Die Evolution geht weiter als man denkt

Die Evolution geht weiter als man denkt

Werner J. Patzelt

 

Die Evolution geht weiter – und weiter, als man denkt!

veröffentlicht in: EvoEvo. 200 Jahre Darwin und 150 Jahre Evolutionstheorie.
Zeitgenössische Beiträge aus Kunst und Wissenschaft, Wien (k/haus) 2009, S. 17-26

 

 I. Evolution – eine Sache allein der Biologie?

Wahrscheinlich denkt jeder an Biologie, wenn von Evolution die Rede ist. Manche haben dann die Entwicklung der Wirbeltiere vor Augen, viele den ‚Übergang vom Affen zum Menschen‘ – und gar nicht wenige die Doppelspirale der DNS. Wohl alle wissen: Das gehört zusammen und ganz gewiss ins Blickfeld derer, die sich für das Wie und Woher des Lebens interessieren. Nicht wenigen kommen auch solche Weiterungen der biologischen Evolutionstheorie in den Sinn, die unser Selbstverständnis, ja tausendjährige Grundlagen unserer Kultur betreffen: Wo bleibt unser menschlicher Rang als ‚Krone der Schöpfung‘, wenn wir uns auf die Lehren der Evolutionstheorie einlassen, und wo bleibt Gott als ‚Schöpfer‘ – zumal als einer, der jeden Menschen ‚bei seinem Namen gerufen‘, d.h. als konkrete Person gewünscht hat (vgl. Jesaia 43,1)? Und wenn man außerdem an jene biotechnologischen Möglichkeiten denkt, die sich durch immer besseres Verständnis unseres genetischen Codes und seiner absichtlichen Nutzung auftun, dann merkt man unweigerlich: Evolutionsforschung verändert mehr als unser Wissen um die Natur, sondern auch einen Großteil unserer Kultur. Hier entbrennt auch weit mehr als nur wissenschaftlicher Streit: Immerhin geht es um unser Bild vom Platz des Menschen in der Welt und deren Geschichte, und obendrein um alles, was wir aus diesem Bild an Politik folgen lassen.

 

 

 

II. Evolution und ihr ‚Algorithmus‘

Trotzdem verkennt auch noch diese Einsicht, wie weit die Evolution wirklich geht und ihre Theorie tatsächlich reicht. Anders als das viele glauben, sich damit auch beruhigen, läuft Evolution nämlich nicht allein im Gegenstandsbereich der Biologie ab, ist Evolutionsforschung also keine Angelegenheit bloß von Biologen. Denn nicht nur die kulturellen und philosophischen Folgen der Tatsache biologischer Evolution sind Thema der Sozial- und Geisteswissenschaften; vielmehr erschließen sich auch deren ureigenste Gegenstände aufs Beste erst im Licht der Evolution. Um sie in diesem Licht zu besehen, ist es freilich mit der bereitwillig gereichten Lampe der Biologie nicht getan. Wichtiger als seine Quelle ist nämlich jenes Licht selbst, der ‚Algorithmus der Evolution‘.[1] Tatsächlich wirkt er auf allen Schichten der Wirklichkeit, und gerade anhand seiner ist zu verstehen, wie unsere Welt von ihren biologischen Schichten über ihre kulturellen bis hin zu ihren institutionellen Schichten entstand, wie sich wandelt und wie sie dabei – über diese so unterschiedlichen Schichten hinweg – im Innersten zusammengehalten wird. Eine das alles umfassende Evolutionstheorie wäre somit eine Theorie nicht nur der Naturgeschichte, sondern auch der Kultur- und Institutionengeschichte und ein wahrlich disziplinübergreifendes Paradigma.

 

III. Zur Entstehung der biologischen Evolutionstheorie

Nicht nur die Theorie der Kultur- und Institutionengeschichte, sondern auch diese selbst wird von Menschen gemacht. Deshalb erschließt sich viel am Wie und Warum von Kultur- und Institutionengeschichte schon gleichsam intuitiv, nämlich von jener zeitgenössischen kulturellen und gesellschaftlichen Selbstdeutung her, aus der heraus eine Gesellschaft die Geschichte ihrer Kultur und Institutionen weitertreibt. Die Grundvermutung geht dahin, dass es früher wohl nicht anders gewesen sein wird als heute. Dann aber ändert sich das Bild der Geschichte gemeinsam mit dem Selbstverständnis der Gegenwart. Historiker haben diesen Gedanken bis zur Formulierung getrieben, jede Generation müsse ihre Geschichte, wolle sie Verständnis, dann auch selbst neu schreiben, d.h. von ihrem zeitgenössischen Erfahrungs- und Deutungshorizont her.

Nun wird aber die Naturgeschichte gerade nicht von Menschen gemacht, oder wurde das bis vor kurzem nicht. Vielmehr sind wir selbst ein Ergebnis der Naturgeschichte. Unser intuitives Verständnis von Geschichte wird für ihre Erhellung deshalb nicht ausreichen. Dennoch wurde lange Zeit auch das Wie und Warum der Naturgeschichte von den jeweiligen kulturellen und gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten her unternommen, zumal wenn andere, darüber klar hinausführende Denk- und Deutungsmittel nicht verfügbar waren. In religiös geprägten Gesellschaften kam es deshalb zu Schöpfungsmythen – und allenthalben auch zu fiktiven Genealogien der jeweils bekannten Kulturen. Weil wiederum die Welt noch in den ältesten religiösen oder literarischen Überlieferungen im Grunde so aussah wie in der Gegenwart, nur bisweilen besser, mitunter schlechter, veranschlagte man leicht den Abstand seiner eigenen Zeit selbst zum Uranfang nach allenfalls Tausenden von Jahren oder Generationen. Über diese Zeitspanne hinweg versprachen dann auch jene Deutungs- und Erklärungsmuster zu greifen, die ihren Sitz im zeitgenössischen Leben hatten.

Doch der große Erkenntnisdurchbruch der Geologie – etwa seit Charles Lyell (1797-1875) – öffnete den Blick für jene wirklich großen Zeitabstände, mit denen in der Naturgeschichte zu rechnen ist. Erst das aber machte es möglich, die gegenwärtige Natur als ein Strukturgefüge zu denken, das in sich selbst organisierenden Prozessen entstanden ist, die für die Herbeiführung eines Formenreichtums wie des heutigen gewiss sehr viel Zeit benötigten. Seither waren Erklärungen der Naturgeschichte denkbar, die mit langen Entwicklungsprozessen rechneten. Eben das tut die Evolutionstheorie. Ihre ersten, nachhaltig tragfähigen Einsichten gelangen George Buffon (1707-1788) und Jean Baptiste de Lamarck (1744-1829); das Grundprinzip verstanden als erste Charles Darwin (1809-1882) und Alfred Russel Wallace (1823-1913); im Anschluss an Gregor Mendel (1822-1884) und Thomas H. Morgan (1866-1945) schufen dann Theodosius Dobzhansky (1900-1975) und Ernst Mayr (1904-2005) die ‚Synthetischen Theorie der Evolution‘, in der – Genetik und Chemie einbeziehend – das konkrete Wie von biologischen Replikations- und Rekombinationsprozessen erklärt wurde; und schließlich formulierte Rupert Riedl (1925-2005) jene ‚Systemtheorie der Evolution‘, die auch noch die rekursiven Kausalbeziehungen zwischen Umwelt und evolvierender Struktur erfasst. Auf diese Weise entstand ein sehr erklärungsstarkes und auch empirisch bewährtes Deutungs- und Erklärungsmuster der gesamten Naturgeschichte, das nicht länger aus der jeweils zeitgenössischen Selbstdeutung abgeleitet war, sondern mit ihr konkurrierte.

 

IV. Zur Entstehung der soziokulturellen Evolutionstheorie

Stolz auf den gewaltigen intellektuellen Durchbruch, den sie erzielt hatten, machten sich Evolutionsforscher und Biologen nämlich daran, mehr und mehr kulturelle Selbstverständlichkeiten aus den Angeln zu heben. Im Grunde machten sie nur ernst mit dem alten Anliegen der Philosophen, die ‚Natur des Menschen‘ zu ergründen. Zumal von der biologischen Verhaltensforschung (u.a. Oskar Heinroth, 1871-1945, Niko Tinbergen, 1907-1988, Irenäus Eibl-Eibesfeldt, geb. 1928) wurde gezeigt, dass nicht nur Menschen selbst, sondern auch deren Verhalten sowie die aus ihm entstehenden Sozialstrukturen als Ergebnisse der Naturgeschichte zu verstehen sind und somit in den Zuständigkeitsbereich von Evolutionsbiologie oder Evolutionspsychologie gehören. Solche Einsichten verdichtete die ‚neue Synthese‘ der Soziobiologie, durchgesetzt in den 1970er Jahren durch das Werk von Edward O. Wilson (geb. 1929). Zuvor schon hatte Konrad Lorenz (1903-1989) gezeigt, dass jegliches Erkenntnisvermögen ein biologisches Evolutionsprodukt ist, angelegt auf das Zurechtkommen in artspezifischer Umgebung. Damit aber wurde die Entstehung unseres Großhirns erklärungsbedürftig, desgleichen – in einer berühmten Formulierung von Konrad Lorenz – das menschliche Privileg, auch reinen Unsinn für wahr halten zu können.[2] Die Theorie der Memetik (siehe Abschnitt VII) machte die einschlägigen Zusammenhänge verständlich. Zudem erschloss die Entdeckung des Unterschieds zwischen evolutionär stabilen und evolutionär instabilen Strategien (v.a. John Maynard Smith, 1920-2004) einen Weg, auch Normen als Evolutionsergebnisse zu begreifen. Das rückte dann auch noch die Ethik in den Zugriffsbereich der Evolutionsforschung. Obendrein wurde – etwa in der Evolutorischen Ökonomik – immer klarer, dass sich auch Sozialstrukturen, ebenso wie biologische Strukturen, in wechselseitiger Rückkopplung von Erkenntnis- und Ressourcengewinn entwickeln.

Mit alledem war die Evolutionsforschung innerhalb eines guten Jahrhunderts wirklich weit gekommen. Sie hat den ‚Algorithmus der Evolution‘ (siehe Abschnitt X) aufgedeckt und sogar bewusster sozial- wie biotechnologischer Nutzung zugeführt. Vielen war sie damit denn auch zu weit gegangen. Und weil sie tatsächlich vom biologischen Fundament unserer Kulturen und Institutionen her den Gegenstandsbereich der Kultur- und Sozialwissenschaften zu erhellen versucht, wirkte derlei auf viele wie biologischer Reduktionismus oder blindverliebtes Suchen nach evolutionsbiologischen Analogien selbst dort, wo Naturwissenschaftler im Grunde nur dilettieren konnten. Nicht wenige solcher Vorwürfe saßen denn auch. Das vor Augen, erscheint der Geltungsanspruch der Evolutionstheorie recht reduziert: Sie sei vielleicht ‚nur eine Theorie‘, also empirisch falsch; und jedenfalls solle sie sich auf die Naturgeschichte beschränken, da sie als biologische Theorie doch wirklich nichts über Kultur und sinngetragene Institutionen aussagen könne.

 

 

V. Zwei Theorien, zwei Welten?

Da findet sich nun aber das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Zwar lässt sich weder die Entwicklung der europäischen Musik vom gregorianischen Choral über die Funktionsharmonik hin zur Zwölftontechnik biologisch erklären, und auch nicht die Entstehung des modernen Parlamentarismus aus den abendländischen Ständeversammlungen oder den antiken Bundesräten. Trotzdem merkt man, wie redlichem Erkenntnisinteresse mit brüsker Zurückweisung des Evolutionsdenkens geschadet wird. Auch eine Sprache ist ja – wie das Skelett eines Insekts oder Wirbeltiers – eine ‚geprägte Form, die lebend sich entwickelt‘ (Goethe); und dass ‚survival of the fittest‘ ein erkenntnisträchtiger Begriff für das Verständnis von Parteien- oder Firmenkonkurrenz ist, leuchtet jedem ebenso ein. Lässt sich denn wirklich keine Brücke schlagen zwischen der Naturgeschichte auf der einen Seite und der Kultur- bzw. Institutionengeschichte auf der anderen Seite? Kann man da wirklich nicht mehr entdecken, als dass Kultur und Institutionen trivialerweise auch biologische Grundlagen in der Natur jener Menschen besitzen, solche Dinge in die Welt gesetzt haben, tragen und verändern?

 

 

VI. Auf dem Weg zu einer Allgemeinen Evolutionstheorie

Die Skizze eines Bauplans zum Brückenschlag lieferte Richard Dawkins (geb. 1941). Am Ende seines 1976 erstmals erschienenen Buches über „Das egoistische Gen“ ging er von der Beobachtung aus, dass seit der Entwicklung eines komplexen Zentralnervensystems bei manche Arten von Lebewesen besondere kognitive Fähigkeiten entstanden sind, dank welcher sie auch andere Strukturen als nur biologische weitergegeben können. Wir kennen derlei vom Gesang der Vögel über die Handhabung von Werkzeugen bei Affen bis zur Einführung in die perspektivische Malerei, in den barocken Tonsatz oder in die platonische Ideenlehre bei Menschen. Die Bauanleitung für eine Kreuzrippengewölbe, für eine Fuge oder für ein argumentum e contrario ist nun aber gewiss nicht in einem Abschnitt unserer DNS zu finden, also keinesfalls in einem Gen. Sehr wohl aber gibt es solche Bauanleitungen bzw. Vorlagen, bei deren Anwendung bzw. Nachahmung die gewünschte Struktur absichtsvoll entstehen kann: Wir lesen Kochrezepte (oder die Bestimmungen einer Geschäftsordnung) und folgen ihnen dann; wir fassen Gedanken oder Geschichten auf und erzählen sie weiter, woraufhin sie andere vielleicht als Anlass eigenen Handelns nehmen; oder wir machen einfach nach, was uns der Ski- oder Tanzlehrer vormacht und bringen es dann mitunter recht weit beim Tiefschneefahren oder Tangotanzen.

Solche ‚kulturellen Muster‘, die (wie Regeln) entweder verstanden und angewendet werden können, oder die sich (wie ‚Vorgemachtes‘) übernehmen und nachahmen lassen, nannte Dawkins ‚Meme‘. Er prägte diesen Begriff, weil er einesteils einen Gleichklang zu den als ‚Gene‘ bekannten Bauanleitungen auf chemischer Grundlage suchte, andernteils aber ausdrücken wollte, dass es sich hier um ‚memory‘, also um gespeicherte Information handele. Dawkins war auch völlig klar, dass zwar die Verfertigung von Memen, desgleichen der Umgang mit ihnen, Zentralnervensysteme sowie Gene voraussetze, die deren – immer komplexeren – Aufbau steuern. Später wurde plausibel, dass Reproduktionsvorteile, die durch die gekonnte Handhabung von Memen erschlossen wurden, auch die Entwicklung eines derlei immer besser leistenden Großhirns anschoben. Doch der Informationsgehalt und die Funktion von Memen lassen sich keineswegs auf den Informationsgehalt und auf die Funktion der sie überhaupt erst verwendbar machenden Gene reduzieren. Vielmehr kam mit den durch Entwicklung des Zentralnervensystems eröffneten Möglichkeiten memetischer Codierung und Replikation von Strukturen eine ganz neue Schicht möglicher Strukturbildung in die Welt, nämlich die Schicht der Kultur oberhalb jener der Natur, und ein neuer Kanal der Replikation von Strukturen, nämlich der memetische neben dem genetischen. Zugleich kamen damit auch neue ‚Vehikel‘ für die Aufbewahrung und Verbreitung von Bauplänen für kulturelle und soziale Strukturen in die Welt: An die Seite von Molekülstrukturen, die auf der Ebene der DNS sowie bei deren Umsetzung in Körperstrukturen ihre Rolle spielen, traten nun Zeichenmittel und Symbole, Sprache und Schrift, Mythen und Institutionen als (Über-) Träger, schützende Hüllen und Werbesignale von Memen.

Auch an ihnen setzt der Algorithmus der Evolution an: Verschwinden nämlich Sprachen, dann entgleitet oft auch die in ihnen geborgene Weltsicht; und brechen Institutionen zusammen, dann büßen nicht selten auch jene kulturellen Muster ihre Bestands- und Weitergabechancen ein, um die herum die Institution einst gegründet wurde – wie einst die christlichen Kirchen um Taufe und Eucharistie. In beiden Fällen verändert sich jene kulturelle und institutionelle Wirklichkeit, die einst anhand der nunmehr ihre Tragekraft einbüßenden Vehikel von Memen aufgebaut wurde. Umgekehrt führt das kontingente Zusammenwirken von Evolutionsprozessen bei den Genen, bei den Memen sowie bei den kulturellen und sozialen Vehikeln beider immer wieder zur Entstehung von Neuem. Gerade so geht dann auch die kulturelle und die soziale Evolution immer weiter – und sei es in eine Sackgasse.

Edward O. Wilson hat mit seinem Begriff des ‚Kulturgens‘ jenen zentralen Unterschied zwischen biologischer und kulturell-sozialer Evolution leider verwischt. Stattdessen hat er den Eindruck erweckt, es würde der Begriff des Gens nur metaphorisch, bloß im Weg einer rein heuristisch gemeinten Analogiebildung, nun auch noch auf die Ebene der Kultur übertragen. Das ließ sich dann leicht als biologischer Reduktionismus (miss-)verstehen. Doch bei Dawkins und – im Anschluss an ihn – bei Philosophen wie Daniel Dennett (geb. 1942) ist klar Anderes gemeint und gesagt: Mit den Memen entstand eine weitere Ebene realer Baupläne und Strukturen im ‚Schichtenbau der Wirklichkeit‘; diese Ebene des Kulturellen schichtet sich auf biologischen Strukturen zwar auf, ist auf diese aber nicht reduzierbar; und Meme können sehr wohl auch solche Handlungen und sozialen Strukturbildungen auslösen, die ihrerseits wichtige Rahmenbedingungen für die biologische Strukturbildung verändern. Eben das ist mit der Rede von der ‚genetisch-kulturellen Koevolution‘ gemeint, desgleichen mit der Kurzformel ‚EvoEvo‘ für den Nexus zwischen ‚Bio-Evo‘ und ‚Kult-Evo‘.

 

 

VII. ‚Oberhalb der Gene finden sich die Meme!‘

Um diese eigentlich recht einfachen Gedanken herum entwickelte sich die sogenannte ‚Memetik‘. Sie versucht zunächst einmal, die Prozesse memetischer Replikation und Evolution nachzuzeichnen sowie zu verstehen. Sodann geht es ihr um die Aufklärung der Interaktionseffekte und rekursiven Kausalstrukturen zwischen der Evolution einesteils von Memen, andernteils ihrer vielfältigen Vehikel, und zwar bis hinab zur Ebene genetischer Evolution. Dabei folgt sie der – bislang nicht widerlegten –Vermutung, dass der zunächst im Bereich der biologischen Evolution entdeckte Evolutionsalgorithmus als Grundform allen Werdens und Wandels ebenfalls auf den höheren Schichten der Wirklichkeit wirkt, wenn auch im Bereich des Kulturellen und Institutionellen unter viel komplexeren Rahmenbedingungen und obendrein überlagert von wichtigen intervenierenden Variablen wie ‚freiem Willen‘ und ‚kultivierter Kreativität‘.

Als empirisches Material, das es vergleichend zu untersuchen gilt, führt die Memetik im Rahmen dieses überwölbenden Paradigmas Phänomenbestände ganz unterschiedlicher Forschungsbereiche zusammen: von der (historisch) vergleichenden Sprachforschung bis zur Geschichte politischer Konzepte und Ideen; von der literarischen Gattungsgeschichte und vergleichenden literaturwissenschaftlichen Forschung zur Verarbeitung derselben Stoffe in unterschiedlichen Gattungen oder Zeiten über die kunstgeschichtliche Ikonographie sowie Ikonologie bis hin zur musikwissenschaftlichen Erforschung von Tonsystemen und Satzweisen; und von der Geschichte der Bekleidungsmoden über jene der Verbreitung von Witzen und Gerüchten bis hin zur Untersuchung der Ausbreitung technischer Errungenschaften. Auf diese Weise werden bislang durchaus verborgene Strukturmerkmale an sich bekannter Entwicklungen ebenso fassbar wie bislang als ‚seltsame Ähnlichkeit‘ irritierende Ablaufmuster gut erklärbar.

Ein solcher transdisziplinärer Zugriff irritiert die etablierten Disziplinen. Deren Abwehrreaktionen reichen von Zweifeln an der grundsätzlichen Durchführbarkeit derartiger Transdisziplinarität über die Bestreitung der Möglichkeit einer auch geistes- oder sozialwissenschaftlichen Evolutionstheorie bis hin zur – angesichts der obigen Beispiele doch wenig plausiblen – Behauptung, Meme existierten in Wirklichkeit gar nicht; also sei es auch unmöglich, sie seriös zu erforschen. In derartige Debatten spiegeln sich innerwissenschaftlich die gesamtkulturell ausgetragenen Kontroversen um die Evolutionstheorie: Wenn Geistes- und Sozialwissenschaftler schon nicht die Richtigkeit und das Erklärungspotential biologischen Evolutionstheorie bestreiten wollen, dann soll zumindest das eigene Fach vom Evolutionsparadigma unbehelligt bleiben …

 

 

VIII. Evolution, soweit das Auge reicht …

Für Sozialwissenschaftler wäre ein Obsiegen des evolutionstheoretischen Paradigmas umso wünschenswerter, als die Evolutionstheorie lange schon in sie zurückzukehren begonnen hat. Sie tat das unter Bezeichnungen wie ‚Populationsökologie‘, ‚Evolutorische Ökonomik‘, ‚Historischer Institutionalismus‘ und ‚Evolutorischer Institutionalismus‘. Tatsächlich passt der Begriff der Rückkehr: Jener Denkhorizont, der Darwin und Wallace zu ihren bahnbrechenden Einsichten inspirierte, kommt aus dem Fortschrittsdenken der Aufklärung beim Marquis de Condorcet (1743-1794) und in der frühen Soziologie bei Auguste Comte (1798-1857); er entstammt ebenso der frühen Theorie gesellschaftlicher Selbstorganisation bei Adam Smith (1723-1790); und ihn prägten ganz wesentlich die Einblicke von Robert Malthus (1766-1834) in jene Grenzen, welche die Ressourcenausstattung der jeweiligen Umwelt aller Entwicklung setzt. Von allen diesen Gedanken befeuert formulierte denn auch Herbert Spencer (1820-1903) viel radikaler in rein sozialwissenschaftlicher und sozialtechnologischer Weise, was evolutionsbiologisch stets viel moderater daherkam.

Als Evolutionstheorie kehrt einesteils die biologische Evolutionstheorie in die Sozialwissenschaften zurück, vor allem in Gestalt von Evolutionspsychologie, Soziobiologie und ‚biopolitics‘. Sie ist willkommen als Verbesserung jenes Fundaments, auf das sich die Sozialwissenschaften seit je stellten: Stets gründen sie in einem Menschenbild, von dem dann abgeleitet wird, mit welchen Eigentümlichkeiten sozialer Strukturen unter welcher Bedingungen zu rechnen sei. Die Evolutionsbiologie, empirisch gesättigt und theoretisch durchdrungen, vermag hierzu einfach Verlässlicheres zu sagen als die – lange Zeit natürlich alternativlose – philosophische Anthropologie.

Andernteils kehrt die Evolutionstheorie in die Sozialwissenschaften zurück in Gestalt der Allgemeinen Evolutionstheorie.[3] Deren zentralen Begriffe und tragende Theoreme wurden zwar am – vergleichsweise, doch nicht wirklich einfachen – Fall der Evolution der Arten einst geschärft bzw. erarbeitet. Doch sie ließen sich durch Abstraktion von ihrem biologischen Referenten zu einem allgemeinen Theoriemodell ausgestalten und anschließend durch Anwendung auf geistes- und sozialwissenschaftliche Gegenstände rekonkretisieren – etwa indem statt Genen Meme untersucht werden, statt Genotypen Memotypen, statt Phänotypen Phämotypen und statt Prozessen der Gendrift solche der Memdrift. Seit im Neuen Institutionalismus auch noch geklärt wurde, wie um Meme – oder um Gruppen koadaptierter Meme (‚Memplexe‘) – herum komplexe Sozialstrukturen entstehen und reproduziert werden, ließ sich die Memetik auch noch höchst fruchtbar mit Theorien der Konstruktion sozialer Wirklichkeit durch sinngeleitetes soziales Handeln verbinden. Damit aber wird gerade nicht die biologische, sondern eine memetisch-sozialkonstruktivistische Evolutionstheorie zur Grundlagentheorie nicht nur der Kulturwissenschaften, sondern auch einer Geschichtswissenschaft, die sich in erste Linie für Mentalitäts- und Strukturgeschichte interesssiert.

 

 

 

IX. Die ‚Allgemeine Evolutionstheorie‘

Und folgendes sind nun die zentralen Aussagen und Theoreme der ‚Allgemeinen Evolutionstheorie‘:

  • Strukturen gleich welcher Art können nachgebaut oder nachgeahmt werden (‚Replikation‘). Das geschieht auf auch anhand von – gleichwie codierten – Bauplänen.
  • Beim Nachbauen oder Nachahmen von Strukturen kommt es immer wieder zu Veränderungen zufälliger oder absichtlicher Art beim (‚Permutation‘, Rekombination‘‚ ‚Variation‘).
  • Nicht alle diese Veränderungen passen zur schon entstandenen oder gerade neu entstehenden Grundform der nachgebauten oder nachgeahmten Struktur. Entweder werden die angefangenen Veränderungen dann rückgängig gemacht oder wird überhaupt der weitere Aufbau der neu entstehenden Gesamtstruktur abgebrochen. In beiden Fällen kommt es nicht zum Weiterbestand, und somit auch nicht zur Weitergabe, jener einst aufgetretenen Veränderungen (‚innere Selektion‘).
  • Gelingt hingegen der Aufbau veränderter Strukturen, dann werden wohl nicht alle verändert aufgebauten Strukturen auch gut in jene Umwelt passen, aus welcher die (veränderte) Struktur (oder jener, der sie aufbaut) Ressourcen erlösen muß, wenn diese Struktur weiterhin bestehen und fortan als Vorlage ihr selbst nachgebauter Strukturen dienen soll (‚äußere Selektion‘).
  • Kriterien solcher Passung (‚Fitness‘) sind im wesentlichen, ob von der veränderten Struktur nun (a) unverändert verfügbare Ressourcen leichter erworben bzw. (b) besser genutzt werden können, oder ob (c) es – dank der eingetretenen Veränderungen – der Struktur möglich ist, für ihre Umwelt mehr Dienstleistungen (‚Funktionen‘) zu erfüllen als bislang, oder (d) die gleichen Funktionen fortan besser zu erfüllen und im Gegenzug sich aus der Umwelt mehr Ressourcen als bislang zu erschließen.
  • Da sich auch die Umwelt einer Struktur immer wieder verändert, kann sich einst bestehende Passung auch beim Ausbleiben (!) von Veränderungen verschlechtern bzw. allein durch Eintreten von Veränderungen aufrechterhalten lassen (‚Umweltdruck‘).
  • Jene (veränderte) Struktur, die aus gleich welchen Gründen größere Chancen auf Erlösen nötiger Ressourcen besitzt, hat auch größere Chancen, dass genau ihre (veränderten) Merkmale weitergegeben werden. Hingegen werden Merkmale von Strukturen – oder ganze Strukturen – dann immer seltener werden oder gar verschwinden, wenn mit ihnen verringerte Chancen auf Erlösung nötiger Ressourcen einhergehen (‚differentielle Reproduktion‘).
  • In der Regel werden zufällige oder absichtliche Veränderungen an den strukturell tragenden oder funktionell ausschlaggebenden Elementen einer Struktur weniger leicht, und somit seltener, den Filter der inneren und äußeren Selektionsfaktoren passieren, als das bei zufälligen oder absichtlichen Veränderungen an strukturell weniger wichtigen oder funktionell nachrangigen Elementen einer Struktur gelingen mag. Eben das bringt Ordnung in das Spiel von Zufall oder Absicht (‚differentielle Wahrscheinlichkeit‘) und führt dazu, dass Grundbaupläne verlässlich reproduzierter Strukturen über lange Zeit beibehalten werden, hingegen die Konkretisierungen dieser Grundbaupläne ziemlich veränderlich sind (‚struktureller Konservatismus‘).
  • Erschließen zufällige oder absichtliche Veränderungen an den strukturell tragenden oder funktionell ausschlaggebenden Elementen einer Struktur hingegen Fitnessvorteile, dann kann es zur Beibehaltung auch veränderter Grundbaupläne kommen. Diese setzen dann ihrerseits veränderte innere Selektionsbedingungen für weitere Veränderungsmöglichkeiten (‚Pfadabhängigkeit‘).
  • Erschließen zufällige oder absichtliche Veränderungen an strukturell weniger wichtigen oder funktionell nachrangigen Elementen einer Struktur ihrerseits Fitnessvorteile, so können sie mit der bisherigen Grundstruktur zu einer nunmehr weiterentwickelten Grundstruktur zusammenwachsen und ihrerseits zur Voraussetzung (a) weiterer Strukturbildung bzw. (b) solcher Funktionserfüllung angelagerter Strukturelemente werden, die vom eigenen Funktionieren abhängig ist (‚strukturelle Bebürdung‘ bzw. ‚funktionelle Bebürdung‘; ‚Überschichtung‘).
  • Auf beiderlei Weise entstehen immer weitere innere Selektionsbedingungen, entfaltet sich Pfadabhängigkeit und erhalten an sich ergebnisoffene Entwicklungsprozesse ‚Richtung‘ (‚Teleonomie‘). Zu solcher Gerichtetheit kommt es auch ganz ohne ein ‚Endziel‘, auf das ein solcher Prozess zuliefe. Es geht hier also nicht um ‚Teleologie‘, sondern – in Goethes Vers aus den ‚Urworten Orphisch‘ – um eine „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“.
  • Nachahmung und Nachbau komplexerer Strukturen werden in der Regel von weiteren, in der gleichen Weise entstandenen und zufällig oder absichtlich in eine solche Rolle geratenen, Strukturen gesteuert (‚Steuerungsstrukturen‘, ‚Epi-Systeme‘). Diese unterliegen demselben Evolutionsalgorithmus wie die von ihnen gesteuerten Systeme, haben aber, wenn sie sich ihrerseits verändern, natürlich besonders große Hebelwirkungen auf die ihnen nachgeordneten Systeme. Dadurch beschleunigen sie entlang einmal angelegter Pfade den Evolutionsprozess erheblich.
  • Einmal mit ihrer Umwelt durch den Kreislauf aus Funktionserfüllung und Ressourcenausbeutung verkoppelte Strukturen können ihrerseits ‚inverse Adaptionsprozesse‘ auslösen: Nicht eine Struktur wird über differentielle Reproduktion den auf sie wirkenden äußeren Selektionsfaktoren angepasst, sondern von ihren inneren Selektionsfaktoren auf einem bestimmten Entwicklungspfad gehaltene Strukturen passen ihre Umwelt sich selber an. Das kann zur Übernutzung bislang verfügbarer Ressourcen und somit in eine ‚evolutionäre Sackgasse‘ führen und einen Zusammenbruch der die verfügbaren Ressourcen übernutzenden Population von Strukturen nach sich ziehen.

Nicht zwingt dazu, derartige Zusammenhänge nur im Bereich der Evolution der Arten aufzusuchen. Das alles ist vielmehr auch in der Evolution von Denkgebäuden und Sprachen, von Kunstformen und Institutionen aufzufinden. Evolution erweist sich somit als allgemeines Bewegungsprinzip auf allen Schichten der Wirklichkeit, die Allgemeine Evolutionstheorie als überwölbendes, die Kulturwissenschaften nicht minder als die Biologie einschließendes Paradigma, ja als Theorie gleichermaßen der Natur-, Geistes- und Kulturgeschichte. Das ist gewiss starker Tobak, und zwar für Biologen nicht minder als für Sozial- und Geisteswissenschaftler. Doch es lohnt, ihn zu genießen!

 

 

Anmerkungen:

[1] Siehe Daniel C. Dennett, Dawin’s Dangerous Idea. Evolution and the Meanings of Life, New York u.a. 1995.

[2] An dieser Stelle lässt sich übrigens die Evolutionstheorie gut mit den Offenbarungsreligionen verbinden. Wenn nämlich – wie in der biblischen Geschichte vom ‚Sündenfall’ erzählt – das Menschwerden gerade mit der Fähigkeit zum bewussten Tun des Falschen einhergeht, dann kann es sinnvoll (gewesen) sein, dass ein um seine Schöpfung besorgter Gott den Menschen über Propheten o.ä. die ‚richtigen‘ Regeln gelingenden Lebens und nachhaltiger Entwicklung vor Augen führt. Überlegungen solcher Art theologisch erprobend, könnten nicht wenige Religionsgemeinschaften die Evolutionstheorie sogar als weitere Erhellung der von ihnen gelehrten Wahrheiten nutzen. Sie müssten sich insbesondere nicht länger auf die ganz unfruchtbare Kontroverse zwischen Schöpfungsglauben und Kreationismus einlassen – zumal gerade ein allmächtiger Gott doch gewiss nicht daran gehindert war, die Welt über den Evolutionsalgorithmus zu schaffen, und auch nicht daran zu hindern ist, über Kontingentes die angestoßenen Evolutionsprozesse weiterhin zu beeinflussen.

[3] Zu ihr und überhaupt zum größeren Zusammenhang dieses Beitrags siehe Werner J. Patzelt, Hrsg., Evolutorischer Institutionalismus, Würzburg 2007.

 

 

Einige seither erschienene, weiterführende Texte:

  • Werner J. Patzelt, Wissenschaft, die unsere Kultur verändert. Tiefenschichten des Streits um die Evolutionstheorie, in: Graf, Dittmar (Hrsg.): Evolutionstheorie – Akzeptanz und Vermittlung im europäischen Vergleich, Heidelberg u.a. (Springer) 2011, S. 65-76
  • Werner J. Patzelt, Die Allgemeine Evolutionstheorie und ihr Nutzen für die Sozialwissenschaften, in: Markus Knoflacher (Hrsg.), Faktum Evolution. Gesellschaftliche Bedeutung und Wahrnehmung, Frankfurt u.a. (Peter Lang) 2011, S. 217-246
  • Werner J. Patzelt, Quellen und Entstehung des „Evolutorischen Institutionalismus“, in: Werner J. Patzelt, Hrsg., Parlamente und ihre Evolution. Forschungskontext und Fallstudien. Baden-Baden 2012 (Nomos), S. 9-45

 

Bildquelle: https://brightsblog.wordpress.com/2015/03/13/13-marz-1925-verbot-der-evolutionslehre-in-tennessee-schopfungsglaube-per-gesetz/

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