sind jeweils besondere, doch in aller Selbstverständlichkeit befolgte Übereinkünfte. Sie reichen von der Regelung des Alltagslebens bis zur grundsätzlichen Ausgestaltung der Rolle eines Landes in Europa und oder in der Welt. Bei uns beginnt derlei mit dem selbstverständlichen Gebrauch der deutschen Sprache und reicht dann über bewährte Umgangsformen bis hin zu jenen wichtigen Lehren, die unser Land aus der nationalsozialistischen und der kommunistischen Diktatur gezogen hat. Zu diesen Lehren gehören die grundsätzliche Friedlichkeit unserer Außenpolitik, die dauerhafte Einbettung unseres Landes in ein europäisches Kooperationssystem, die Wertschätzung von Solidarität und Freiheit, die bereitwillige Übernahme von Verantwortung, auch gegenseitiger Respekt sowie der Verzicht auf politische Gleichgültigkeit. Ebenso gehören landsmannschaftliche und regionale Selbstverständlichkeiten zur jener teils landesweiten, teils regionalen Rahmenkultur, die durch Zuwanderung ja nicht zum Verschwinden gebracht, sondern womöglich bereichert werden soll.

Alles Angeführte bietet offenbar gute Möglichkeiten für die länger schon im Land Lebenden, die Grundlagen unseres Gemeinwesens stabil zu halten. Ebenso werden ganz konkrete Wege für Zuwanderer aufgezeigt, die sich in unsere Gesellschaft integrieren wollen. Wer also für eine Leit- oder Rahmenkultur wie die eben umrissene eintritt, der verlangt nichts Schlimmeres, als dass diese Wege hin zur Integration in unsere Einwanderungsgesellschaft auch beschritten werden.

 

V. Inklusion oder Exklusion durch Leitkultur?

Ein Land, und somit auch ein Zielland von Migration wie das unsere, ist gleichsam ein großes Haus, auf dessen Dachterrasse man steht. Man hat es nicht selbst gebaut, und man könnte letztlich auch auf der Dachterrasse eines anderen Hauses stehen. Doch die eigenen Eltern kamen in diesem Haus zur Welt – oder haben es einst bezogen, wie Zuwanderer nun das deutsche Haus bezogen haben. Und also ist für dieses Haus nun auch mitverantwortlich, wer darin wohnt.

Für die dort Lebenden wird es gut sein, die Räume oder Winkel dieses Hauses zu durchstreifen und sich über alles das zu freuen, was an ihm gelungen ist. Mancher wird sich auch für die Baupläne dieses Hauses interessieren, also für die mit dessen Bau verbundenen Visionen und Erfahrungen, ja für dessen Geschichte. Es wird auch gut sein, möglichst viel von dem aufzuräumen und in Ordnung zu bringen, was bei der Nutzung dieses Hauses durcheinander geraten oder brüchig geworden ist. Es wird ferner heilsam sein, nicht zuletzt alles das an diesem Haus zur Kenntnis zu nehmen, was missraten, verkommen oder ruiniert worden ist. Hieraus wird man einesteils Lehren dafür ziehen, wie man nun selbst an diesem Haus weiterbauen sollte, was Anderes aber unbedingt zu vermeiden wäre. Andernteils wird man dafür Sorge tragen, dass die Folgen früherer Baufehler beseitigt oder wenigstens gemildert werden.

Indem man das tut, wird man mit den Bewohnern anderer Häuser zwar wetteifern und sich dabei gewiss auch Gedanken darüber machen, wer wohl das schönere Haus hat – und worin man andere vielleicht übertreffen könnte. Allerdings wird man den anderen ihre Häuser niemals missgönnen, wird auch nicht schlecht über sie reden; und vor allem wird man anderen ihre Häuser nicht beschädigen. Im Übrigen wird man sich freuen, wenn andere ins eigene Haus kommen, sich dort wohlfühlen und es loben. Falls das eigene Haus ein großes und stabiles ist, vielleicht auch noch so viel Grund um sich herum besitzt, dass man an diesem Haus weiterbauen kann, dann wird man sich sogar freuen, wenn andere zur eigenen Hausgemeinschaft gehören wollen, wenn sie mit Vorfreude und gutem Willen einziehen sowie sich daran machen, gemeinsam mit den bisherigen Bewohnern jenes Haus zu verschönern.

Als „Hausordnung“ eine solchen gemeinsamen Hauses verstanden, schließt eine Leit- oder Rahmenkultur gewiss niemanden aus, der zur untereinander zusammenhaltenden Bewohnerschaft gehören will und dann auch das Wohnrecht erhalten hat. Vielmehr integriert eine so verstandene und so gehandhabte Rahmen- oder Leitkultur all in eine wechselseitig hilfsbereite und solidarische Hausgemeinschaft, die ansonsten einander Fremde blieben.

 

VI. Rahmenkultur und Republikanismus

Gleiches zeigt sich, wenn man auf das Bild vom „gemeinsamen Haus“ verzichtet und konkret von Staaten handelt. Wo je eine Demokratie entstanden war, oder zumindest ein von den gesellschaftlichen Eliten gelebter Republikanismus, dort zeigten sich stets Empfindungen wie die folgenden. Erstens: Wir sind wir eine politische Gemeinschaft – und zwar nicht nur faktisch, sondern deshalb, weil wir das auch sein wollen, gleichsam als „Gesinnungsnation“. So war es in Athens Polis, in Roms Republik, in freien Städten wie Venedig oder Hamburg. Zweitens wohnen wir nicht rein zufällig auf dem gleichen Territorium und brauchen allein deshalb verbindende Regeln des Zusammenlebens. Sondern wir Athener und Römer, wir Florentiner und Hamburger, wir teilen ja auch eine gemeinsame Kultur, die wir für wertvoll halten und weiterhin erhalten wollen. Drittens sind wir nicht nur als Einzelne aus guten Gründen recht unterschiedliche Leute, sondern wir haben obendrein mancherlei gemeinsam, das uns eben zu einem Volk macht und – als ein solches – von anderen Völkern unterscheidet: uns Athener von den Spartanern oder gar den Makedonen; oder uns, „the people of the USA“, von den Untertanen des englischen, französischen oder preußischen Königs. Als ein solches Volk aber stehen wir nicht über oder gar unter anderen Völkern (etwa: wir Polen gegenüber den Russen oder Deutschen), sondern wir leben inmitten anderer Völker, je nach räumlicher Nähe auch gemeinsam mit ihnen, und das alles außerdem auf alle absehbare Zeit. Und weil nun politische Gemeinschaft, gemeinsame Kultur sowie Streben nach einer Fortführung des Bewährt-Überkommenen uns alle verbinden, halten wir – viertens – das Folgende für eine gute Idee: Alle jene, die zu uns gehören wollen und das auch durch die Übernahme unserer Sitten zeigen, wollen wir an der Gestaltung der öffentlichen, uns alle betreffenden Angelegenheiten  beteiligen. Bei uns in der attischen Polis sind das alle Männer mit Bürgerrecht, bei uns in Venedig alle das Gemeinwesen tragenden großen Familien, und bei uns in Deutschland alle Bürger dieses Landes, ja – auf kommunaler Ebene – sogar alle Bürger der Europäischen Union.

Entlang solcher Empfindungswelten  und Denkfiguren entsteht dann regelmäßig Republikanismus als „gemeinsame Sorge um die res publica“, also um jene Angelegenheiten, die das Staatsvolk betreffen. Bisweilen entsteht daraus sogar Demokratie als Ausdrucksform des politischen Mitgestaltungswillens einer sich – warum auch immer – stabil als zusammengehörig empfindenden Bevölkerung. Seit dem 19. Jh. nennen wir letzteres eine Nation, gleich ob diese sich als „Willensnation“ oder als „Abstammungsnation“ versteht. Tatsächlich ist genau der Nationalstaat jenes soziale Gebilde, von dem wir bislang am besten wissen, wie dauerhafte Demokratie verwirklichbar ist.

 

VII. Der deutsche Sonderfall

Vor Hintergrund solcher politisch-kulturellen Selbstverständlichkeiten, welche die lange Geschichte des Republikanismus sowie die viel kürzere Geschichte von Demokratie in Groß- und Massenstaaten prägten, ist es schon etwas recht Erstaunliches, wenn es zu Entwicklungen oder Sachverhalten wie den folgenden kommt. Genau sie kennzeichnen aber unsere deutsche Gegenwart und schaffen gar nicht wenige Probleme.

Erstens erachten beträchtliche Teile unserer Bevölkerung – und zumal ihrer Eliten – die uns Deutsche bislang zusammenhaltende Kultur als nebensächlich, ja im Grunde als gar nicht existent, jedenfalls als „nicht identifizierbar“ über die Verwendung einer gemeinsamen Sprache hinaus. Zumindest hält man die deutsch Kultur, soweit greifbar, für durch mancherlei Missbrauch so irreparabel beschädig und entwertet, dass diese Kultur peinlich wurde und als zu überwinden gilt. Verständlicherweise kam es dazu nach Deutschlands Traumatisierungen durch den Ersten und Zweiten Weltkrieg, durch die nationalsozialistische Diktatur, durch den unüberbietbar verbrecherischen Holocaust. Dann liegen freilich Anschlussgedanken und Anschlusspraxen wie die folgenden nahe. Soll man überhaupt an einer solchen Kultur festhalten – und falls ja: wie weit? Wäre es nicht viel besser, diese Kultur zu ergänzen und zu relativieren, nämlich durch die Einfügung möglichst vieler und schöner Elemente aus anderen Kulturen? Dann nämlich, so die Hoffnung, könnte man innerhalb einer „multikulturellen Gesellschaft“ ganz nach der ziemlich vereinnahmenden Maxime von Goethes „Faust“ leben: „Und was der ganzen Menschheit zugeteilt / will ich in meinem innern Selbst genießen!“

Zweitens erscheint es gar nicht wenigen als recht unwichtig, ein Volk überhaupt als ein Sozialgebilde anzusehen, das viele Jahrzehnte, gar Jahrhunderte überdauern kann und sich mit vielseitigem Gewinn auch weiterhin aufrechtzuerhalten ließe. Letzteres könnte man durchaus in Europa und Deutschland weiterhin leisten. Möglich wäre eine Familienpolitik, die auf eine verlässliche biologische Reproduktion der Bevölkerung oder auf deren allenfalls gemächliches Schrumpfen ausgeht. Und zu schaffen wäre das auch durch eine Einwanderungs- und Integrationspolitik, welche die Stiftung kultureller Gemeinsamkeit zwischen den schon länger im Land Lebenden und den Neuankömmlingen zum Ziel hätte. Letzteres ist etwa erreicht, wenn sich italienische oder irische Amerikaner in erster Linie als Amerikaner verstehen und erst in zweiter Linie auch als Italiener oder Iren, und derlei wäre auch in Deutschland erreicht, wenn sich türkische und syrische Deutsche in erster Linie als Deutsche verstünden – und dann erst als Türken oder Syrer.

Drittens ist es dazu gekommen, dass gerade die akademischen, wirtschaftlichen und politischen Eliten unseres Landes die Eigentümlichkeiten von dessen Bevölkerung weniger als Teilhabe an einer „gemeinsamen Kultur“ verstehen, und sei es einer vielschichtigen und aus verschiedenen Wurzeln entstandenen, sondern als nicht mehr denn das Befolgen gemeinsamer Rechtsregeln sowie als Fähigkeit, sich im Alltag in einer gemeinsamen Sprache zu verständigen – idealerweise als zahlungskräftige Kunden von Gütern und Dienstleistungen, deren Angebot und Nachfrage die Wirtschaft brummen lässt. Gerade das ist scheint inzwischen die Grundhaltung vieler Deutscher zu sein, die sich als liberal, als fortschrittlich, in der Regel als links verstehen; und von genau daher definieren sie die für unser Land zu empfehlenden Integrationspolitik: Nicht viel mehr könne man in Deutschland an gemeinsamer Kultur verbindlich zur Aneignung durch Zugewanderte vorgeben als die deutsche Umgangssprache und das deutsche Grundgesetz.

Gab es aber wirklich keine deutsche Kultur, bevor das Grundgesetz in Kraft trat, also vor 1949 im Westen und vor 1990 im Osten? Und hat denn das Grundgesetz jene deutsche Kultur tatsächlich so tiefgreifend verändert, die Leuten wie Friedrich Ebert oder Thomas Mann einst als selbstverständlich galt? Oder begreifen allein wir Deutsche, nicht aber die Polen oder Italiener, dass es eben gar keine polnische oder italienische Kultur gibt, sondern allenfalls eine europäische Kultur, die sich in Deutschland auch nicht viel anders ausnimmt als in Polen oder Italien? Oder ist das, was es an deutscher Kultur schon vor dem Grundgesetz gab, inzwischen schlicht überholt, also einfach wertlos geworden?

Zumal Letzteres behaupten gar nicht wenige. Sie verstehen oft auch Deutschlands Kultur- und Politikgeschichte bis zur Erarbeitung oder zur Übernahme des Grundgesetzes wie eine – zumindest in Teilen – recht üble Vorgeschichte zu jener Gegenwart, von der aus alles Frühere wie „Wittgensteins Leiter“ zu behandeln wäre: Ist man mittels ihrer aufgestiegen, legt man sie beiseite. Diese Art des Nachdenkens über die Bevölkerung Deutschlands und über das, was man deren Kultur nennen mag, legt wiederum zwei Anschlussgedanken und Anschlusspraxen nahe.

Einesteils: Wenn uns ohnehin nicht mehr zu verbinden braucht und verbinden kann als das Grundgesetz sowie eine – je nach regionaler Bevölkerungsmehrheit – gemeinsame Sprache, dann ist es doch auch ganz egal, wer genau auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland mit wem zusammenlebt – und bleibt zumindest solange egal, wie die dort Lebenden sich untereinander verständigen können sowie an gemeinsame Spielregeln halten. Also ist das absolute oder relative Schrumpfen eines Teils der Bevölkerung, und wären es auch die „schon länger im Land Lebenden“, überhaupt kein Problem, solange nur ein anderer Bevölkerungsteil wächst. Das kann dann gerne der Teil mit migrantischem Hintergrund sein, falls eben dadurch jene Lücken in den Reihen von Handwerkern und Ingenieuren, von Pflegekräften und Ärzten geschlossen werden, die der schrumpfende Teil der länger schon im Land Lebenden durch seine Vorliebe für sehr wenige oder gar keine Kinder entstehen ließ.

Und andernteils wirkt, im Rahmen solchen Denkens, das Leben in einem Land ohnehin umso schöner und reicher, je mehr Menschen mit unterschiedlichen Kulturen dort zusammenleben. Also sollte es eine assimilierende Rahmen- oder Leitkultur gerade nicht geben, ja ist fortdauernde Einwanderung sowie der von ihr geförderte Wandel weg von einer früher vielleicht bestehenden Kultur sogar grundsätzlich zu begrüßen. Einwanderungsländer werden dann zum Rollenmodell guter Gesellschaften schlechthin. Hingegen wäre eine Anpassung von Eingewanderten an die bisherige Mehrheitsbevölkerung und an eine länger schon im Land bestehende Kultur gerade nicht wünschenswert. Das zu fordern, erfüllte im Grunde den Tatbestand des „kulturalistischen Rassismus“ und wäre womöglich – so einst ein türkischer Ministerpräsident bei einer Rede in Deutschland – sogar „ein Verbrechen“ an den in dieses „Ausland“ abgewanderten Landsleuten.

Argumente, die in solchen Überzeugungsstrukturen verankert sind, prägen unübersehbar die deutschen Diskussionen um Zuwanderung und Gesellschaftsintegration. Verlässlich darf mit Beifall rechnen, wer solche Argumente ohne provozierende Übertreibungen vertritt. Doch viel weniger gilt das für jene, die den folgenden Gedankengang vermitteln wollen: Gerade ein starkes kulturelles Zusammengehörigkeitsgefühl ist die Voraussetzung dafür, dass die Bewohner eines Landes sich als Teilhaber eines Gemeinwesens verstehen, dass sie sich als Bürger – im Sinn von „citoyen“ – einer ganz im Wortsinn politischen Gemeinschaft sehen, also gerade nicht als bloße „Kunden“ eines rein sozialtechnologisch aufgefassten Institutionengefüges.

Und noch viel weniger Zustimmung finden meist jene, die gar Folgendes behaupten: Auch die Wertschätzung der Leistungen von Vorfahren, also ein Sinn für Abstammungszusammenhänge und für die von ihnen nahelegten Handlungsoptionen, spielt eine große Rolle. Mit solchem Sinn bedenkt man nämlich auch die Möglichkeit eigener Pflichten für eine Zukunft jenseits der persönlichen Lebensspanne, während man sich andernfalls nur wie ein „Endverbraucher“ der Lebensleistungen verstorbener und deshalb nicht weiter interessierender Generationen verhält.

Tatsächlich bestehen solche wertschätzenden Gefühle für kulturelle Gemeinsamkeiten und für kulturtradierende Generationenzusammenhänge in Deutschland vielfach nicht mehr. Von vielen werden solche Empfindungen auch gar nicht vermisst. Sie empfinden deren Fehlen im Gegenteil als befreiend. Und dieser Haltung begegnet man umso häufiger, je tiefer man in die Reihen der sich fortschrittlich oder links verstehenden Mitbürger hineingelangt. Eben diese Kreise aber prägen sehr stark unsere öffentlichen Diskurse darüber, wer wir wohl wären, was genau wir mit der Vergangenheit unseres Landes und der länger schon in ihm Lebenden zu tun hätten, welche Konsequenzen daraus zu ziehen wären und wie deshalb eine wünschenswerte Rahmen- und Leitkultur Deutschlands aussehen solle.

 

VIII. Konkrete Antworten auf konkrete Herausforderungen

Jenes unter Intellektuellen mehrheitlich selbstverständliche Paradigma des Nachdenkens über den Zusammenhang von Geburtenraten und Bevölkerungszusammensetzung, von Zuwanderung und Integration, macht aber Klärungen der für unser Land wichtigen Zusammenhänge zwischen „Demokratie“  und „Demographie“, zwischen „demos“ und „ethnos“, zwischen dem migrantische Sein und dem staatsbürgerlichen Sollen recht schwierig. Ausführungen zu diesen Themen, die allesamt den Rahmen unserer Debatten um eine „Leitkultur“ abgeben, sind immer politisch riskant, weil ihnen leicht die Verletzung von Grenzzäunen politischer Korrektheit vorgeworfen werden kann.

Auch sind streitige Debatten über dies alles auch menschlich oft schwer auszuhalten, weil allseits der Vernunft starke Gefühle in die Quere kommen. Dann misslingt sehr leicht der pluralistische Diskurs und weicht der konkurrierenden Bekundung politischer Glaubensbekenntnisse. Dabei ließen sich die notwendigen Diskussionen um sinnvolle Grundsätze unseres Umgangs mit Migration und gesellschaftlichem Zusammenhalt sowohl menschlich sensibel als auch politisch zielorientiert recht leicht entlang der folgenden drei Begriffe führen, die allesamt wichtige Bestandteile unserer deutschen Leit- und Rahmenkultur erfassen.

Erstens geht es um Gerechtigkeit. Dann folgt aus dem Wunsch nach Gerechtigkeit einesteils das humanitäre Anliegen unserer Einwanderungspolitik: Wir wollen jenen Menschen helfen, die mit ihrem Land und mit dessen politischer und kultureller, wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Ordnung nicht so viel Glück haben wie wir. Andernteils muss Gerechtigkeit auch den schon länger im Lande Lebenden widerfahren. Gerechtigkeitsempfinden gerät allerdings freilich in Gefahr, wenn Solidarität auf Dauer über plausible Grenzen hinaus beansprucht wird – oder wenn gar unser so gut ausgebauter Sozialstaat in die Gefahr gerät, über seine nachhaltige Finanzierbarkeit hinaus von nicht in die beitragszahlende Gesellschaft integrierten Migranten übernutzt zu werden. In genau dieser doppelten Hinsicht – Hilfe für andere, doch zugleich Sicherung unseres Sozialstaats – müssen wir unsere Einwanderungs- und Integrationspolitik am Leitwert der Gerechtigkeit ausrichten und an diesem Bestandteil unserer Leit- bzw. Rahmenkultur ausrichten.

Zweitens geht es um Beheimatung. Einesteils ist Beheimatung jener Zustand, in dem ein Großteil unserer Bevölkerung lebt: Man hat in diesem Land seine Heimat – und will sie auch nicht verlieren. Andernteils ist Beheimatung jener Vorgang, in dem man von einem Fremden zu einem Dazugehörenden wird. Eben solches Heimischwerden kann durch Integrationspolitik gefördert werden. Und wenn wir in unserer Einwanderungsgesellschaft den unbedingt wünschenswerten gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht gefährden wollen, der bislang ein wesentlicher Bestandteil unserer Leit- und Rahmenkultur war, dann muss unsere Politik unbedingt auf Beheimatung in diesem doppelten Sinn ausgehen.

Drittens geht es um einen Konsens über die uns über die Werte von Gerechtigkeit und Beheimatung hinaus verbindende Rahmen- und Leitkultur. In ihren wesentlichen Zügen oben umrissen, ist dies jene Kultur, die uns bei aller legitimen Verschiedenheit auch in einer multikulturellen und multiethnischen Gesellschaft dauerhaft zusammenhalten kann. Im Übrigen führt der Begriff Leit- oder Rahmenkultur klar vor Augen, dass es nicht um ein „Aushandeln“ neuer kultureller Selbstverständlichkeiten zwischen bereits Ansässigen und neu Einwandernden geht, und schon gar nicht oder um ein „wechselseitiges Entgegenkommen auf halbem Weg“, sondern um genau jenen Rahmen, in dem allein unser Land bereit ist, einesteils aktiv auf Einwanderung auszugehen und andernteils Zuwanderung aus humanitären Gründen passiv zuzulassen.

Abschließend lässt sich der politische Gehalt der vorgenommenen Analyse wie folgt zusammenfassen: Gerade der, welcher eine multikulturelle Gesellschaft will, muss zu deren Integration eine attraktive Rahmenkultur anbieten sowie entsprechende Akkulturationsleistungen verlangen. Wer aber jegliche Befürwortung einer Rahmen- oder Leitkultur unseres Landes ablehnt, der vergiftet unsere migrationspolitischen Diskurse unf überlässt leichtfertig die Zuneigung zu unserem Land sowiezu dessen Kultur den Rechtsradikalen. Vor allem aber erweist er allen jenen Migranten einen schlechten Dienst, die nicht nur einen bundesdeutschen Pass oder bundesdeutsche Sozialleistungen anstreben, sondern auch das Heimischwerden und Dazugehören. Helfen wir also gerade auch ihnen, als neue Deutsche gemeinsam mit den hier schon länger Lebenden eine gute Zukunft zu gestalten – und zwar nicht nur für sich selbst, sondern auch für unser fortan gemeinsames Land!

 

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Zur gleichen Thematik siehe: Werner J. Patzelt, Neue Deutsche in einem alten Land. Über Zuwanderung, Integration und Beheimatung, Baden-Baden (Ergon) 2018, 316 S.

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