Islam, Muslime – und Deutschland

Islam, Muslime – und Deutschland

Werner J. Patzelt

 

Islam, Muslime – und Deutschland

 

Jeder hat wohl eine Meinung darüber, ob der Islam oder Muslime zu Deutschland gehörten. Manche werden sich eine Art unumstößliche Meinung gebildet haben; andere könnten noch auf der Suche nach einer bleibenden persönlichen Einschätzung sein. Bei diesen letzteren dürften die folgenden Überlegungen auf den fruchtbareren Boden fallen.[1] Bei den anderen könnte es hilfreich sein, sozusagen den Acker vorher durch Pflügen für das einzubringende Saatgut vorzubereiten.

 

 

I. Vorbereitende Fragen

Die nachfolgenden elf Fragen helfen beim Versuch, sich erst einmal neugierig zu öffnen, bevor man sich ans Verteidigen des bislang Gedachten macht. Diese Fragen sollte jeder für sich beantworten – und, vor allen Dingen, an jedes „Ja“ oder „Nein“ gleich auch einen Nebensatz anschließen, der mit „weil“ beginnt und nicht zu kurz ist. Folgendes wären die sensibilisierenden Fragen: Meint „zu etwas gehören“ einfach: „da sein“? Meint „zu etwas gehören“ im Grunde: „ein Bestandteil von etwas sein, ohne den es einfach nicht geht“? Gehört das Christentum zu Deutschland? Gehören Christen zu Deutschland? Gehören Muslime zu Deutschland? Gehört der Islam zu Deutschland? Gehört der Islam zur Türkei? Gehört das Christentum zur Türkei? Gehören Christen zur Türkei? Gehört das Christentum zu den USA? Gehört der Islam zu den USA?

Es wäre schon wichtig, dass die Begründungen in den „weil-Sätzen“ untereinander zusammenpassen. Und beim Antworten auf diese Fragen, erst recht beim Nachdenken über deren Begründungen, sollte sich obendrein jeder darüber klarwerden, in welchem Ausmaß – wie Jürgen Habermas das einst einprägsam formulierte – er „religiös musikalisch“ ist. Denn selbst wenn man nur über die kulturellen oder politischen Rollen des Christentums oder des Islam nachdenken will, wird es nicht folgenlos sein, wie gut man auch das sozusagen „echt Religiöse“ an einer Religion verstehen, ja dessen Reiz selbst nachfühlen kann. Einige Beispiele mögen helfen, das hier Wichtige vor Augen zu führen.

Zwar hört auch ein Unmusikalischer, ob Musik gespielt wird oder nicht. Macht es aber wirklich keinen Unterschied, ob jemand auch hört (oder eben nicht), dass es sich bei den gespielten Klängen um Bach oder Mozart, um Dixie oder Soul, um die Beatles oder um Pink Floyd handelt? Ist wohl das Wesentliche schon mit der Feststellung bemerkt, ob einen die gehörten Klänge stören oder nicht? Und natürlich kann auch ein Unmusikalischer lernen, Noten zu lesen. Ob ihm dann aber eine Partitur ebenso viel sagen wird wie einem Musikalischen, der ebenfalls Noten lesen kann? Oder wenn ein Unmusikalischer, nachdem er sich informiert hat, einen Text über Schuberts Klaviermusik schriebe: Wäre wohl in diesem Text ebenso viel Treffliches über Schuberts Klaviermusik zu finden wie im Text eines ebenso gut informierten Musikalischen?

Diese Beispiele sollten den Sinn dafür geöffnet haben, dass es für die Einschätzung von Christentum, Islam, Buddhismus, Hinduismus, Taoismus usw. nicht unwichtig ist, ob man auch selbst ein mehr oder minder intuitives Verständnis für Religion, für ihren ästhetischen Reiz und für ihre seelische Dynamik besitzt – oder ob man über die Rolle von Religion und ihren „Sitz im Leben“ letztlich das glauben muss, was andere über das alles gesagt oder geschrieben haben. Mir jedenfalls hat sich immer wieder der Eindruck aufgedrängt, dass besonders holzschnittartig von Religion und somit auch vom Islam gerade jene sprechen, die – oft sogar stolz darauf – zugleich zu erkennen geben, dass sie weder religiös musikalisch sind noch meinen, ihnen fehlte aus diesem Grund ein hilfreicher Zugang zu einem seinerseits nicht unwichtigen Wirklichkeitsbereich.

 

 

II. Gibt es überhaupt „den“ Islam?

Einesteils gibt es „den“ Islam genauso wie „das“ Christentum oder „den“ Buddhismus. Kaum einer dürfte nämlich Schwierigkeiten haben, bei einem Kultgebäude oder bei einem liturgischen Vollzug zu erkennen, ob es da im Wesentlichen um Islamisches, Christliches oder Buddhistisches geht. Andernteils gab – und gibt – es sehr scharfe Auseinandersetzungen darüber, was denn genau die Kernlehren des Christentums, des Islam oder des Buddhismus wären, wen man also einen „richtigen“ Christen, Muslim oder Buddhisten nennen dürfte im Unterschied zu bloßen „Kulturchristen“, „säkularisierten Muslimen“ oder „Wellness-Buddhisten“. Im Übrigen werden sehr viele wissen, dass ein Orthodoxer eine ziemlich andere Form des Christentums praktiziert als ein Baptist, sich Sunniten und Schiiten durchaus unterscheiden, und ein Zen-Buddhist etwas sehr anderes ist als ein Lamaist.

Beides ist also sinnvoll: einerseits die Rede von „dem“ Islam, „dem“ Christentum und „dem“ Buddhismus; und andererseits der Hinweis darauf, dass Menschen auf sehr unterschiedliche Weise Muslime, Christen oder Buddhisten sein können, also die gleiche Religion sich unter verschiedenen Umständen sehr mannigfaltig ausformen, ja sogar selbst verstehen kann. Was aber wäre dann der „richtige“ Islam, das „eigentliche“ Christentum, der „authentische Buddhismus“?

Zunächst einmal spricht nichts dagegen, gerade das für „das Wesentliche“ an einer Religion zu halten, was einem selbst als deren „Kern“ einleuchtet. Doch was sagt man, wenn einem ein Muslim, Christ oder Buddhist dann entgegnet, er – sozusagen ein „alltagspraktischer Experte“ für die eigene Religion – hielte etwas ganz anderes für den Kern, für das Wesentliche an seiner Religion? Wird es in dieser Lage wohl sinnvoll sein, dass der Beobachter jetzt in inner-religiösen Streitigkeiten um die „richtige Auslegung“ einer Religion Partei ergreift, also besser zu wissen behauptet als der mit ihm diskutierende Muslim, Christ oder Buddhist, worum es in dessen Religion letztlich geht?

Natürlich kann man das so halten. Es mag schließlich jeder Mensch ein falsches und somit kritikwürdiges Bewusstsein von dem haben, was er sozusagen „wirklich“ denkt – gleich ob politisch oder religiös. Auch kann es sein, dass jemand sich absichtlich verstellt. Also muss man auch nicht jede Behauptung eines Muslim, Christen oder Buddhisten widerspruchslos akzeptieren, seine Auslegung seiner Religion wäre der des Beobachters an Richtigkeit deshalb überlegen, weil man doch von der eigenen Religion spräche. Außerdem hängt ohnehin viel mehr vom gemeinsamen Glauben und von der gemeinsamen Religionspraxis von Angehörigen einer Religion ab, was der „Kern“ oder das „Wesentliche“ dieser Religion ist, als von der subjektiven Ausdeutung dieser Religion durch einen einzelnen Glaubenden oder Beobachter.

Ebenso wichtig wie die Frage danach, was unter den nebeneinander bestehenden Ausprägungen des Islam, des Christentums oder des Buddhismus wohl „die richtige“ wäre, ist ohnehin das Suchen nach Aufschluss darüber, warum wohl dieselbe Religion so verschiedene Gestalten annehmen kann, ja sich mitunter zerstreitet bis hin zu wechselseitigen Lehrverurteilungen und zur Verfolgung von religionsintern Andersgläubigen. Und noch wichtiger wäre es, eine Art „analytisches Gefühl“ für die kulturellen und sozialen Anpassungs- bzw. Entwicklungspotentiale eines religiösen Glaubens zu erwerben – und für deren wahrscheinliche Grenzen ebenso. In diesem Zusammenhang verfängt übrigens der geläufige Hinweis nicht, „das Wesentliche“ an einer Religion könne sich gar nicht ändern: Gerade um das richtige Verständnis dieses „Kerns“ einer Religion dreht sich ja ein Großteil religionsinterner Diskussionen darüber, was im Rahmen dieser Religion „geht“ und was „nicht geht“.

 

III. Wie kann man „das Wesentliche“ an einer Religion herausfinden?

Drei Quellen lassen mit ziemlicher Zuverlässigkeit „das Wesentliche“ an einer Religion erkennen: ihre grundlegenden Texte, zumal ihre „Heiligen Schriften“; ihre Riten bzw. Liturgie; sowie die als „rechtgeleitet“ erachteten Verhaltensweisen ihrer Anhänger. Aus der ersten Quelle lernt man, was als „richtiger Glaube“ gelten kann, aus den anderen beiden, wie der Glaube „richtig gelebt“ wird – sei es im religiösen Ritual, sei es im normalen Alltag. Es geht also einerseits um Orthodoxie (von griech. orthós, d.h. richtig, und dóxa, d.h. Meinung, Glaube), und andererseits – auf liturgische und alltägliche Weise – um Orthopraxie (von griech. práxis, d.h. Handeln, Tun).

Weil der Kerngehalt einer Religion immer wieder zeitspezifisch ausgelegt werden muss, lässt er sich am leichtesten dann erkennen, wenn es in der sozialen Organisation einer Religion so etwas wie ein „Lehramt“ gibt. Ein solches legt für alle Religionsangehörigen verbindlich fest, was die zu glaubenden Lehren dieser Religion wären. Außerdem kann man „das Wesentliche“ an einer Religion besonders leicht ausfindig machen, wenn sie klare Gebote und Verbote für das Handeln der Gläubigen formuliert sowie deren Verletzung in einer ziemlich verlässlichen Weise bestraft.

Unter den großen Religionen ist Klarheit dieser Art am leichtesten bei der katholischen Ausprägung des Christentums zu erlangen. Hier gibt es nicht nur unter dem Namen „Dogmatik“ (von griech. dógma, d.h. Beschluss, Lehrsatz) eine seit vielen Jahrhunderten durchgehaltene Klärung der Glaubensinhalte, sondern in Form von „Konzilen“ auch noch Vertretungskörperschaften mit der Autorität, das zu Glaubende verbindlich vom „Irrtum“ oder der „Häresie“ zu unterscheiden. Außerdem findet sich – in Gestalt des Papstes – eine Institution, der nicht nur „Unfehlbarkeit“ in Glaubensfragen zugeschrieben wird, sondern die vor allem das Recht hat, „Irrlehrer“ von der Verkündigung des Glaubens auszuschließen. Obendrein gibt es (nämlich im Kirchenrecht und in den – oft „Beichtspiegel“ genannten – Anleitungen für die persönliche Rechenschaftsablegung darüber, ob man als Christ richtig oder falsch gehandelt hat) sehr präzise Aussagen dazu, welche Handlungsweisen religiös geboten, verboten oder eben – nach pragmatischen Gesichtspunkten – frei zu wählen sind.

Obwohl sich im katholischen Christentum auf diese Weise leicht herausfinden lässt, was als „das Wesentliche“ des Glaubens behauptet wird, trifft auch im Katholizismus – und ohnehin in der Praxis der Christenheit – diese Herausarbeitung des „Kerns“ der Religion auf vielerlei Widerspruch und Widerstand. Der gründet nicht zuletzt in unterschiedlichen Denk-, Lehr- und Sozialtraditionen. Also ist es sogar für das das diesbezüglich sehr klar auftretende Christentum keine triviale Aufgabe, das am Glauben Unveränderliche von dessen je kultur- und zeitspezifischen Umsetzungen zu unterscheiden.

Im Bereich des Islam ist das noch weniger leicht. Es gibt dort nämlich kein Lehramt, das einer zentralen und vom Anspruch her konkurrenzfreien Institution anvertraut wäre. Stattdessen finden sich unterschiedliche Traditionen sowohl der Auslegung als auch der Praxis dieser Religion, die ihrerseits oft nicht nur nebeneinander bestehen, sondern nicht selten konkurrieren, ja einander wechselseitig als „unislamisch“ kritisieren. Da ist etwa der vom „Islamischen Staat“ praktizierte Islam im Unterschied zu jenem, der am Münsteraner Zentrum für Islamische Theologie gelehrt wird. Da sind die Unterschiede zwischen dem sunnitischen und dem schiitischen Islam. Und da sind die Unterschiede zwischen den Rechtsschulen bzw. Normenlehren beispielsweise der Hanafiten, Malikiten, Schafiiten und Hanbaliten. Es ist zwar aus der Warte jeder dieser Richtungen der Versuch möglich, „das Wesentliche“ am Islam herauszuarbeiten und von ihm aus den „authentischen“ Islam von dessen „fehlgeleiteten“ Ausprägungen zu unterscheiden. Es wird sich aber kaum vermeiden lassen, dafür Widerspruch aus jeweils anderen, fraglos ebenfalls authentisch islamischen Rechtsschulen oder Traditionen zu ernten.

Aus vielerlei Gründen also ist der Islam mindestens ebenso vielfältig wie das Christentum. Deshalb muss ein Muslim, der über seinen Kindheitsislam hinauswachsen will, sich durchaus entscheiden, welcher Ausprägung des Islam er folgen möchte – und sei es durch persönliche Bevorzugung der Lehren eines bestimmten Imam. Doch vor allem steht eine pluralistische, nicht bereits durch eine längst eingeführte Form des Islam geprägte Gesellschaft wie die unsere vor der ganz praktischen und unumgänglichen Herausforderung, sich darüber klarzuwerden, ob wohl jede Form des Islam zu ihr passen könnte – und, falls nein, welche Ausgestaltungen des Islam sie auf welche Weise fördern bzw. im eigenen Land unterbinden sollte. Dabei wird sich rasch Konsens darüber finden lassen, dass der wahhabitische Islam Saudi-Arabiens nicht wirklich zu unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung passt. Dissens hingegen wird über der Frage entstehen, mit welchem Recht sich säkulare politische Ordnungsvorstellungen überhaupt einen Vorrang vor Gottes im Koran geoffenbarten Worten anmaßen.

Sich solchen Diskussionen aus der Warte eines freiheitlichen und religionsneutralen Staates stellend, gerät man nun leicht in die Versuchung, von außen her Muslimen sagen zu wollen, wie der Islam sich ausformen und was ein Muslim glauben solle. Dieser Versuchung nachzugeben, führt allerdings umso rascher auf sowohl argumentativ als auch politisch unhaltbare Positionen, je weniger Konsens es innerhalb einer Religion selbst über akzeptable Antworten auf die Frage gibt, was genau ihr „Kern“ wäre, und welche Verhaltensforderungen an die Gläubigen unverhandelbar aus den Kerngehalten des Glaubens folgten. Dann nämlich lässt sich jeder Beschreibung eines „anzustrebenden“ Islam auf der Grundlage authentischer, durch Religionsfreiheit geschützter muslimischer Überzeugungen und Praxen widersprechen. Derlei Zerstrittenheit kennzeichnet nun aber den Islam ganz besonders. Etwa behandelt Boko Haram Verhaltensweisen als völlig inakzeptabel, die unter US-Muslimen als ganz normal gelten, und ist die Türkei ein ziemlich anders gearteter islamischer Staat als der Iran.

Wenig bringt es im Übrigen, einfach vom „Islam“ den „Islamismus“ zu unterscheiden. Es behaupten nämlich auch jene Dschihadisten und Salafisten, die wir üblicherweise „Islamisten“ nennen, dass sie nichts anderes als gläubige Muslime wären. Eine solche subjektive Überzeugung lässt sich aber nicht mit wirklich überzeugenden Gründen zurückweisen – und durch Nicht-Muslime schon gleich gar nicht. Diesen leuchtet umgekehrt die Behauptung wenig ein, weltweit beachtete islamistische Terrorakte, begangen von Muslimen gar noch im Namen ihrer Religion, hätten überhaupt nichts mit dem Islam zu tun. Letzteres kann man zwar vertreten, doch nur um den Preis des Anspruchs, man selbst verstehe den Islam richtig, alle anderen – zumal „Islamisten“ – hingegen verstünden ihn falsch. Ein solcher Anspruch wirkt aber nicht sonderlich überzeugend, zumal nicht für jene, an die er sich beschwichtigend richtet. Im Übrigen werden viele die Grenze zwischen „Islamismus“ und „Islam“ durch die Taqiyya verwischt sehen, nämlich durch die – nicht nur im schiitischen Islam bekannte – Zulässigkeit einer Verheimlichung der eigenen Überzeugungen im Fall einer Gefahr für Leben, Leib, Besitz oder gar die eigenen Interessen. Islamkritiker wollen hier sogar eine „Pflicht zur Lüge und Verstellung“ erkennen, die davon abrate, Muslimen überhaupt zu vertrauen.

 

IV. Möglichkeiten und Spielräume der Auslegung „Heiliger Schriften“

Die Hoffnung wäre nun, dass der Blick in die „Heiligen Schriften“ den Kern einer Religion verlässlich erkennen lasse. Das ist durchaus richtig. Doch die Auslegung von Texten hat ihre Tücken, die man besser kennt.

Ausgangspunkt jeder Auslegung eines Textes, und somit auch einer „Heiligen Schrift“, ist die Zurkenntnisnahme dessen, was dort – Satz für Satz – tatsächlich aufgeschrieben und gesagt ist. Man nennt das die „grammatische Interpretation“, weil sie vom tatsächlich formulierten Wort und von jenen Regeln ausgeht, die anstelle einer Aneinanderreihung von Worten sinnvolle Sätze entstehen lassen. Genau so verfahren jene, die sorgfältig den Koran lesen, ihnen als wichtig auffallende Sätze markieren, Gruppen von gut zueinander passenden Stellen aus verschiedenen Suren zusammenstellen und sich auf diese Weise erschließen, „was im Koran steht“. An diesem Verfahren ist nichts falsch. Es ist der unverzichtbare Ausgangspunkt jeder Auslegung des Korans.

Doch dem einen fällt die eine Art von Textstellen als besonders wichtig auf, dem anderen hingegen eine recht andere Art von Textstellen. Was einem als besonders wichtig auffällt, hängt natürlich stark davon ab, wonach man sucht. Der eine will etwa alle Passagen des Korans zusammenstellen, in denen Gewalt gegen Ungläubige gerechtfertigt wird – der andere aber alle jene Stellen, an denen der Koran zur Friedlichkeit mahnt. Wurden von beiden Lesern die sie jeweils interessierenden Textauszüge korrekt und vollständig zusammengetragen, dann haben beide Recht mit ihrer Behauptung, im Koran stünde dieses – und eben auch jenes. Doch worauf zielen die zusammengestellten Passagen wirklich ab? Sind die einen ernst gemeint, die anderen aber geheuchelt?

Will man an dieser Stelle des Diskurses über bloßes Streiten hinausgelangen, muss man den nächsten Schritt beim Auslegen eines Textes tun. Bei ihm geht es darum, die einen Passagen „im Licht“ der anderen Passagen zu deuten, ja jede einzelne Stelle im Licht aller anderen Stellen anzusehen. Nur auf diese Weise versteht man nämlich, was jeder einzelne Satz nicht nur für sich genommen, sondern im Gesamtzusammenhang besagt. Solches Vorgehen heißt „systematische Interpretation“. Sie setzt ungleich mehr Vorwissen voraus als die grammatische Interpretation. Nun ist nämlich jeder Text in seinen Kon-Text zu stellen, und natürlich auch jeder Kontext in den Rahmen aller anderen Texte, auf die er sich bezieht oder mit denen er erkenntnisträchtig in Beziehung gesetzt werden kann. Also muss man den Koran etwa auf die Hadithe beziehen, d.h. auf die Überlieferungen der Worte, Handlungen und Billigungen des Propheten Mohammed – und diese ihrerseits auf den Koran.

Solche Auslegungsschritte verlangen große Gelehrsamkeit, nämlich eine umfassende Beherrschung vieler Texte sowie die Kenntnis der – oft jahrhundertelangen – Diskussion um deren wechselseitigen Bezüge. Während sich die grammatische Interpretation durchaus von Laien leisten lässt, kommt deren Deutungskompetenz bei der systematischen Interpretation rasch an ihre Grenzen. Am Umgang mit dem Koran sowohl von „Islamisten“ als auch von „Islamkritikern“ lässt sich das leicht erkennen. Und besonders unerquickliche Diskussionen entstehen immer dann, wenn einem Gesprächspartner gar nicht in den Sinn kommt, dass es diesen zweiten Schritt bei der Interpretation einer „Heiligen Schrift“ nicht nur gibt, sondern es auch erforderlich ist, ihn zu tun.

Allerdings führt auch dieser zweite Schritt noch nicht ans Ziel. Schon wenn man Worte und Sätze deutet, muss man doch klären, ob ein Wort oder Satz für einen heutigen Zeitgenossen wohl ebenso klingen mag wie für den Verfasser des Satzes – oder für einen damaligen Hörer jener Worte. Und wenn es um die Zusammenhänge zwischen Textpassagen geht, muss man schon auch die Frage beantworten, ob ein uns heute einleuchtender Zusammenhang wohl schon früheren Lesern eingeleuchtet haben wird – und umgekehrt, welche Zusammenhänge, die der Verfasser des Textes im Sinn haben mochte, für uns Heutige nicht mehr, oder nicht mehr so recht, erkennbar sind. Man muss also die Deutungshorizonte der jeweils eigenen Gegenwart überschreiten und zu erkennen versuchen, in welche Zeitgegebenheiten hinein, sowie aus welchen zeitbesonderen Umständen heraus, ein Text formuliert wurde. Derartige Versuche heißen „historische Interpretation“. Um sie leisten zu können, braucht man umfangreiches politik-, wirtschafts-, sozial- und kulturgeschichtliches Wissen. Nicht einmal jeder Fachgelehrte verfügt darüber jederzeit, sondern muss sich seinerseits fallbezogen belesen oder beraten lassen. Damit sind wir aber voll und ganz ins Arbeitsgebiet professioneller Forschung gelangt, auf dem weder anders spezialisierte Wissenschaftler noch gar Laien mithalten können.

Die sich hier stellende Herausforderung ist aber noch viel größer. Geschichtsbilder – und die „Geschichtserzählungen“ bzw. „Narrative“, in welche sie eingebettet sind – verändern sich nämlich. Das kommt daher, dass Historiker aus der Warte ihrer eigenen Zeit und im Licht zeitgenössischer Ansichten immer wieder andere Fragen an das historische Material stellen. Außerdem sind sie, je nach aktuellen Herausforderungen, an unterschiedlichen Dimensionen möglicher Antworten interessiert. Auf diese Weise aber wandeln sich auch jene Wissensbestände, auf die man zum Zweck einer historischen Interpretation zugreift. Dabei kann es sogar soweit kommen, dass man – geleitet von Erkenntnis- oder Gestaltungsanliegen aus der eigenen Gegenwart – sich die Geschichte so „zurechtlegt“, wie sie hätte sein sollen, damit man aus ihr jene Argumente für die Gegenwart ableiten kann, nach denen man sucht. Am Islam etwa wurden zu manchen Zeiten seine kriegerischen Züge, zu anderen Zeiten hingegen seine friedensstiftenden Errungenschaften herausgestellt. Wird aber so verfahren, dann dient die historische Interpretation nicht mehr als kritische Instanz gegenüber heutigen Deutungsversuchen. Vielmehr fungiert sie als Rechtfertigung heute erwünschter Interpretationen und verliert als solche ihren aufklärerischen Wert. Im Grunde setzt man bei einem solchen Verfahren nämlich an die Stelle dessen, was der Autor eines Textes sagen wollte, gerade das, was man selbst dem Text entnehmen will.

Auch dagegen braucht es somit ein Korrektiv. Diesen letzten Schritt der Textauslegung – „teleologische Interpretation“ genannt (von griech. télos, d.h. Ziel) – unternimmt man mit der Frage, was denn der Zweck einer bestimmten Aussage im zu interpretierenden Text wäre. Was wollte der Verfasser mit ihr erreichen? Auf welches dem Leser zu vermittelnde Gesamtverständnis zielte er wohl mit diesem oder jenem Satz? Offenbar kann man sich solche Fragen erst dann ernsthaft vornehmen, wenn die grammatische Interpretation verlässlich gelungen ist; wenn man dank systematischer Interpretation die Gesamtstruktur sowie die Wechselbezüge eines Textgefüges kennt; und sobald man aufgrund historischer Interpretation in der Lage ist, aus heutiger Warte zugeschriebenen Sinn von dem bei der Textentstehung wohl gemeinten Sinn zu unterscheiden.

Es gehört nun zu den häufigen Herausforderungen bei diesem Unterfangen, dass der Verfasser eines Textes unbekannt ist. Das kann es unmöglich machen, dessen Absichten verlässlich zu erkennen. Doch im Fall des Korans gibt es eine noch viel größere Herausforderung. Nach islamischem Glauben enthält nämlich der Koran unmittelbar die Worte Gottes, nämlich so, wie sie vom Engel Gabriel dem Propheten Mohammed eingegeben und von diesem dann anderen zum Aufschreiben vorgetragen wurden. Also verlangt die teleologische Interpretation des Korans nichts Geringeres, als jenen Willen Gottes zu begreifen, aus dem heraus er dem Propheten den Koran gleichsam ins Herz geschrieben hat.[2] Einer solchen Herausforderung aber stellt man sich besser mit Bescheidenheit. Am einfachsten wäre es in dieser Lage, sich auf eine lange, für richtig gehaltene Auslegungstradition verlassen zu können – etwa einer solchen, wie sie die katholische Kirche pflegt und auf die der Katholizismus seinen Anspruch zurückführt, den Glauben seit der Zeit Jesu durch alle Jahrhunderte hindurch unverfälscht weitergegeben zu haben. Doch zentrale Institutionen, die derlei leisten könnten, fehlen im Islam. Also endet die Interpretation des Korans durch einen pragmatischen „Abbruch des Auslegungsverfahrens“: Was führende Glaubensgelehrte für eine richtige Interpretation halten, wird für alle praktischen Zwecke eben als eine richtige Deutung behandelt – selbst wenn sie zu anderen, ebenfalls als richtig behandelten Deutungen in inhaltlicher Spannung steht.[3]

 

V. Noch einmal: Was ist „der“ Islam?

Das alles macht es zu einem gar nicht leichten Unterfangen, den „Kern“ des Islam und dessen „tatsächliche Forderungen“ ausfindig zu machen. Eigenes Lesen im Koran ist zwar wichtig. Es erschließt aber bei weitem nicht alles, was man bedenken muss, um zunächst den Koran und sodann den Islam angemessen zu verstehen. Beim letzteren Versuch hilft leider auch die vielgestaltige islamische Theologie nicht ebenso wirkungsvoll weiter wie im Fall des Christentums die katholische Dogmatik. Das hat nicht nur mit dem Fehlen eines zentralen „Lehramts“ zu tun, sondern auch damit, dass im Islam akzeptierte Traditionen einer historischen Interpretation des Korans schlechterdings fehlen, ja von nicht wenigen Muslimen ganz abgelehnt werden. Folglich ist innerislamisch nicht geklärt, was an den Lehren des Islam allein aus der Zeit Mohammeds zu verstehen und deshalb für heute zu relativieren wäre, was anderes aber als unveränderlich zu gelten hat.

Zwar gibt es weithin Konsens darüber, dass der Islam die letzte, höchste und darin endgültige Ausprägung der von Gott für alle Menschen gewollten Religion ist. Unbestritten ist dann auch, Muslime hätten sich dafür einzusetzen, dass der Islam zur Universalreligion schlechthin wird, eben dadurch die bestmögliche Gemeinschaft unter Menschen hervorbringt und genau so wirklichen Frieden unter allen jenen sichert, die sich Gottes Leitung unterstellt haben. Zu diesem Zweck aber muss der Islam schon auch das gesamte menschliche Leben regeln – vom persönlichen Leben über das Familienleben bis hin zum öffentlichen Leben einer Gesellschaft, zum Handeln eines Staates, zum Zusammenleben in der internationalen Gemeinschaft. Auf laizistische Art „Religion“ und „Politik“, religiöse Organisationen und Staat trennen zu wollen, wirkt vor dem Hintergrund solcher Überzeugungen wie eine ins Unglück führende Verirrung. Und schon gar keine Zweifel gibt es über jene fünf „Säulen des Islam“, die sich auf mehrere Suren des Koran stützen und in einem Hadith des Propheten überliefert sind: das Glaubensbekenntnis, wonach es nur einen Gott gibt und Mohammed sein Prophet ist; dass fünfmal täglich zu beten ist; dass für die Bedürftigen vom Einkommen Almosen abzugeben sind; dass im Ramadan zu fasten ist; und dass man einmal im Leben nach Mekka reisen soll.

Diese „fünf Säulen“ passen gewiss auch in jeden pluralistischen, freiheitlichen und demokratischen Staat. Doch was darüber hinaus ihre Religion tatsächlich lehrt und an konkretem Verhalten fordert, ist unter Muslimen sehr umstritten. Fatalerweise löst aber gerade das diesbezüglich Strittige in westlichen Staaten mancherlei Regelungswünsche, ja Regelungsbedürfnisse aus. Gibt es wohl eine religiöse Pflicht für Frauen, sich zu verschleiern – so dass ein demokratischer Staat, der die Religionsfreiheit zu gewährleisten beansprucht, derlei selbst dann nicht verbieten dürfte, wenn eine Mehrheit seiner Bürger in solchen Bekleidungsvorschriften Verletzungen des Individualrechts auf freie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit erkennen würde? Wäre es wohl wirklich religiös geboten, das islamische Recht so, wie es aus dem Koran und den Hadithen abgeleitet werden kann, über die Gesetze des jeweiligen Staates zu stellen? Oder dürfte der gesetzgeberische Wille auch einer ungläubigen (Parlaments-) Mehrheit den Vorrang haben vor Gottes im Koran niedergelegten Regeln und dem maßstabsetzenden Handeln des Propheten?

Aus solchen innerislamisch strittigen Fragen ergeben sich viele jener Tatsachen, die in westlichen Gesellschaften politisch-praktisch höchst folgenreich und obendrein brisant sind. Erstens findet sich unter Muslimen kein Konsens darüber, was ein – in westlicher Sprache ausgedrückt – „orthodoxer“ Islam im Unterschied zu einem „häretischen“ Islam wäre (von griech. haireīn, d.h. sich etwas zusammensuchen). Diesen Streit können Nicht-Muslime in keiner Weise schlichten – und am wenigsten dadurch, dass sie den Muslimen ihre eigene Interpretation des Islam zuschreiben oder andienen wollten. Zweitens ist unklar, ob ein in die westlichen Demokratien passender Islam von Muslimen und führenden Religionsgelehrten außerhalb der westlichen Demokratien überhaupt als ein „richtiger“ Islam angesehen würde. Deshalb gibt es – drittens – in den westlichen Gesellschaften Zweifel darüber, wem die Loyalitäten von Muslimen im Konfliktfall gelten würden: denen, die von außen her westliche Muslime als unislamisch tadeln – oder den Verfassungsordnungen westlicher Demokratien, an die sich anzupassen doch eben den Vorwurf auslöst, „unislamisch“ zu sein. Und das wiederum nährt – viertens – Zweifel daran, ob sich im Lauf der Zeit Muslime den kulturellen Mustern westlicher Gesellschaften wirklich anpassen würden, oder ob sie eher darauf drängen dürften, die westliche Kultur den Wünschen der immer größeren Zahl von in ihr lebenden Muslimen anzupassen. Auf den Begriff der „Islamisierung“ gebracht, haben solche Zweifel und Sorgen viel mit der geschichtlichen Entwicklung des Verhältnisses von Religion und Politik in den islamischen Zivilisationen zu tun.

 

 VI. Folgenreiche Besonderheiten der Geschichte des Islam

Die Geschichte des Islam unterscheidet sich sehr von der des Christentums. Dieses fing an als eine – vor allem städtische – Unterschichtenreligion, wurde freilich bald auch für Intellektuelle attraktiv und ließ sich darauf ein, die eigene Lehre im Licht der damals zeitgenössischen – nämlich griechischen – Philosophie zu klären. Fast drei Jahrhunderte lang stand das Christentum der – damals römischen – Staatsgewalt wie ein Fremdkörper gegenüber, wurde kritisch wahrgenommen und immer wieder verfolgt. Erst als der traditionelle antike Götterglaube gerade bei den Eliten seine Plausibilität eingebüßt hatte, die Vielzahl der blühenden Mysterienkulte um Mithras oder Isis die multikulturelle Gesellschaft des Reiches aber nicht integrieren konnte, wurde das schichtübergreifend attraktiv gewordene Christentum von den Kaisern zunächst als unbeanstandet praktizierbare Religion zugelassen, sodann privilegiert und schließlich zur Staatsreligion des späten römischen Reiches gemacht. Eine solche blieb sie auch nach der Eroberung von dessen „lateinischem“ Westteil durch germanische Völkerschaften. Nichts von alledem war in dem Sinn „notwendig“, dass Christentum, griechische Philosophie und römische Staatsraison irgendwie „von ihrem Wesen her“ zusammengepasst hätten und deshalb „natürlich zusammengewachsen“ wären. Es kam einfach so – und weil das Zusammenwirken funktionierte, verstärkten sich solche symbiotischen Prozesse.

Dennoch blieb im lateinischen Westteil des Reiches – viel weniger freilich im „griechischen“ Osten, der zum später so genannten „Byzantinischen Reich“ werden sollte – für das Christentum immer klar, dass die Kirche als „Volksversammlung um Jesus“ etwas anderes ist als der Staat, und dass es in der Religion um andere Anliegen und Fragen geht als in der Politik. Zwar benutzten beide Seiten Jahrhunderte lang einander, setzte also das Christentum religiöse Forderungen durch seine privilegierte Stellung im Staat durch – und stellte die Politik die seelische Anziehungs- und Rechtfertigungskraft des Christentums in den Dienst auch rundum weltlicher Ziele. Doch stets war dies bestenfalls eine Symbiose voller Konflikte. Tatsächlich befreite sich seit der Aufklärung der westliche Staat mehr und von den (Mit-) Gestaltungsansprüchen der christlichen Religion. Im Gegenzug bekamen die – inzwischen mehreren – christlichen Kirchen die Gelegenheit, von Partnern des Staates zu dessen kritischen Gegenspielern zu werden. Unser heutiges westliches Politikdenken, dem die Trennung von Staat und Kirche wie ein selbstverständlich anzustrebendes bzw. zu sicherndes Ziel gilt, entstammt nahtlos genau dieser Geschichte des Christentums. Ihre Kurzformel ist die einer „Dualität“ oder eines „Antagonismus“ von „geistlicher“ und „weltlicher“ Macht.

Mit dem Islam verhielt es sich ziemlich anders. Er breitete sich nicht langsam als Unterschichten- und später Intellektuellenreligion aus, sondern als eine Religion von Eroberern. Das prägte auch die traditionelle Maxime seines Selbstverständnisses: „Der Islam herrscht; er wird nicht beherrscht“.[4] Tatsächlich wurde, nach der Einnahme seiner Vaterstadt Mekka durch den Propheten im Jahr 630, binnen weniger Jahre die Arabische Halbinsel erobert, widerfuhr das binnen weiterer 30 Jahre Persien, Mesopotamien, Syrien sowie Ägypten, und bis zum Jahr 750 auch dem Rest Nordafrikas sowie der Iberischen Halbinsel. So gut wie der gesamte Bereich des Römischen Reiches, der an den West-, Süd- und Ostküsten des Mittelmeers lag, war auf diese Weise – einschließlich Persiens und Mesopotamiens – mitsamt der fortbestehenden antiken Technik und Kultur zur „islamischen Welt“ geworden. Diese griff später noch weiter nach Zentral- und Südasien aus und verbreitete sich ebenfalls von Nordafrika in die Regionen südlich der Sahara. Anders als die das Weströmische Reich erobernden Germanen ließen die siegreichen Araber, ohnehin ein Verbund multiethnischer Truppen und keine wandernden Völkerschaften, die bestehenden Verwaltungsstrukturen weitgehend intakt. Sie verhielten sich – sobald ihr Machtanspruch durchgesetzt war – religiös tolerant, sicherten aber ihre eigene Vorherrschaft gegenüber unterworfenen Andersgläubigen durch Sondersteuern, diskriminierende Bekleidungsvorschriften sowie rechtliche Unterschiede zwischen Nicht-Muslimen und Muslimen.

Politische Herrschaft und „richtige Religion“ wurde so zu zwei Seiten derselben Medaille. Deswegen brauchte es auch keine Scheidung staatlichen Rechts vom religiösen Recht. Im Kalifen verschmolz vielmehr „weltliches Regieren“ mit „religiösem Führen“. Auch nach der Zeit der ersten vier „rechtgeleiteten Kalifen“, nach der Entstehung unterschiedlicher Kalifate, sogar nach der türkischen Eroberung der arabischen Staaten und dem faktischen Aufgehen des Kalifats im osmanischen Sultanat, bestand der Leitgedanke guten Regierens und guter politischer Ordnung in der Hingabe der Politik an Gottes Willen und im Aufbau friedlicher Zustände unter islamischen Gesetzen. Die für das „Abendland“ so wichtige, für den heutigen westlichen Staat so weichenstellende Dualität von „weltlicher“ und „geistlicher“ Macht blieb auf diese Weise eine im Islam eher befremdliche politische Idee und prägte jahrhundertelang weder das politische Denken der islamischen Kulturen noch die Theologie des Islam.

Weil obendrein die islamischen Staaten als Erben der in ihren Herrschaftsgebieten weitgehend unversehrten antiken Kultur hochzivilisiert waren, zugleich angesichts der Rückständigkeit der germanischen Königreiche und der meist sehr vorsichtigen oströmischen Außenpolitik militärisch unbedroht blieben, ja obendrein alle zentralen Handelswege über den Nahen Osten hinein nach Zentral- und Südasien kontrollierten und auf diese Weise große Reichtümer ansammelten, entstanden höchst erfolgreiche und überaus selbstbewusste Gesellschaften bzw. Gemeinwesen. Dass die europäischen Eroberungsversuche Palästinas eine bloß kurze, keine 200 Jahre währende Episode blieben, bestärkte die islamische Welt erst recht im Glauben, schlechterdings perfekt und allen Ungläubigen überlegen zu sein.

Derlei Selbstzufriedenheit brachte die islamischen Kulturen im Lauf der Zeit allerdings um ihren wirtschaftlichen, kulturellen und technischen Elan. In Europa bis zur osmanischen Eroberung der Restbestände des (ost-) römischen Reiches im 15. Jh. sowie Ungarns im 16. Jh. zwar weiter expandierend, blieb die islamische Welt auf mehr und mehr Gebieten hinter der seit der Renaissance raschen technischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung des – seit damals so genannten – „Abendlandes“ zurück, das sich im Verlauf dieser Entwicklungen außerdem mehr und mehr säkularisierte. Frühe Warnsignale für das Ende islamisch-osmanischer Überlegenheit waren 1683 das zweite Scheitern einer Eroberung Wiens sowie die anschließende Rückeroberung Ungarns durch die Habsburger. Seit der französischen Expedition nach Ägypten (1798-1801), die das Reich der Mamelucken zu Fall brachte, und seit der anschließenden Durchdringung der afrikanischen und nahöstlichen Teile des Osmanischen Reiches durch die europäischen Kolonialmächte setzte eine tiefgreifende Krise der arabischen und osmanischen islamischen Kulturen ein. Immer weniger war man auf gleicher Augenhöhe zumal mit Frankreich und England.

Modernisierung erschien deshalb vielen Elitegruppen erforderlich. Die aber bestand im Wesentlichen in der Übernahme westlicher Vorbilder. Das war nicht nur eine kulturelle Demütigung, sondern spaltete obendrein die muslimischen Gesellschaften zwischen westlich ausgerichteten Eliten und sonstiger, weiterhin traditioneller Bevölkerung. Auch gelang es nicht, die nunmehr offenkundig gewordene Rückständigkeit islamischer Länder zu überwinden. Noch heute stellen selbst reiche islamische Staaten nur einen kleinen Teil jener technischen Infrastruktur selbst her, von der sie abhängig sind – vom Automobilbau über die chemische Industrie bis hin zur Hard- und Software zeitgenössischer Kommunikationstechnologie.

Zur besonders großen Traumatisierung der arabisch-islamischen Welt wurde die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 sowie dessen wirtschaftlicher, kultureller und militärischer Erfolg. Weitere Kränkungen zeitigten die Kriege der Sowjetunion und der USA samt ihrer Verbündeten gegen die muslimischen Staaten in Afghanistan und im Irak, später die Entwicklung des „Arabischen Frühlings“ hinein in Bürgerkrieg, Staatszerfall oder neu errichtete Diktatur. Auch macht nur oberflächlich jener Luxus stolz, den sich manche arabischen Staaten wegen ihres Ölreichtums leisten können: Sie wissen sich abhängig von der Nachfrage aus dem Westen und mittlerweile aus China – und haben es trotz ihres Geldes und der so oft bekundeten Zusammengehörigkeit aller Muslime nicht verstanden, die Armutskrisen in weniger reichen Ländern wie Ägypten oder in den Palästinensergebieten zu lösen.

Seit man im frühen 20. Jh. die eigene Rückständigkeit als eine durch neue Anstrengungen zu bewältigende politische Herausforderung akzeptiert hatte, nahmen die Reaktionen auf diese Krise muslimischer Selbstachtung im Wesentlichen zwei Formen an. Die eine bestand in tief empfundener Feindseligkeit gegenüber „dem Westen“, der einen deklassiert hatte und andauernd im eigenen Stolz verletzte. Zunächst von Frankreich und England verkörpert, wird dieser „hochmütige Westen“ seit Jahrzehnten von den USA angeführt und nutzt Israel sozusagen als „Statthalter“ im Kulturbereich von Muslimen. Die andere Reaktion war eine Rückbesinnung auf den Islam als zentraler Prägekraft jenes so lange anhaltenden, von einer Einheit aus Religion und Gesellschaft geprägten „goldenen Zeitalters“ der islamischen Welt. Sich auf europäische Kulturmuster einzulassen, hatte ja offenbar an der eigenen Rückständigkeit nicht viel geändert. Also wäre es besser, sich auf jene Zeiten zurückzubesinnen, da die islamische Welt dem Westen noch überlegen war – und zwar wohl deshalb, weil sie sich damals vom Islam leiten ließ und deshalb nicht an jener kulturellen Dekadenz litt, die anscheinend das Vordringen des Westens mit sich gebracht hatte.

Einer der Kristallisationspunkte solchen Neuauflebens des Islam war 1928 die Gründung der Muslimbruderschaft in Ägypten. Derartigen Bewegungen brachte – viel später – weiteren Zulauf, dass in Afghanistan und im Irak nicht wenige junge Muslime gegen die sowjetischen bzw. westlichen Invasions- und Besatzungstruppen gekämpft und diese am Ende eben doch zum Rückzug getrieben hatten. Wer sich also in Namen Gottes gegen den Westen stellte, der konnte dessen Vormacht durchaus bezwingen. Eine Reihe von Terroranschlägen in westlichen Staaten zeigte obendrein, dass die westlichen Staaten auf ihren eigenen Gebieten sehr verletzlich waren – zumal dann, wenn der Einsatz des eigenen Lebens nicht gescheut wurde. Märtyrertum, das sofort ins Paradies führe, lieferte dafür ein verführerisches Rollenmodell. Als dann jene politische Instabilität, zu der gerade auch die westliche Politik im Irak und in Syrien geführt hatte, die Aufrichtung eines neuen Kalifats ausgerechnet in der Heimatregion des Islam als ein realistisches Ziel erscheinen ließ, mobilisierte das radikale Muslime erst recht. Und eine neue, machtgestützte Blüte des Islam heraufzuführen konnte als umso lohnender erscheinen, als dieses Ziel doch auch immer mehr junge Leute aus westlichen Ländern zum Mitkämpfen anzog, die ihrerseits – gleichsam in Reaktion auf manche spirituelle Leere der heutigen westlichen Zivilisationen – zum Islam konvertiert waren.

Diese Entwicklung von Mohammeds Eroberungen bis zum heutigen „Islamischen Staat“ vor Augen, lässt sich gut verstehen, warum viele im Westen das Wachsen muslimischer Bevölkerungsteile in den eigenen Gesellschaften mit Sorge sehen und sich darüber empören, dass westliche Regierungen dazu neigen, derlei Befürchtungen wie bloß eingebildete Probleme zu behandeln. Die folgenden, in der Geschichte mehrfach entfalteten Merkmale des Islam sind nämlich nur schwer zu übersehen:

  • Der Islam war jahrhundertelang eine mit dem Anspruch ausgreifende Religion, nur unter dem islamischen Gesetz wäre überhaupt Frieden möglich. Das ließ sich recht einfach nachweisen, nämlich als sich selbst erfüllende Prophezeiung: Dort, wo die Herrschaft des Islam nicht akzeptiert wurde, überzog man den Gegner eben mit Krieg.
  • Es hatte die islamische Theologie bis zum mittleren 20. Jh. wenig Anlass, sich mit der Rolle des Islam in nicht-islamischen, ja obendrein pluralistischen Gesellschaften zu befassen. Ihr stellten sich also jene Probleme gar nicht, für die wir jetzt tragfähige Lösungen brauchen. Im Grunde ist der Islam bis heute angepasst an autoritäre Regime, in denen das islamische Recht bei der Ausgestaltung der öffentlichen Ordnung eine überragende Rolle spielt. Das aber prägt das Selbstverständnis sehr vieler Muslime – vor allem jener, die außerhalb westlicher Staaten leben.
  • Zudem säen jene koranischen Ratschläge Misstrauen, die darauf hinauslaufen, Muslime sollten sich zwar jenen Umständen anpassen, unter denen sie lebten, täten aber gut daran, sich eher zu verstellen als ihre ursprünglichen Überzeugungen aufzugeben. Und weil es noch nicht viele Erfahrungen mit lange in westlich-europäischen Gesellschaften lebenden größeren Gruppen von Muslimen gibt, lässt sich solches Misstrauen – einmal geweckt – nur schwer durch Verweis auf vielerlei nachhaltig gelungene Integrationsbeispiele zurückweisen.
  • Im Übrigen hat das, was es vom Islam üblicherweise in die Medien schafft, eine ziemlich abschreckende Wirkung auf westliche Gesellschaften. Das sind nämlich nicht die Beispiele einer gelungenen Integration von Muslimen in pluralistischen Demokratien. Vielmehr handelt es sich um sehr andersartige Fälle: um die Schreckensherrschaft der Taliban, von Boko Haram und des Islamischen Staates; um muslimische Parallelgesellschaften, etwa in Frankreich und Großbritannien; und um die – bis zum Glaubensübertritt reichende – Anziehungskraft des Islam auf zornige junge Männer, die dann mitunter zum Dschihadismus oder Terrorismus neigen.[5]

Aus allen diesen Gründen fühlen sich nicht wenige bedroht vom sich in westlichen Staaten ausbreitenden Islam. Als eine „Religion der öffentlichen Ordnung“, die von jeher – und anders als das Christentum – auf eine Einheit von Politik und Religion ausging, wirkt „der“ Islam besonders fremd in pluralistischen Gesellschaften mit ihren weltanschaulich neutralen staatlichen Ordnungen. Obendrein stellen nicht wenige Zeitgenossen die neuere, stark anti-westliche Einstellung vieler Muslime – mitsamt der ihnen folgenden Taten – in die Tradition jener großen Eroberungen muslimischer Armeen, die einst zur so raschen Ausbreitung des Islam geführt haben.

Dabei verkennen sie freilich, dass die jetzige, seit Jahrzehnten anhaltende Ausbreitung des Islam in Europa ganz andere Ursachen hat. Darunter sind die folgenden: Ansiedlungsrechte für Menschen aus den – oft muslimischen – ehemaligen Kolonialgebieten in Frankreich und im Vereinigten Königreich; Zuzug von türkischen „Gastarbeitern“ und deren Familien nach Deutschland; sowie in vielen Staaten Europas – allen voran Deutschland – die Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen und Asylbewerbern, unter denen sich aufgrund der Krisenlage im mittleren Osten und im nördlichen Afrika nun immer mehr Muslime befinden. Sie alle kommen nicht als Eroberer, sondern auf der Suche nach neuem Lebensglück. Und für viele von ihnen ist ihre Religion wichtig zwar als eine „transportable Heimat“, doch nicht als eine durch Eroberung aufzuzwingende Weltanschauung.

Oft treffen solche Neuankömmlinge auf schon in zweiter Generation hierzulande ansässige Muslime, für die zwar ihre Religion wichtig ist, die sich aber – je nach ihrer Staatsangehörigkeit – nicht minder als Briten, Franzosen oder Deutsche fühlen. Gewiss gibt es auch unter solchen gleichsam „autochthonen“ – also „immer schon im Land lebenden“ – Muslimen der zweiten Generation vielerlei Integrationsprobleme, zumal wenn die Landessprache nur mit deutlichem Akzent gesprochen wird, Bildungskarrieren ungut verlaufen sind oder der Eintritt ins geregelte Arbeitsleben misslang. Und in der dritten Generation lässt sich, anscheinend auch als Reaktion auf solche sozialen Integrationsmängel, dann mancherlei – oft mit Radikalisierung einhergehende – Rückbesinnung auf jene kulturellen Wurzeln beobachten, die im Islam verankert sind. Doch der immer größere Anteil von Muslimen, die nach Selbstverständnis und Lebensführung ebenso Briten, Franzosen oder Deutsche sind wie ihre christlichen oder atheistischen Mitbürger, eröffnet Chancen auf das Entstehen oder Erstarken einer Ausprägung des Islam, die es – aufgrund von dessen Geschichte – bislang noch nicht gab. Das wäre ein nicht von oben aufgezwungener, sondern von unten gewachsener Islam in einer – als wertvolle Errungenschaft empfundenen – freiheitlichen, demokratischen und weltanschaulich neutralen politischen Ordnung.

Weil dies bislang aber nur eine Chance, doch noch keine Gewissheit ist, sehen viele in den westlichen Demokratien die Ausbreitung des Islam mit großer Sorge. Besonders oft sind dabei jene besorgt, die – von unserer weitgehend säkularisierten Kultur geprägt – sich ohnehin eine Religion kaum anders denn als gefährlich vorstellen können. Bei ihnen gesellt sich der Ablehnung von Religion im Allgemeinen jenes schlechte Bild hinzu, das dem Islam zumal neuere Bewegungen wie Boko Haram oder der Islamische Staat beschert haben. Und im Hintergrund solcher Sorgen wirkt, manchem Anschein nach, auch noch vielerlei Angst vor einem (weiteren) „Abstieg des Westens“. Tatsächlich verliert dieser mehr und mehr jene weltbeherrschende Stellung, die seit der Zeit des Hochimperialismus als sein „natürlicher Platz“ unter den Kulturen galt.[6] Von ihm aus schrieb sich die westliche Kultur sogar eine „Universalisierbarkeit“ ihrer doch nur besonderen Werte und Denkweisen zu.

Dass diese Werte und Denkweisen sich außenpolitisch gegenüber Mächten wie China oder dem Iran nicht durchsetzen lassen, wird inzwischen mit – letztlich kaum schmerzender – Resignation hingenommen. Innenpolitisch verhält es sich aber anders. Da gelten Werte wie Individualität, Selbstverwirklichung, Rechtsgleichheit, Freiheit und Demokratie als ganz und gar unverzichtbar – doch eben als bedroht durch „Islamisierung“. Im Grunde fehlt es da an Vertrauen zu den inzwischen doch recht vielen muslimischen Zuwanderern. Manchenorts durchaus entstandene Parallelgesellschaftlichkeit vor Augen, wird von vielen Mittel- und Westeuropäern einfach bezweifelt, Muslime würden die Religionsfreiheit westlicher Demokratien nur zum Ausleben der eigenen Religiosität nutzen – und nicht auch als Mittel, um eine seit Jahrhunderten christlich geprägte Kultur fortan für eigene Bedürfnisse umzugestalten. Solche Sorgen aber steigen nur, wenn man ihnen mit nicht mehr als der Feststellung begegnet, inzwischen gehöre „der“ Islam eben zu Europa – was die Bürger also einfach hinzunehmen hätten.

 

VII. Muslime in westlichen Demokratien

In Europa – ohne Türkei – leben derzeit, mit deutlich steigender Tendenz, über 44 Millionen Muslime, davon die meisten im europäischen Russland. In der EU gibt es rund 20 Millionen Muslime, in Deutschland an die 4 Millionen Muslime, davon knapp die Hälfte als deutsche Staatsangehörige. Diese Muslime gehören zweifellos zu Deutschland. Weit über die Hälfte der in Deutschland lebenden Muslime hat – vor allem aufgrund der in den 1960er und 1970er Jahren erfolgenden – Anwerbung von „Gastarbeiten“ aus der Türkei einen türkischen Migrationshintergrund. Die übrigen Muslime sind teils aus europäischen Ländern mit nennenswerten muslimischen Bevölkerungsanteilen zugewandert, v.a. aus Bosnien-Herzegowina und Albanien mitsamt dem Kosovo. Teils stammen sie – oft als Asylbewerber oder Bürgerkriegsflüchtlinge – aus mittelmeerischen Ländern wie Marokko, Tunesien, Syrien oder dem Libanon, doch auch aus asiatischen Staaten wie Afghanistan und Pakistan. Obendrein befinden sich mehr und mehr abstammungsdeutsche Konvertiten unter Deutschlands Muslimen. In Frankreich und Großbritannien ist ein Großteil muslimischer Zuwanderung der kolonialen Vergangenheit dieser Staaten geschuldet; doch auch dort kam der größte Teil der Muslime erst nach dem Zweiten Weltkrieg ins Land.

Das alles zeigt: Es ist durchaus nicht verkehrt, sich darüber Gedanken zu machen, ob und wie die Integration dieser neuen Bevölkerungsgruppen in Europas Gesellschaften gelingen kann.[7] Die Vorstellung, muslimische Einwanderer würden einfach mitsamt einer neuen Staatsbürgerschaft auch schon die kulturellen Selbstverständlichkeiten ihres neuen Landes übernehmen, hat sich als ziemlich falsch erwiesen. Stattdessen sind Ansätze zur Entstehung von Parallelgesellschaftlichkeit nicht zu übersehen. Zwar kann man derlei in der Tradition der „holländischen“ oder „französischen“ Viertel mancher deutscher Städte des 18. Jh. sehen und als Ausweis von Pluralität als Teil westlicher Kultur nehmen. Doch anders als die Chinatowns amerikanischer Großstädte werden die islamisch geprägten Viertel europäischer Städte von wohl den meisten nicht-muslimischen Stadtbürgern nicht wie ein kulturell bereicherndes Exotikum wahrgenommen, sondern wie „fremde Zonen“, die – als die „Heimaten anderer“ – nicht zur „eigenen Heimat“ passten. So gedeutete Differenzerfahrungen lösen dann oft auch Angst vor dem Fremden aus – und ganz konkret Furcht vor den Fremden. Freilich müssen solche Erfahrungen nicht umstandslos der Religion von Migranten zugerechnet werden. Zwar gehen mit dieser, gerade im Fall des Islam, mitunter Bekleidungsregeln einher, die im heutigen Europa als – ganz im Wortsinn – „befremdlich“ gelten. Doch häufiger werden Fremdheitserfahrungen einfach durch anderes Aussehen oder durch bemerkbare kulturelle Unterschiede hervorgerufen, von denen die Religion nur einer ist. Und nicht selten verkoppeln sich solche Erfahrungen anschließend mit rassistischen – oder immerhin rassistisch wirkenden – Wissensbeständen bzw. Deutungsschemata.[8]

Gewiss gibt es viele Muslime mit gleich welchem außerdeutschen Migrationshintergrund, die sich voll in die deutsche Gesellschaft integriert haben, oft auch schon von Geburt an Deutsche sind – und obendrein Wert darauf legen, Muslime zu sein sowie dies symbolisch zum Ausdruck zu bringen. In einer weitgehend nicht-muslimischen Gesellschaft wie der deutschen fällt das natürlich auf. Doch in solchen Fällen wird ganz einfach vom hierzulande selbstverständlichen Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit Gebrauch gemacht. Zu solcher Entfaltung der Persönlichkeit darf aber das Verlangen nach Bekundung der eigenen religiösen Identität ebenso gehören wie der Wunsch, diese zu verbergen. Beides ist in einer offenen, pluralistischen Gesellschaft ganz in Ordnung. Muslimische Deutsche dieser Art unterscheiden sich somit in keiner staatsbürgerlich wichtigen Weise von religiös anders ausgerichteten – oder überhaupt religionslosen – Deutschen. Und sofern der von ihnen praktizierte Islam zu unserer freiheitlichen, demokratischen und weltanschaulich neutralen Staatsordnung passt, zeigen gerade sie, dass – und wie – Integration gelingen kann.

Aber es gibt eben auch nicht wenige Muslime, die ihrerseits Differenzerfahrungen mit der deutschen Gesellschaft machen, die mitunter sehr belasten können. Sie reichen von ethnisch oder kulturell begründeter Ablehnung von Fremden überhaupt bis hin zu Vorwürfen, die sich auf das Bekenntnis – etwa am Kopftuch[9] erkennbar – zu einer von der Mehrheitsbevölkerung abweichenden religiösen Identität richten. Sie können ebenso reichen von Vorbehalten ob der angestammten Sprache oder eines ausländischen Akzents bis zur brüsken Zurückweisung von Verhaltensweisen oder Praxen, die in der Herkunftskultur von Migranten selbstverständlich, in Deutschland aber nicht üblich sind. In solchen Erfahrungen mögen sich teils mangelnde Sozialkompetenz und fehlender guter Wille ausdrücken, teils aber auch unzulängliche Anpassungsbereitschaft – und das gewiss nicht immer nur auf einer Seite. Jedenfalls misslingt in derlei Fällen, was in anderen durchaus gelingen kann, ja vielfach bereits gelungen ist. Dann hilft nur die Diagnose der Ursachen solchen Misslingens sowie gemeinsame Arbeit an deren Behebung. Dass dabei Gerechtigkeit sowohl gegenüber den Zuwanderern als auch gegenüber den Einheimischen die Richtschnur sein muss, ist zugleich eine Selbstverständlichkeit und eine bleibende, nicht immer leicht zu bestehende Herausforderung.

Auf Seiten von Migranten wird Integration behindert, wenn es für sie keine alsbaldige Möglichkeit zur Integration in den deutschen Arbeitsmarkt gibt; wenn sie in ethnisch eher homogenen Siedlungen leben, in denen es nicht wirklich erforderlich ist, die deutsche Sprache zu erlernen; und wenn sie – aus welchen Gründen auch immer – ohnehin nicht die Absicht haben, Teil der deutschen Gesellschaft, ja eines Tages auch selbst Deutsche zu werden. Auf Seiten der einheimischen Bevölkerung wirkt es sich auf die Integration von Migranten nachteilig aus, wenn von diesen sehr viele ankommen, ohne dass die sie aufnehmende Zivilgesellschaft im konkreten Fall sonderliche Vorbereitungszeit hatte; wenn es vor Ort keine Arbeitsmöglichkeiten für Zuwanderer gibt; wenn Hilfsbereitschaft der Einheimischen nicht mit Kooperation der Hinzukommenden erwidert wird; wenn keine im Alltag attraktive Leitkultur angeboten wird, an der sich Zuwanderer orientieren könnten, ja in die hinein sie sich auch integrieren möchten; und wenn – vor allem – kein Ende eines Zustroms an Hilfsbedürftigen oder Zufluchtssuchenden abzusehen ist. Dann wird nämlich selbst aus grundsätzlicher Hilfsbereitschaft alsbald ein Verteilungskonflikt.

Alle diese Schwierigkeiten gibt es, und sie werden sich allenfalls ihrem Ausmaß nach verringern lassen. Wann immer zu diesen Herausforderungen auch noch Verletzungen religiöser bzw. antireligiöser Gefühle hinzukommen, verschärfen sich sämtliche Konflikte. Für Zuwanderer ist nämlich Religion oft jener Teil der Heimat, der sich in die Fremde mitnehmen ließ und dort gerade deshalb umso wichtiger wird. Einheimische aber fühlen angesichts von Zuwanderern, denen ihre eigene Religion besonders wichtig wird, mitunter ihre eigenen religiösen Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt. Doch viel öfter noch, und zumal in Deutschlands neuen Bundesländern, empfindet man die Merkmale einer bislang recht religionsfreien Alltagswelt nun bedroht von den Geltungs- und Gestaltungsansprüchen einer neuen Religion. Das provoziert im Fall des Islam besonders – einesteils wegen des allgemeinen Misstrauens, das sich aus den oben erläuterten Gründen gegen diese Religion richtet; und andernteils, weil der Islam aus geschichtlichen Gründen nicht so konturlos mit hierzulande vorherrschenden kulturellen Selbstverständlichkeiten verschmolzen ist wie das Christentum. Aus so entstehender Islamophobie kann, falls Aufklärung und konstruktive Politik fehlen, über Islamkritik sogar Islamfeindlichkeit werden – zumal dann, wenn der Anteil von Muslimen unter den Zuwanderern viel deutlicher steigt als deren Zahl überhaupt.

Bei alledem scheinen für Einheimische quer über Europa die folgenden Erscheinungen zur besonderen Quelle von Ärgernissen und zum Anlass weiterer Sorgen zu werden: wenn in Moscheen vor allem in den Sprachen von Einwanderern gepredigt wird, ein im Land aufgewachsener Durchschnittsbürger also gar nicht mitbekommen kann, worum es dort inhaltlich geht; wenn sich gute Gründe dafür finden, so manchem Imam nicht jene Unterstützung einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung zuzutrauen, die man bei katholischen oder protestantischen Predigern als selbstverständlich voraussetzt; und wenn der Islam als missionierende Religion neue Anhänger in einer Gesellschaft gewinnt, die – wie der ausdrücklich atheistische Bevölkerungsteil Europas – Religion ohnehin nicht mag, oder in der die zahlenmäßig dominierenden Christen vom auch ihnen einst erteilten Missionsauftrag so peinlich berührt sind, dass sie, gerade unter der Fahne der Religionsfreiheit, sich gern vom Missionsgedanken überhaupt distanzieren. Derlei Dinge erschweren dann die Akzeptanz von Muslimen erst recht, und zwar aus Gründen, für die ihrem Glauben treue und ansonsten wie jedermann agierende Muslime gar nichts können.

 

VIII. Islamisierung oder Religionsfreiheit?

Natürlich macht es unsere Kultur „islamischer“, wenn in den Städten fortan Moscheen mit Minaretten gebaut werden; wenn im Umfeld von Moscheen die Rufe von Muezzinen erklingen; wenn man auf Straßen und Ämtern nun Frauen mit Kopftuch oder Schleier sieht; wenn Betriebe sich auf islamische Gebetszeiten einstellen; und wenn wir, eines Tages, neben die christlichen Feiertage auch muslimische setzen werden – oder, unserer Wirtschaft zuliebe, manchen christlichen Feiertag zugunsten muslimischer Feiertage streichen. Wer derlei eine „Islamisierung“ nennt, hat durchaus gute Gründe dafür.

Er verwendet freilich einen allzu dramatisierenden Begriff. „Islamisierung“ klingt ja wie „Christianisierung“ – und damit bezeichnet man die Umprägung der antiken Kultur durch das Christentum, desgleichen die kulturelle Neuausrichtung der germanischen und slawischen Stämme zwischen Antike und Mittelalter. Eine derartige Umprägung unserer westlichen Kultur durch den Islam aber zeichnet sich in keiner Weise ab, ja wird von einem erheblichen Teil der schon längere Zeit in den westlichen Demokratien ansässigen Muslime sogar ausdrücklich abgelehnt. Insofern hat der Begriff der „Islamisierung“ eine den zu erfassenden Gegenstand weit übersteigende Überschussbedeutung und eignet sich deshalb nicht sonderlich gut für einen auf reales Geschehen ausgerichteten Diskurs. Wer hingegen abstreitet, dass mit dem Begriff der „Islamisierung“ gemeinte Veränderungen überhaupt im Gang sind und durchaus Verlustängste auslösen können, der spricht durchaus von einer anderen Wirklichkeit als jener, die tatsächlich besteht, und redet Herausforderungen weg, die es nun einmal zu bestehen gilt. Durch Ignorieren oder Verkennen werden sie jedenfalls nicht verschwinden.

Sie werden auch nicht durch Tabuisierung entsprechender Diskurse vergehen. Denn natürlich hat man in einer pluralistischen Gesellschaft das Recht, solche „Islamisierung“ nicht zu mögen – und das auch öffentlich zu bekunden. Man hat ferner das Recht, eine „Islamisierung“ des eigenen Landes verhindern zu wollen – freilich nur innerhalb der Spielregeln einer rechtsstaatlichen und demokratischen Ordnung. Dafür aber braucht es parlamentarische oder plebiszitäre Mehrheiten, die erst einmal im öffentlichen Meinungsstreit und in fairen Wahlkämpfen zu erringen sind. Im Übrigen folgt aus dem Recht darauf, etwas zu wollen, durchaus nicht, dass das Gewollte auch schon richtig ist – oder überhaupt möglich. Beispielsweise kann man zwar versuchen, sommerliches Regenwetter zu unterbinden, sollte aber besser einsehen, dass dies in Mitteleuropa aus physikalischen Gründen nicht gehen wird. Und gewiss kann man anstreben, Muslime in Europa zu einer ebenso wenig ins Gewicht fallenden Gruppe zu machen wie die Katholiken im Bundesland Brandenburg. Doch das wird aller Wahrscheinlichkeit nach ebenso scheitern wie der Versuch, deutsche Finanzpolitik in Griechenland einzuführen. Also stellt man sich im Sommer besser auf etliches Regenwetter ein und tut gut am Versuch, auch dessen Vorteile in den Blick zu bekommen. Wer vernünftig ist, wird es mit der Beheimatung von Muslimen in Deutschland und Europa ebenso halten.

Mindestens drei Gründe sprechen für eine solche Grundhaltung. Erstens ist unser Staat zwar wertgebunden, doch weltanschaulich neutral. Er hat also gar nicht das Recht, sich gegen eine bestimmte Religion und deren Geltungs- und Gestaltungsansprüche zu stellen, solange diese sich nicht ihrerseits gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richtet. „Islamisierung“ ist in dieser Hinsicht nichts anderes als die praktische Umsetzung jener aktiven Religionsfreiheit, die es in unserem Land eben nicht nur für Christen gibt. Und an diesem Grundrecht endet dann eben auch die passive Religionsfreiheit, also das Recht, von einer Begegnung mit Religion frei zu bleiben.

Zweitens leben in Deutschland ohnehin schon Millionen von Muslimen, darunter rund zwei Millionen deutsche Mitbürger. Deren religiöse Praxen, ihrerseits auch religionsspezifisches Bekleidungsverhalten umfassend, stehen aber ebenso unter dem Schutz der Verfassung wie christliche oder sonstige religiöse Praxen. Ihre Grenzen finden sie nur dort, wo sie in die Grundrechte anderer oder in die Bestandsvoraussetzungen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung eingreifen. Und in seinem Wesensgehalt kann das Grundrecht auf Religionsfreiheit ohnehin nicht eingeschränkt werden – worüber das Bundesverfassungsgericht in einer klar religionsfreundlichen Weise wacht.

Drittens wird aufgrund des Staatszerfalls und der Bürgerkriege in der islamischen Welt die Zahl von Bürgerkriegsflüchtlingen, Asylbewerbern und Armutsmigranten muslimischen Glaubens in den kommenden Jahren aller Wahrscheinlichkeit nach weiter zunehmen. Sie werden sich weder an den See- und Landgrenzen der EU aufhalten noch in der EU so auf deren Mitgliedsländer verteilen lassen, dass die deutschen Neuaufnahmezahlen unter eine Bagatellgrenze sinken könnten. Mit einer Rückkehr allzu vieler Bürgerkriegsflüchtlinge sollten wir außerdem gerade dann nicht rechnen, wenn es uns gelingt, sie dank einer gutwilligen Willkommenskultur rasch in unsere Gesellschaft zu integrieren. Und daran, dass künftig – anders als heute – der Großteil abgelehnter Asylbewerber wirklich ins jeweilige Herkunftsland zurückgeführt würde, sollte man besser nicht glauben. Weiterhin wird es sich nämlich bewähren, die ursprüngliche Staatsangehörigkeit durch Beseitigung von Personaldokumenten unkenntlich zu machen. Und folglich wird, bei weiteren Kriegen und Bürgerkriegen im islamischen Kulturkreis, die Gesamtzahl von Muslimen in Deutschland selbst dann weiter anwachsen, wenn die Geburtenraten von in Deutschland lebenden Muslimen auf das hierzulande übliche – und für demographische Nachhaltigkeit allzu niedrige – Niveau absinken sollten.[10]

Aus allen diesen Gründen wird die Integration von Muslimen in die deutsche Gesellschaft eine unserer wichtigen innenpolitischen Aufgaben während der kommenden drei, vier Jahrzehnte sein. Sie wird gewiss misslingen, wenn man die Präsenz des Islam verdecken oder die auch religiösen Beheimatungsansprüche von Muslimen zurückweisen würde. Eine grundsätzliche Abwehr von „Islamisierung“ würde deshalb nicht zu mehr, sondern zu weniger gesellschaftlichem Zusammenhalt führen. Und wenn wir es nicht mit letztlich wirkungslosen intellektuellen oder moralischen Appellen bewenden lassen wollen, müssen wir deshalb zweierlei tun, wenn wir unsere offene Gesellschaft vor einer – vielfach empfundenen – Bedrohung durch „den“ Islam schützen wollen.

Erstens müssen wir durchaus Grenzen der „Islamisierung“ ziehen und sichern. Doch diese gibt allein unsere Verfassung und das auf sie gegründete Rechtssystem vor. Zweitens – und vor allem – müssen wir das uns Mögliche dazu beitragen, dass sich hierzulande ein Islam ausprägen kann, der von seinem Selbstverständnis und seiner Praxis her wirklich zu einer pluralistischen Demokratie wie der unseren passt. Noch gibt es einen solchen Islam nur als muslimisches Minderheitenprojekt.[11] Es kann auch niemand garantieren, dass er sich je voll entfalten wird. Angesichts des derzeit besonders scharfen, von keiner zentralen Instanz zu schlichtenden innermuslimischen Streits um die Merkmale eines „echten“ Islam im Unterschied zu dessen „Entstellungsformen“ ist es obendrein eine ganz offene Frage, ob ein solcher „Euro-Islam“ dann auch von allen Muslimen als eine legitime Ausprägung ihrer Religion akzeptiert würde. Immerhin hat diese ihre Heimstatt vor allem in Staaten, die ohnehin vom Islam geprägt sind und oft auch diktatorisch regiert werden.

In dieser Lage gleichen wir in gewisser Weise den alten Römern. Die sahen teils abwartend-zuversichtlich, teils besorgt und teils mit offener Ablehnung, wie sich das Christentum ausbreitete. Zumal jene, die im Christentum eine Gefahr für ihre Kultur erkannten, versuchten immer wieder, die neue, sich im Reich ausbreitende Religion durch staatliche Verordnungen kleinzuhalten – oder sie gar durch Verfolgungen zu beseitigen, Massenhinrichtungen eingeschlossen. Das Blut der Märtyrer aber wurde – so an der Wende vom 2. zum 3. Jh. der Kirchenvater Tertullian – letztlich nur zum „Samen der Kirche“. Gerade der feindselige Abwehrkampf nutzte also besonders wenig. In einer freien Gesellschaft wie der unseren verbietet er sich ohnehin. Nun kann man zwar im Rückblick der untergegangenen heidnisch-römischen Kultur nachtrauern. Doch schwer lässt sich übersehen, dass zunächst mit dem christlichen Römerreich, später mit dem christlichen Abendland auch vieles Gute neu entstanden ist – und darunter gar nicht wenig, das die Vorstellungsmöglichkeiten der um ihre vorchristliche Kultur besorgten Römer weit überstieg. Außerdem baute das spätere „Abendland“ – wie auf seine Weise auch das islamisch gewordene „Morgenland“ – auf vielen Errungenschaften der vorchristlichen Kultur auf.

Keineswegs muss es mit dem Islam in Europa ebenso kommen. Außerdem spricht alles dafür, dass die Mehrheitsbevölkerung hierzulande nicht muslimisch wird. Es mag sogar sein, dass in Europa die Zeit einfach vorbei ist, da eine Religion mehr sein konnte als nur ein je besonderes Sinnangebot unter vielen anderen Sinnangeboten – und somit attraktiv nur für eine Minderheit. Dann freilich braucht unsere vorrangige Sorge nicht dem Schutz unserer Kultur vor religiösen Minderheiten zu gelten. Vielmehr haben wir uns zu bemühen, überhaupt die Wertgrundlagen einer weltanschaulich neutralen politischen Ordnung aufrechtzuerhalten. Gerade hierzu aber können Religionen sehr Wertvolles und Nützliches beitragen – zumal gerade ein freiheitlicher Staat ja nicht selbst jene Wertgrundlagen schaffen kann, auf denen er gründet. Also scheint eine grundsätzliche Religionsfreundlichkeit des Staates zu nachhaltigerer Ordnungspolitik zu führen als der Versuch, Religion ganz ins rein Private abzudrängen.

 

IX. Was tun?

Natürlich wissen wir nicht, was kommen wird. Klar ist hingegen seit Langem: Handlungen, die erkennbar nicht zu einem angestrebten Ziel führen, sollte man besser unterlassen. Sie werden nämlich mehr schaden als nutzen. Von dieser Einsicht ausgehend wird es unter den gegebenen und wohl fortbestehenden Umständen nicht sinnvoll sein, auf einen – mit dem Grundgesetz ohnehin unvereinbaren – „Kampf gegen die Islamisierung“ unseres Landes zu setzen. Dem Gemeinwohl viel dienlicher wird der Versuch sein, gutwillig auf die Entstehung und auf das Erstarken eines mit unserer pluralistischen Demokratie vereinbaren Islam hinzuwirken.

Die Richtung dorthin schlägt man bereits mit dem Unterlassen falscher Handlungen ein. Zu diesen gehören: Pauschalisierungen herabsetzender oder beschönigender Art beim Reden über den Islam; die Verhinderung des Baus von Moscheen oder deren Abdrängung in unwirtliche Stadtteile; eine Art Grundsatzkampf gegen – durchaus auch religiöse – Symbole wie Kopftuch oder Schleier; Ignoranz gegenüber Erscheinungsformen von Rassismus, die sich an kulturellen Differenzen auskristallisieren. Das alles löst nämlich nur jene Art von trotziger Solidarisierung aus, die Parallelgesellschaften entstehen und zusammenhalten lässt, ja zornige Feinde einer so hartherzigen Kultur zeitigt. Das alles aber sollten wir nicht wollen.

Zweitens wäre sicherzustellen, dass an Universitätsinstituten für Islamstudien wie in Frankfurt, Tübingen oder Münster nachhaltig an einer solchen Klärung der Quellen und Theologie des Islam gearbeitet werden kann, welche die Vereinbarkeitspotentiale dieser Religion mit einer pluralistischen Demokratie in einem weltanschaulich neutralen Staat erkundet sowie in den Gesamtdiskurs islamischer Theologie und muslimischer politischer Theorie einbringt. Genau das wäre der von unserem Staat unschwer leistbare Beitrag zur anzustrebenden Entwicklung eines fraglos mit freiheitlichen politischen Ordnungen vereinbaren Islam. Angesichts jetzt schon großer Widerstände traditioneller islamischer Theologie gegen ein solches gleichsam „reformatorisches“ Bestreben brauchen gerade jene Muslime unsere Unterstützung, die den – durchaus nötigen – Mut zu solcher im besten Wortsinn kritischer Theologie und liberaler Politiktheorie des Islam aufbringen.

Drittens sollten wir Wege finden und ausbauen, an deutschen Universitätsinstituten für Islamstudien genau jene fraglos verfassungstreuen Imame und sonstigen muslimischen Religionslehrer auszubilden, welche die integrationswilligen muslimischen Familien unseres Landes nun einmal brauchen. Mehr noch: Wir alle brauchen sie – einesteils für die unverzichtbaren Predigeraufgaben in den Moscheen Deutschlands, andernteils für die Erteilung eines dem christlichen Religionsunterricht völlig gleichgestellten islamischen Religionsunterrichts an deutschen Schulen. Nur auf diese Weise kann man nämlich gewährleisten, dass es fortan in Deutschland muslimische Religionslehrer und später auch Religionsführer gibt, denen unsere pluralistische freiheitliche Ordnung nichts Fremdes, sondern Teil ihres Selbstverständnisses ist. Und nur so lässt sich auch darauf hinwirken, dass junge Muslime mit einem Islam aufwachsen, der zu einer freiheitlichen Ordnung passt – und nicht mit einem, der sie in religiös motivierte extremistische Bewegungen abgleiten lässt.

Sehr erschwert wird derlei dadurch, dass dem Staat in Deutschland unter den Muslimen das Gegenstück zu den christlichen Kirchen fehlt. Das sind Institutionen, die tatsächlich die Angehörigen einer Religion repräsentieren sowie verbindlich über deren religionsbezogene Wünsche sprechen könnten. Nun kann man Deutschlands Muslime nicht dazu zwingen, ihrer Religion ohnehin fremde „kirchenähnliche“ Strukturen aufzubauen, nur um dem Staat jenen verlässlichen Verhandlungspartner zu verschaffen, den er im christlichen Bereich in Gestalt der Kirchen seit jeher hat. In dieser Lage verfiel die deutsche Innenpolitik auf den Ausweg, die größten islamischen Verbände zu ihren Verhandlungspartnern zu machen. Doch auch zusammen sprechen diese nur für eine Minderheit der deutschen Muslime und werden überdies von einem kleinen, recht konservativen Teil unter Deutschlands Muslimen dominiert. Obendrein scheinen zumindest manche dieser Verbände nicht im wünschenswerten Umfang über theologische Expertise zu verfügen und in politisch wichtiger Hinsicht eher von anderen Staaten als von deutschen Muslimen bestimmt zu werden. Das ist ein sehr unbefriedigender Zustand, der allenfalls als anfänglicher Notbehelf hinzunehmen ist. Deshalb sollten die deutschen Regierungen tatkräftig nach Wegen suchen, für Fragen, welche die islamische Theologie und den islamischen Religionsunterricht betreffen, repräsentativere und fortschrittlichere Ansprech- und Verhandlungspartner zu finden sowie gerade deren dauerhafte Mitwirkung in geeigneter Weise zu institutionalisieren.

Viertens sollten wir durch politische Bildung überhaupt auf ein breites Verständnis dafür hinwirken, dass in unserer weltanschaulich neutralen, doch wertgebundenen Ordnung eine Religion durchaus nicht „als solche“ zur Gefahr für Freiheit und Frieden wird. Zu vermitteln ist vielmehr: Gerade Religion kann dazu beitragen, dass Wertgrundlagen eines freiheitlichen Staates auch spirituell begründet und – so gefestigt – an die jeweils nächste Generation weitergegeben werden. Nur auf diese Weise verhindern wir auch, dass aus „religiöser Unmusikalität“ Gegnerschaft zur Religion schlechthin wird – und sich dann in erster Linie gegen den Islam richtet, weil dieser, neu im Land, sich viel besser als Zielscheibe antireligiöser Ressentiments eignet als das längst mit unserer Kultur amalgamierte Christentum.

Fünftens sollten Medien, Öffentlichkeit und Sicherheitsbehörden solange intensiv jene Sonderkulturen innerhalb des Islam beobachten, die wir alltagssprachlich „salafistisch“ oder „dschihadistisch“ nennen. Diese scheinen, von religiösen Überzeugungen ausgehend, im Wesentlichen Erscheinungsformen von Extremismus zu sein, d.h. eines Kampfes gegen unsere freiheitliche demokratische Grundordnung. Oft zusammenfassend „Islamismus“ genannt, haben diese Erscheinungsformen von Extremismus mit dem Islam dasselbe zu tun wie der Rechtsextremismus mit rechtem und der Linksextremismus mit linkem Denken: Weder eine Religion noch eine politische Einstellung führen an sich schon über bloße Kritik hinaus zur Verachtung für eine freiheitliche demokratisch Ordnung, ja gar zum Kampf gegen sie. Religion und Ideologie aber können dazu motivieren sowie zur Rechtfertigung von daraus folgender Gewalttätigkeit dienen; und deshalb ist es eine nie endende Aufgabe, derlei Überschreiten von Grenzen des mit einer freiheitlichen Demokratie Vereinbaren zu beobachten, zu unterbinden und auch zu bestrafen.

Wenn wir erfolgreich über viele Jahre die zweite und dritte dieser Aufgaben bewältigen, dann wird es bei der übergroßen Mehrheit deutscher Muslime zur nachhaltigen Selbstverständlichkeit werden, dass natürlich auch sie unsere freiheitliche demokratische Grundordnung aufrechterhalten wollen. Diese umschließt gerade auch die folgenden Konkretisierungen ihrer Prinzipien:[12] die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates; die Geltung genau der staatlichen Rechtsordnung für alle Bürger (und somit keiner anderen Rechtsordnung, etwa einer religiösen, falls diese mit der des freiheitlichen demokratischen Staates in Widerspruch stünde); die Gleichberechtigung von Frauen und Männern; das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung; sowie das Recht auf Religionsfreiheit im dreifachen Sinn: eine bestimmte Religion zu praktizieren, seine Religion zu wechseln – und eben überhaupt keine Religion zu haben.

Falls wir in gleicher Weise ebenfalls erfolgreich die erste sowie vierte Aufgabe bewältigen, dürfte bald auch jenes bislang weit verbreitete Ausgrenzungsverhalten gegenüber Muslimen schwinden, das so leicht zur Bildung gerade jener abwehrsolidarischen Parallelgesellschaften anhält, die wir doch nicht haben wollen. Zugleich stiegen dann die Chancen dafür, dass Muslime – auch über Deutschland und Europa hinaus – trotz ihrer jahrhundertelang ganz anders geprägten Religion jene großen Vorzüge unserer politischen Ordnung verinnerlichten, die vom christlichen Dualismus zwischen Religion und Politik geprägt ist. Eben diese westliche politische Ordnung sichert ja Muslimen, ganz im Unterschied zu so vielen islamischen Staaten, nicht nur ihre Religionsfreiheit, sondern obendrein ihre politische Freiheit. Das alles als gelebte Praxis unserer deutschen Gesellschaft erlebend, wird zuwandernden Muslimen die auch politisch-kulturelle Integration in unser Land dann nicht wie eine bloß auferlegte Pflicht erscheinen, sondern wie ein aus wirklich guten Gründen von sich aus anzustrebendes Ziel. Und wer fraglos zu dieser freiheitlichen Gesellschaft gehört, der wird sich auch leicht damit tun, religiös begründeten Extremismus oder Terrorismus abzulehnen und somit bei der Erfüllung der fünften Aufgabe mitzuwirken.

Von der Vernünftigkeit einer so anlegten Integrationspolitik überzeugt, und auf der Grundlage der von ihr geschaffenen befriedenden Erfahrungen, dürfte sich dann auch das unter vielen Bürgern westlicher Gesellschaften verbreitete Misstrauen gegenüber Muslimen legen. Idealerweise werden sie außerdem erleben, wie sich der Islam seinerseits unter den freiheitlichen Bedingungen Europas weiterentwickelt. Freilich ist beides bloß möglich, nichts davon schon gewiss. Doch eine bessere Zukunft werden wir nur schaffen, wenn wir tatsächlich das Unsere dafür tun, dass aus solchen guten Zielen gelebte Wirklichkeit wird.

 

 

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[1] Sehr danke ich meinem Münsteraner Kollegen Prof. Dr. Aladin El-Mafalaani für die kritische Durchsicht dieses Textes und für wertvolle Hinweise. Zumal einige Fußnoten gehen auf seine Anregungen zurück. Für Überzeichnungen und Fehler bin trotzdem allein ich verantwortlich.

[2] Das vor Augen wird klar, wie lächerlich Ratschläge der Art sind, Muslime sollten den Koran „einfach neu schreiben“, also gleichsam einen modernisierten „Koran 2.0“ vorlegen.

[3] Unter muslimischen Theologen gibt es durchaus Auseinandersetzungen darüber, wieviel Interpretation an den Worten Gottes möglich sei. Die einen meinen, derlei sei schlechterdings unzulässig. Doch andere leiten sogar aus dem Koran selbst ab, dass der Sinn von dort formulierten Empfehlungen deutend zu erschließen sei. Und eine weitere Rechtfertigung findet sich in der Überlieferung, Mohammad selbst habe nicht gewollt, dass seine Worte verschriftlicht würden.

[4] Falls man Islam nicht als Namen einer Religion nimmt, sondern wörtlich als „Hingabe an Gott“ übersetzt, klingt dieser Satz freilich sehr anders als in der meist verstandenen Weise.

[5] Hier ist es verständniserschließend, auch den folgenden Wirkungszusammenhang vor Augen zu haben: Aus der Perspektive muslimischer Jugendlicher gibt es eine globale „Opfergemeinschaft“ unter Muslimen. Diese sind – oder empfinden sich – allenthalben unterdrückt: in den meisten Diktaturen der arabischen Welt ohnehin, im Nahost-Konflikt erst recht, und in den westlichen Gesellschaften inzwischen auch. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt dieser Wahrnehmung führt eine so geprägte Haltung einesteils zur wechselseitigen Solidarisierung, andernteils zur Kultivierung mannigfacher Verschwörungstheorien. Vor allem erlaubt eine solcherart kultivierte „passiv-wohlgefühlige Opferrolle“ den Verzicht auf vielerlei Selbstkritik. Treffen solche Sichten dann auf reale Islamablehnung, so wird genau die Empfindung dieser Opferrolle gestärkt. Das wiederum verengt die Überzeugungskraft und Wirkungsmöglichkeiten fortschrittlicher muslimischer Reformkräfte. Tatsächlich hatte sich Al Qaida einst zum Ziel gesetzt, auf diese Weise die im Westen lebenden Muslime von den dortigen Mehrheitsgesellschaften zu isolieren. Leider ist dieser Plan, auch dank undifferenzierter Reaktionen, bislang allzu gut aufgegangen. Offenbar muss man solchen destruktiven Absichten mehr als bloße Empörung und Ausgrenzung entgegensetzen.

[6] Bei der Begegnung „westlicher“ und „islamischer“ Kultur treffen auf diese Weise immer wieder zwei ihrer selbst unsicher gewordene und sich als bedroht fühlende Gruppierungen aufeinander: die „vom Westen in die Defensive gedrängte“ islamische Welt, und der „von der Globalisierung in die Defensive gedrängte sowie vom Islamismus angegriffene“ Westen. Das setzt höchst ungute psychische Dynamiken ins Werk, gibt Vereinfachern sowie Demagogen Kredit und erschwert es den Gutwilligen, mit all diesen – ja objektiv bestehenden – Problemen konstruktiv umzugehen. Ohne diese tiefliegenden Phänomene zu begreifen und als Kontext auch ganz praxisorientierter Diskurse zuzulassen, werden auch deren – oft destruktive – Oberflächenwirkungen nicht in den Griff zu bekommen sein.

[7] Bei Antworten auf die Frage, wie gut denn die Integration von Muslimen im Besonderen und von Einwanderern im Allgemeinen gelungen sei, hängt alles vom herangezogenen Maßstab ab. Für viele liegt es nahe, vom höchstmöglichen Integrationsniveau auszugehen: von einer perfekten Beherrschung der Landessprache über ansehnlichen wirtschaftlichen Lebenserfolg bis hin zur umfänglichen Teilhabe an der Kultur des Landes. Doch nach einem solchen Maßstab müsste gewiss auch ein nennenswerter Anteil der längst ansässigen Bevölkerung als unzulänglich integriert gelten, sind doch Sprachkompetenz, wirtschaftlicher Erfolg und kulturelle Teilhabe eng mit sozialer Schichtzugehörigkeit verbunden. Also ist es viel angemessener, für die Bewertung des Gelingens von Integration einen sozialstrukturell differenzierenden Maßstab zu verwenden. Beispielsweise kamen viele Muslime als „Gastarbeiter“ nach Deutschland und haben Nachkommen, die weiterhin der einfachen Sozialschicht der Industriearbeiterschaft oder des Dienstleistungsprekariats angehören. Vergleicht man diese nach Sprachkompetenz, Wirtschaftserfolg und kulturellem Kapitel mit generationenlang deutschen Bürgern gleicher Schichtzugehörigkeit, dann relativieren sich Aussagen über „Integrationsmängel“ doch sehr.

[8] Es hat den Anschein, als würden nicht-asiatisch Fremdaussehende recht häufig zunächst einmal für Muslime gehalten, selbst wenn sie keine sind, und sodann im Beurteilungszusammenhang eines als hochproblematisch empfundenen Islam wahrgenommen. Das lässt sich dann durchaus unter einen kulturalistischen Rassismusbegriff ziehen: Ein Einzelner wird nicht aufgrund dessen beurteilt, was er als konkreter Mensch aufgrund seiner realen Einstellungen und Taten wirklich ist, sondern anhand eines ihm – als ihn vorrangig prägend – zugeschriebenen Kanons von Gruppenmerkmalen (beim biologischen Rassismus Gene, beim kulturalistischen Rassismus Meme, d.h. kulturelle Muster); diese Gruppenmerkmale werden als so negativ hingestellt, dass es plausibel wirkt, an sie Herabsetzungen und Ausgrenzungen zu knüpfen; und der Einzelne hat dann gar keine Chance mehr, anders denn als „individuelle Erscheinungsform eines kollektiven Übels“ wahrgenommen und behandelt zu werden. Im schlimmsten Fall erlebt er Terror von Leuten, die ihm ins Gesicht sagen, er sei damit „gar nicht persönlich gemeint“, doch biologische bzw. kulturelle „Hygiene“ verlange nun einmal, ihn zu beseitigen.

[9] Das Kopftuch scheint einstweilen zum symbolischen Kern des Streits um eine „Islamisierung“ geworden zu sein. Um sich in diesem Streit zu positionieren, ist es hilfreich, auch das Folgende zu bedenken: Ein Kopftuch zu tragen, ist eine Empfehlung des Propheten; und auf den Propheten zu hören, ist zunächst einmal selbst dann anzuraten, wenn nicht wirklich eine Pflicht auferlegt wird. Doch wozu jene Empfehlung? Als sie erteilt wurde, sollte das Kopftuch als Erkennungsmerkmal muslimischer Frauen dienen und muslimische Männer dazu verpflichten, jede Frau mit diesem Erkennungsmerkmal zu schützen. Weil nun aber im Kulturkreis des Propheten sich Frauen ohne männliche Begleitung nicht ungeschützt bewegen konnten, begründete das Kopftuch damit einen Anspruch von Frauen darauf, geschützt zu werden. In dieser – auf eine ganz bestimmte kulturelle Situation passenden – Auslegung hat das Kopftuch somit keine unterdrückerische, sondern eine emanzipatorische Funktion. Wenn Frauen freilich in einer Kultur ohnehin geschützt sind, dann wird eben dadurch auch jenes Erkennungsmerkmal unnötig. Das mindert dann kulturspezifisch die Plausibilität der Empfehlung des Propheten und eröffnet dem Kopftuch weitere bzw. andere Sinngehalte. Diese können von der Signalisierung des Erwachsenenstatus einer Frau bis hin zum missionarischen Bekenntnis reichen – und, je nachdem, besser oder schlechter in die Symbolwelt einer Kultur passen, welcher der Islam bislang fremd war.

[10] Vermutlich sollte man diesbezüglich seine Sorgen aber in Grenzen halten: Türkeistämmige scheinen seit Jahren stärker aus Deutschland aus- als einzuwandern; bei Neuzuwanderern sind Muslime deutlich in der Minderheit; und die Geburtenrate von in Deutschland lebenden Muslimen geht zurück.

[11] Gerade auch in Deutschland gibt es sehr viele Muslime, die sich ganz als Deutsche verstehen und als solche bloß nicht agnostisch-atheistisch oder christlich, sondern eben muslimisch sind. Viele von diesen wirken auf andere Muslime in ihrem Umfeld nachhaltig darauf ein, dass auch diese in genau solcher Weise zu ganz „normalen Deutschen“ werden. Einesteils kommt das nicht groß an die Öffentlichkeit, weil Selbstverständlichkeiten im nicht weiter thematisierten Alltag viel besser wachsen als unter den Umständen andauernder Demonstration und Reflexion. Andernteils ist es für inner-islamische Reformanstrengungen nur nachteilig, wenn es zum Kurzschluss zwischen ihnen sowie von außen herangetragener Islamkritik kommt. Deshalb ist es wichtig, überhaupt ein Klima zu sichern, in dem solche Prozesse des Zusammenwachsens von „Deutschsein“ und „Muslimsein“ möglichst störungsfrei ablaufen können.

[12] Zu den grundlegenden Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sind – so die klassische Formulierung des Bundesverfassungsgerichts – mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung; das Demokratieprinzip; die (soziale, dezisive, vertikale, horizontale und temporale) Gewaltenteilung; die Verantwortlichkeit der Regierung; die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung; die Unabhängigkeit der Gerichte; das Mehrparteienprinzip; die Chancengleichheit für alle politischen Parteien; das Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung von Opposition.

 

 

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