Warum Grüne und AfD wachsen, doch SPD und Union schrumpfen

Warum Grüne und AfD wachsen, doch SPD und Union schrumpfen

Am 7. Oktober 2018 erschien in „Tichys Einblick“ das nachstehende Interview, geführt mit mir vom ehemaligen Grünen-Politiker Oswald Metzger, und zwar unter dem Titel „Warum AfD und Grüne so stark werden und SPD wie CDU/CSU verlieren“.(siehe https://www.tichyseinblick.de/meinungen/professor-patzelt-warum-afd-und-gruene-so-stark-werden-und-spd-wie-cdu-csu-verlieren/).

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Bereits vor vielen Jahren mahnte der Dresdner Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt, dass die traditionellen Volksparteien die Ängste und Befürchtungen der Anhänger von AfD und Pegida ernst nehmen sollten. Niemand wollte auf ihn hören, nun kommen den Etablierten die Wähler abhanden.

Metzger: Herr Patzelt, seit Jahren haben Sie als Politikwissenschaftler die politischen Parteien, allen voran die Union, vor einer „Repräsentationslücke“ gewarnt, die dadurch entstanden ist, dass sich eine immer größer werdende Minderheit des Volkes mit ihren Pro­blemen nicht mehr von der etablierten Politik vertreten sieht. Jetzt hat das Establishment die AfD „geerntet“, die bereits in 14 Landtagen und im Bun­destag sitzt und voraussichtlich im Oktober auch noch den bayerischen und den hessischen Landtag erobern wird. Wie fühlt man sich als mahnender Professor – mit CDU­-Parteibuch übrigens –, auf den nicht gehört wurde?

Werner J. Patzelt: Ungefähr so wie Kassandra, als in Troja die Griechen dem hölzernen Pferd entstiegen und sich daran machten, die Stadt zu erobern. Kassandra war gewiss nicht glücklich über das Eintreffen ihrer Warnungen, und sie hegte wohl grimmigen Zorn auf jene, die – weil töricht-ignorant – einst nicht auf sie hatten hören wollen. Doch intellektuell macht es mich schon zufrieden, dass meine ehedem viel kritisierten Analysen durch den Gang der Ereignisse nun als ganz zutreffend bestätigt wurden.

Sie sind persönlich als „Pegida-Ver­steher“ diskreditiert worden, als verkappter AfD­-Sympathisant und Rassist. Vergangenes Jahr wurde Ihr Privatauto vor dem Haus durch Brandstiftung zerstört. Sind die Täter eigentlich ermittelt worden?

Die Antifa Nordost hatte angekündigt, dass ich für meine politisch unwillkommenen Aussagen schon noch bezahlen würde. Nach dem Abfackeln des Familienwagens veröffentlichte sie dann im Internet ein Bekennerschreiben, das die Polizei für glaubwürdig hält. Jedenfalls ist klar, dass die – weiterhin unbekannten – Täter aus der linken Szene stammen.

Zu meinen Jugendzeiten mussten sich Linke immer anhören: „Geh doch nach drüben!“ Damit war jeglicher intellektuell redliche Streit unterbunden. Heute heißt es: „Geh doch zur AfD!“, wenn Bürger etwa die Migrationspolitik der Regierung kritisch hinterfragen. Was halten Sie von diesem Schubladendenken, sind das zulässige Abkürzungen?

Dummheit wird nicht dadurch besser, dass man ihr politisches Vorzeichen verändert! Das Wesentliche findet sich übrigens schon in Joseph Schumpeters Buch über „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ so ausgedrückt: Es sei immer wieder erstaunlich, wie tief die intellektuelle Leistungskraft selbst kluger Menschen absinke, sobald sie sich mit Politik befassten. Das lässt sich ja jederzeit beobachten. Angesichts komplexer Zusammenhänge außerhalb des eigenen Berufsalltags neigt nämlich jeder zu drastischen Vereinfachungen, um den Mühen des Faktensammelns, gründlichen Verstehens und konzeptueller Arbeit zu entgehen. Sich so zu verhalten, macht einen aber lächerlich, wenn man auf derlei Analysefaulheit auch noch stolz ist.

Zum Thema Komplexität und ihren Folgen möchte ich gern Ergebnisse des Instituts für Demoskopie in Allensbach ins Gespräch einführen: Im Juli hat das Institut ermittelt, dass die Deutschen eine „Sehnsucht nach starker Führung“ entwickeln – gerade vor dem Hintergrund der Migrationsproblematik und der Angst vor kultureller Überfremdung. Deshalb würden immer mehr autokratische Politiker in Europa und der Welt demokratisch legitimiert, die auf die Schwächung bewährter Institutionen setzen und die demokratische Kultur beschädigen. Sie haben in Ihren Analysen immer die „Repräsentationslücke“ als Erklärung für den politischen Frust in der Bevölkerung bemüht. Was halten Sie von diesem Allensbacher Erklärungsmuster?

Die Wirkungskette ist durchaus länger, als dass Leute in unübersichtlichen Lagen schlicht führergläubig würden. Viele spüren einfach, dass die alten, einst erfolgreichen Politikrezepte – mehr Liberalität, mehr Europa, mehr Globalisierung et cetera – nicht mehr so recht funktionieren. Die von ihnen geprägte Politik hat nicht nur die Voraussetzungen ihres Wirkens verändert, sondern auch erhebliche Begleitschäden gezeitigt. Bisherige Politik ist sozusagen in ihren Grenznutzenbereich gelangt. Doch ein Großteil der Politiker- und Journalistenschaft tut so, als reichten Politikansätze der Vergangenheit auch für die Zukunft aus. Jedenfalls sperrt man sich gegen eine auf Alternativen ausgehende Kritik. Das empört viele, zumal in Verbindung mit dem Eindruck, derlei Debattenverweigerung paare sich mit opportunistischem Durchlavieren auf demoskopischer Grundlage und mit Arroganz gegenüber Andersdenkenden. Das Ergebnis ist lautstarke Kritik am Politikbetrieb samt Lust auf provozierenden Protest. Der zielt auf veränderte politische Positionen angesichts neuer Herausforderungen. Wer zielführend veränderte Positionen anzubieten scheint, bekommt dann einen Vertrauensvorschuss – auch ganz persönlich. Das alles hat viel zu tun mit dem Verlangen nach problemlösender politischer Führung demokratisch gewählter Repräsentanten, doch wenig mit Autoritarismus oder einer Führernostalgie.

Der Bundesinnenminister und CSU-Vorsitzende Horst Seehofer hat vor der Sommerpause mit seinem Masterplan zur Migration spektakulär ein Thema aufgesetzt, das nach wie vor viele Bürger umtreibt. Die AfD ist mit der Massenmigration groß geworden. Die CSU kann damit allerdings keine Punkte machen, wie sämtliche Umfragen aus Bayern zeigen. Selbst in Bayern wählt man dann lieber das Original, die AfD, vermelden die Konkurrenzparteien und die Medien. Der CSU droht am 14. Oktober eine historische Pleite bei der Landtagswahl.

Vorausgeschickt sei, dass die Vorstellung abwegig ist, eine Partei im Kindergartenalter wie die AfD könne im Verhältnis zur gut 70-jährigen CSU das Original sein. Natürlich sind die C-Parteien mit ihren früheren politischen Positionen das Original! Doch seit es dieses Original nicht mehr gibt, oder weil seine Reste nicht mehr überzeugen, greifen immer mehr Leute zur AfD als schlechter Kopie. Wer die dann gedankenlos ein Original nennt, besorgt das Geschäft der Rechtspopulisten. Es ist bizarr, dass vor allem deren linke Gegner es so halten. Anscheinend macht sie die Freude über das Ende der Mitte-Rechts-Union analytisch blind.

Doch zur Sache: Seehofer hat mit seinem Masterplan zur Migration und Integration genau das wahlentscheidende Thema angepackt. Ein Staat muss nämlich in der Lage sein, seine Grenzen zu kontrollieren und über die Zusammensetzung des Staatsvolks zu entscheiden, falls er demokratisch legitimiert sein will. Doch in der Handhabung dieses Themas wurden zwei entscheidende Fehler gemacht – einer von der CSU, der andere von Angela Merkel. Seitens der CSU war es falsch, sich rhetorisch im Stammtischradikalismus gehenzulassen und, nach Ablauf eines so entstandenen CSU-Ultimatums, dann zu kneifen, also dem Parteivorsitzenden die klare Unterstützung zu entziehen. So handelte man sich hämische Kommentare ein, von der Art „als Tiger gestartet, als Bettvorleger gelandet“. Seitens der Kanzlerin war es falsch, eine Petitesse wie die erwartungsgemäß geringe Anzahl der an Bayerns Außengrenzen gemäß EU-Recht Zurückzuweisenden zum Gegenstand ihrer Richtlinienkompetenz zu machen. Gegenüber einem SPD- oder FDP-Vorsitzenden hat sich Angela Merkel dergleichen niemals erlaubt. Also konnte sich Seehofer als Vorsitzender einer krisenbedrohten Schwesterpartei solches erst recht nicht bieten lassen. Ziemlich arrogant hat die CDU-Kanzlerin hier ein Feuer angefacht, welches dann beide Parteien sehr schädigte. Jedenfalls ist Merkel der wahlkämpfenden CSU ohne Not in den Rücken gefallen.

Warum profitiert die AfD in Bayern, wenn die CSU nach Ihrer Ansicht doch das richtige Thema in der Debatte aufgesetzt hat?

Weil viele nun auch in Bayern glauben, dass in wichtigen Politikfragen nicht einmal mehr auf die CSU Verlass ist! Die CDU wedelt mit ihr nämlich wie ein Hund mit seinem Schwanz; also bringt es nichts, den Schwanz zu streicheln, wenn man den Hund zum Laufen bringen will. Viel vernünftiger wirkt es dann, den bräsig gewordenen Hund durch einen neuen Kläffer aufzustören. Das geht derzeit am besten durch das Wahlkreuz bei der AfD. Entlang genau dieser Wahrnehmungs- und Wirkungskette wird Bayerns CSU am 14. Oktober gewaltig für die Migrationspolitik der CDU-Kanzlerin büßen – und so mancher Landesverband der CDU später auch.

Die etablierten Volksparteien stürzen derzeit in allen veröffentlichten Umfragen ab. Die Sozialdemokraten, die einst bei über 40 Prozent lagen, mit dem Aufkommen der Grünen und später der Linkspartei unter die 30-Prozent-Schwelle gedrückt wurden und heute in den Umfragen mit AfD und Grünen um Platz 2 rangeln, sind womöglich die negative Blaupause für die Union. Mit der AfD hat sich deutlich rechts der Mitte so schnell eine Partei etabliert wie nie zuvor im Nachkriegsdeutschland. Mit der Hegemonie der CDU im Mitte-rechts-Lager ist es vorbei. Für die SPD im Mitte-links-Lager gilt das schon lange.

Eben davor warne ich seit über einem Jahrzehnt. Der Aufstieg von DVU und NPD in Ostdeutschland war Vorbote dieser Entwicklung. Doch die Union – und die Parteien links von ihr erst recht – wollten rechte Parteien ausgerechnet durch ein Beschweigen jener Themen kleinhalten, die diesen Parteien doch Zulauf verschafften, vom Patriotismus bis zur Zuwanderungskontrolle. So entstand jene Repräsentationslücke, welche nun die AfD füllt. Sie stieß in sie mit dem Thema „Eurorettung“ und eroberte sie dann mit ihrer Ablehnung genau jener Massenmigration, zu deren Ikone 2015 die CDU-Kanzlerin wurde. Auf diese Weise brachte sich nun auch die Union in jene strategisch missliche Lage, an der die SPD seit dem Aufkommen von Grünen und Linken schon lange leidet.

In Hessen wird am 28. Oktober gewählt. Der dortige CDU-Landesverband war lange stramm konservativ. Jetzt hat sich auch dort die CDU liberalisiert, regiert mit den Grünen. Allem Anschein nach muss vor allem die CDU mit einem bitteren Wahlergebnis rechnen. Denn die AfD wird auch dort erstmals in den Landtag einziehen.

So wird es kommen. Also sollte man auf die tiefer liegenden Gründe blicken. Sie haben damit zu tun, dass sich Parteiensysteme anhand von gesellschaftlichen Großkonflikten entwickeln. Anfangs des 19. Jahrhunderts war das der Konflikt zwischen dem „ancien régime“ und dem Liberalismus; der schuf die konservativen und die liberalen Parteien. In der Mitte des 19. Jahrhunderts kam der Konflikt zwischen der entstandenen Arbeiterklasse und den etablierten Liberalen sowie Konservativen hinzu. Aus ihm entstanden die kommunistischen, sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien. Es folgt um die Jahrhundertwende die Krise des liberalen Staates; sie bringt die faschistischen Parteien hervor. Im 20. Jahrhundert kommt es zu Konflikten zwischen Ökonomie und Ökologie; in ihnen blühen allenthalben die Grünen auf. Und nun ist ein neuer, die nächsten Jahrzehnte prägender Großkonflikt entstanden, quer über Europa, und schichtet erneut die Parteiensysteme um. Er dreht sich um die Frage: Was soll die Rolle von Nationalstaaten samt ihren Kulturen, Grenzen und Bevölkerungsdynamiken im 21. Jahrhundert sein – nämlich unter dem Druck europäischer Unterjüngung und großem Migrationsverlangen in Ländern mit sehr jugendlicher Bevölkerung und schlechten Lebensaussichten?

Besonders zwei Parteien profitieren derzeit massiv: die AfD und die Grünen.

Ja, und aus gutem Grund: Beide vertreten in diesem Großkonflikt in sich stimmige Positionen und stehen einander gegnerisch gegenüber. Die Grünen sind für weltweite Freizügigkeit, für die Überwindung von Nationalstaaten und Grenzen, für den Verzicht auf die Idee nationaler Kulturen. Hingegen will die AfD jede rein selbst ermächtigte Zuwanderung stoppen, den Nationalstaat mitsamt seinen Grenzen sichern und eine deutsche Kultur pflegen. Beide Positionen werden scharf profiliert von starken Minderheiten vertreten. Hingegen ist die SPD bei alledem gespalten, vor allem zwischen Führung und kommunaler Basis. Also sitzt sie in der Glaubwürdigkeitsfalle. In der Union neigt eine Mehrheit der AfD-Position zu, traut sich aber nicht, das auch öffentlich zu vertreten, und erst recht nicht angesichts der jüngsten Erfahrungen der CSU mit ihrer Schwesterpartei. Also wird Hessens CDU, die vor ihrer Ortsverlagerung in die liberale Mitte ziemlich genau dort stand, wo sich heute die Mehrheit der AfD befindet, einen doppelten Aderlass erleben: sowohl zugunsten der Grünen als auch zum Nutzen der AfD. Tatsächlich könnten beide ehemalige Volksparteien zwischen Grünen und AfD zerrieben werden, solange sie im neuen Großkonflikt keine eindeutigen Positionen beziehen. Doch während die Grünen inzwischen zu einer professionellen Partei geworden sind, weiß man bei der AfD noch immer nicht, ob ihr Ähnliches gelingt. Derzeit überwiegt bei ihren Gegnern, zumal in der CDU, die bequeme Hoffnung, die AfD werde sich durch weitere Radikalisierung selbst aus dem Spiel nehmen. Das dürfte sich aber als Wunschdenken erweisen. Im Grunde hätte wenigstens die CDU nach dem Aufkommen von Pegida und dem Kurswechsel der AfD im Sommer 2015 aufwachen müssen. Mahnungen gab es genug – auch von mir. Doch wer nicht hören will, der wird eben fühlen.

Herzlichen Dank für das spannende Gespräch!

 

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